Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Der Heiligenschein des Jammertals

Religionskritik und „implizite Religion“
bei Hegel, Feuerbach und Marx

Wenn ich ehrlich bin, habe ich Hegel und viele seiner Nachfolger nie wirklich verstanden. Das heißt nicht, dass ich es nicht energisch genug versucht hätte. Im Gegenteil! Ich habe mich vor Jahren durch meterhohe Berge dialektischer Abhandlungen gekämpft, was – wie ich nicht verschweigen will - nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass diese Bücher in den Achtzigern und frühen Neunzigern zu derartigen Spottpreisen verramscht wurden, dass auch ich sie mir zentnerweise leisten konnte.

Das Ergebnis der Lektüre dieser – auf den ersten Blick – „preiswerten“ Werke war in der Regel recht unbefriedigend und auf eine seltsame Weise ermüdend. Irgendwie ahnte ich ja, was mir die Autoren sagen wollten, aber wirklich logisch erschienen mir ihre Argumente nicht. Zunächst suchte ich die Schuld natürlich bei mir. Vielleicht hatte ich ja einfach nicht richtig begriffen, worin die „besondere Logik“ der Hegelschen Dialektik bestand. Aber je genauer ich hinschaute, desto weniger wollte mir das Ganze einleuchten. Ein etwas zermürbender Zustand.

Glücklicherweise erwarb ich wenig später in einem Antiquariat eine wirklich preiswerte Schopenhauer-Gesamtausgabe. Der alte Griesgram sprach mir damals regelrecht aus der Seele, als er vom „Hegel’schem Wischiwaschi“ schrieb, „woraus jeder machen kann, was er will“(1), bei der „Hegelei“ handelte es sich Schopenhauer zufolge gar nicht um Philosophie, sondern um einen „hochtrabenden, hohlen, konfusen Wortkram, in eingeschachtelten Perioden von solcher Länge, daß der Leser, wenn er nicht schon in der Mitte derselben eingeschlafen ist, sich am Ende mehr im Zustande der Betäubung, als in dem der erhaltenen Belehrung befindet…“(2)

Schopenhauer folgend lag es also an Hegel und nicht an mir, dass seine Schriften für mich so wenig Sinn ergaben. Das beruhigte mich selbstverständlich ein wenig. Außerdem stellte ich mit einiger Erleichterung fest, dass auch Karl Popper kein gutes Haar an dem berühmten Philosophen ließ.(3) In „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ entlarvte er Hegel mit – wie ich meine - durchaus überzeugenden Argumenten als reichlich verworrenen „Propheten der Horde“ und der „geschlossenen Gesellschaft“. Poppers fulminante Abrechnung mit den orakelnden Philosophen war das erste Popper-Buch, das mich wirklich begeisterte – nicht nur weil es so klar und verständlich geschrieben war, sondern auch, weil es einige herrliche Perlen aus dem reichen Schatz Schopenhauerscher Hegel-Bosheiten präsentierte, darunter auch das folgende Zitat, das mich mehr als alles andere davon überzeugte, für einige Zeit die Hegel-Lektüre einzustellen: „Wenn man einen Jüngling absichtlich verdummen und zu allem Denken völlig unfähig machen will, so gibt es kein probateres Mittel, als das fleißige Studium Hegelscher Originalwerke: Denn diese monströsen Zusammenfügungen von Worten, die sich aufheben und widersprechen, so dass der Geist irgend etwas dabei zu denken vergeblich sich abmartert, bis er endlich ermattet zusammensinkt, vernichten in ihm allmählich die Fähigkeit zum Denken so gänzlich, dass von da an hohle leere Floskeln ihm für Gedanken gelten. – Wenn einmal ein Vormund besorgen sollte, sein Mündel könnte für seine Pläne zu klug werden, so ließe sich durch ein fleißiges Studium der Hegelschem Philosophie diesem Unglück vorbeugen.“(4)

Meines Erachtens steckt in diesen unnachahmlich bösen Sätzen Schopenhauers sehr viel Wahres. Dennoch wäre es verkehrt, Hegel einseitig als einen „Philosophaster des monströsen Unsinns“ abzustempeln, ohne dabei auch seine Leistungen zu würdigen. Hegels Verdienst war es zweifellos, dass er als Erster die ungeheuere Dynamik des geschichtlichen Prozesses erkannte und in den Mittelpunkt des philosophischen Denkens stellte. Auch wenn man – wie Popper – dem orakelnden Historizismus gegenüber kritisch eingestellt ist, so muss man doch anerkennen, dass die von Hegel vorangetriebene, historische Betrachtungsweise einen immensen Erkenntnisgewinn bedeutete. Leider aber wurde dieser Erkenntnisgewinn, der – wie wir noch sehen werden – auch starke religionskritische Aspekte hatte, durch eine „versteckte Theologie“ wieder aufs Spiel gesetzt.

Zur Herangehensweise: Meine religionskritische Auseinandersetzung mit Hegel, Feuerbach, Marx & Co. wird in vier Schritten erfolgen. Im ersten Schritt werde ich – selbstverständlich in aller gebotenen Kürze - das prinzipiell religionsaufhebende, aber dennoch versteckt theologische Programm der Hegelschen Philosophie darstellen. Im zweiten Schritt soll diesem Programm das Feuerbachsche Konzept einer anthropologisch-atheistischen Religionskritik gegenübergestellt werden. Im dritten Schritt werde ich skizzieren, inwieweit Marx Feuerbachs Gedanken weiter- bzw. zurückentwickelt hat. Abschließend werde ich im vierten Teil der Frage nachgehen, inwiefern religionskritisches Denken heute überhaupt noch relevant ist und was wir möglicherweise aus den Ansätzen der referierten Autoren sowie den Erfahrungen des 19. und 20. Jahrhunderts für die Zukunft lernen können.


1.
Von der Religion zur Philosophie und wieder zurück:
Hegel – der unfreiwillig atheistische Verkünder des Weltgeistes

Selbstverständlich ist es prekär, das Denksystem eines Philosophen zu referieren, den man zugegebenermaßen nie wirklich verstanden hat. Da ich aber davon ausgehe, dass selbst ausgewiesene Hegelexperten - ja möglicherweise Hegel selbst! - nur erahnen konnten, was Hegel in seinen Darlegungen zu meinen glaubte, will ich meine diesbezüglichen Hemmungen fallenlassen und im Folgenden kurz umreißen, was in Bezug auf die Religion aus Hegels Schriften herausgelesen werden kann.

Wie bei Marx so ist es auch bei Hegel zweckmäßig zwischen dem Frühwerk und dem Spätwerk zu unterscheiden. In seinen Theologischen Jugendschriften, die im übrigen weit verständlicher zu lesen sind als sein Spätwerk, finden sich einige Passagen, die Feuerbachs anthropologischen Atheismus vorwegzunehmen scheinen. Beispielsweise fordert Hegel dort, „die Schätze, die an den Himmel verschleudert worden sind, als Eigentum der Menschen… zu vindizieren.“(5)

In seinem späteren Werk freilich ist von diesem emanzipatorischen Anspruch nur wenig zu spüren. Die Bezeichnung „Atheist“ hat Hegel stets energisch zurückgewiesen und auch das Christentum wurde von ihm immer wieder nachdrücklich gewürdigt. Hegel verstand sich als tief religiösen Menschen. Er hatte den Anspruch, den gesamten Inhalt des christlichen Glaubens in sein philosophisches System zu integrieren. Die alten Mythen sollten erhalten bleiben, sie bedurften nur einer zeitgemäßen Auslegung, einer Interpretation auf der Höhe der Zeit, die selbstverständlich nur er, Hegel, der Mann mit dem direkten Draht zum Weltgeist, liefern konnte.

An dieser Stelle ist nun ein kurzer Exkurs zur Hegelschen Philosophie der Geschichte, der Dialektik des Fortschritts und des Verhältnisses von Idee und Wirklichkeit unumgänglich. Hegel zufolge fußt die Entwicklung der Vernunft (und damit auch die Entwicklung der menschlichen Geschichte) in einer permanenten Abfolge von Widersprüchen, die überwunden werden und so für steten Fortschritt sorgen. Grundlegend für diesen Prozess ist die sog. „dialektische Triade“ von These, Antithese und Synthese. Da nach Hegel alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig ist, fällt die Entwicklung der Wirklichkeit mit der Entwicklung der Vernunft zusammen. So verfügt jede Zeit über das Grad an Wahrheit, das ihr entspricht. Da Hegel all dies erkannt und auf den Begriff gebracht zu haben glaubt, wähnt er sich nicht nur auf der Höhe des geschichtlichen Wahrheitsentfaltungsprozesses, er glaubt auch, das endgültige philosophische System geschaffen zu haben, in dem alle Widersprüche aufgehoben und aufs Trefflichste miteinander versöhnt sind. Näher als er, meint Hegel, auch wenn er es nicht verbis expressis ausspricht, könne man dem Absoluten, dem Weltgeist oder Gott nicht kommen.

Die Existenz Gottes steht für Hegel deshalb überhaupt nicht zur Disposition. Gott ist für ihn das Absolute, das sich – wie er bewiesen zu haben glaubte - im historischen Prozess verwirklicht. Selbstverständlich ist Hegels Gott nicht als transzendent gedacht, sondern als dem Endlichen immanent, als absolute Idee und Totalität des Endlichen zugleich, als ein Gott, „der ohne Welt nicht Gott“ ist. (6)

Mit dieser Konstruktion freilich erweist er seinem Christentum einen Bärendienst, denn Hegels in den Dingen steckender Weltgeist-Gott ist schwerlich mit der personalen, mit konkreten Eigenschaften versehenen Gottesvorstellung des Christentums vereinbar. Es handelt sich vielmehr um ein monistisches, man könnte sagen: pantheistisches, ja: unfreiwillig atheistisches Gottesmodell (7), in dem die Gegensätze von Subjektivität und Objektivität, Gut und Böse, Begriff und Substanz, dem Einzelnen und dem Allgemeinen in einer allumfassenden Einheit des Geistes aufgehoben sind. Diese Einheit zu erkennen, ist für Hegel nicht nur die vornehme Aufgabe aller Philosophie, sondern Dreh- und Angelpunkt der Menschheitsgeschichte. In der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ heißt es hiezu: „Das Absolute ist der Geist, dies ist die höchste Definition des Absoluten. - Diese Definition zu finden und ihren Sinn und Inhalt zu begreifen, dies, kann man sagen, war die absolute Tendenz aller Bildung und Philosophie, auf diesen Punkt hat sich alle Religion und Wissenschaft gedrängt; aus diesem Drang allein ist die Weltgeschichte zu begreifen.“(8) Hegel zufolge gab es eine historische und vernunftsnotwendige Entwicklung der Religionen, von den unangemessenen Gottes-Vorstellungen beispielsweise der Ägypter oder Inder bis hin zur höchsten, absoluten Religion, eben dem Christentum, dessen wichtigster Inhalt es sei, „Gott als Geist zu erkennen zu geben“. (9) Allerdings ist auch die christliche Religion und Theologie nicht der Endpunkt dieser permanenten Fortschrittsentwicklung. Während in der christlichen Religion Gott als Geist nur vorgestellt werde, gehe die spekulative Philosophie über die bloße Vorstellung hinaus und bringe das Absolute auf den Begriff.

In der „Phänomenologie des Geistes“ wird dieser Gedanke auf typisch hegelianisch-nebulöse Weise zum Ausdruck gebracht: „Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist, und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion. Jenes weiß ihn als Denken oder reines Wesen, und dies Denken als Sein und als Dasein, und das Dasein als die Negativität seiner selbst, hiermit als Selbst, dieses und allgemeines Selbst; eben dies weiß die offenbare Religion.“ (10)

Auch wenn man den Sinn dieser Worte wohl nur erahnen kann: Hegel versuchte auf diese Weise, Theologie in die Philosophie zu überführen. Das Resultat war allerdings keine in der Philosophie aufgehobene Theologie, sondern eine durch und durch theologisierte Philosophie, die viele der Unterscheidungen zwischen Glauben und Wissen verspielte, die in der Aufklärung – beispielsweise von Kant - mühsam herausgearbeitet worden waren. Halten wir also fest: Hegels Philosophie war – auch wenn sie die Religionskritik der „Linkshegelianer“ befruchtete – niemals als scharfe Antithese zur Religion konzipiert, sondern begriff sich selbst als Vollendung des religiösen Strebens hin zu Gott. In ihrem Zentrum stand nicht die Lösung diesseitiger Probleme, sondern die spekulative Erkenntnis des Absoluten.


2.
Ludwig Feuerbach oder:
Die Kunst des Liebens als säkulare Religion

So wie Hegel die Religion in Philosophie überführen wollte, versuchte Feuerbach, die spekulative Philosophie in einer anthropologischen Betrachtungsweise aufzuheben. Der Gott der Theologie bzw. Hegels absoluter Geist wurde von Feuerbach als falsche Vergegenständlichung bzw. Projektion spezifischer menschlicher Eigenschaften aufgefasst. Im „Wesen des Christentums“ heißt es hierzu: „Die Persönlichkeit Gottes ist selbst nichts andres als die entäußerte, vergegenständlichte Persönlichkeit des Menschen. Auf diesem Prozesse der Selbstentäußerung beruht auch die Hegelsche spekulative Lehre, welche das Bewußtsein des Menschen von Gott zum Selbstbewußtsein Gottes macht. Gott wird von uns gedacht, gewußt. Dieses sein Gedachtwerden ist der Spekulation zufolge das Sich-Denken Gottes; sie einigt die beiden Seiten, welche die Religion auseinandertrennt. Die Spekulation ist hierin bei weitem tiefer als die Religion, denn das Gedachtsein Gottes ist nicht wie das eines äußerlichen Gegenstandes. Gott ist ein innres, geistiges Wesen, das Denken, das Bewußtsein ein innerer, geistiger Akt, das Gedachtwerden Gottes daher die Bejahung dessen, was Gott ist, das Wesen Gottes als Akt betätigt.“ (11)

Auf diese Weise kann Feuerbach gleichsam an Hegel anknüpfen und ihn überwinden. Er begreift Hegels Philosophie als Antithese zur christlichen Religion, die nun in seiner eigenen Philosophie zu einer neuen Synthese geführt wird. Im Zentrum der Feuerbachschen Philosophie steht nicht mehr der absolute Geist Hegels, sondern der Mensch, der sich den absoluten Geist denkt, um auf diese Weise den Schmerz und die Vereinzelung der eigenen Lebensexistenz zu überwinden. Hier nimmt Feuerbach einige Kerngedanken vorweg, die Marx wenig später in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ entfalten wird. Im „Wesen des Christentums“ heißt es: „Gott ist … die rücksichtslose Allmacht des Gefühls, das sich selbst erhörende Gebet, das sich selbst vernehmende Gemüt, das Echo unserer Schmerzenslaute. Äußern muß sich der Schmerz; unwillkürlich greift der Künstler nach der Laute, um in ihren Tönen seinen eignen Schmerz auszuhauchen. Er befriedigt seinen Schmerz, indem er ihn vernimmt, indem er ihn vergegenständlicht; er erleichtert die Last, die auf seinem Herzen ruht, indem er sie der Luft mitteilt, seinen Schmerz zu einem allgemeinen Wesen macht. Aber die Natur erhört nicht die Klagen des Menschen - sie ist gefühllos gegen seine Leiden. Der Mensch wendet sich daher weg von der Natur, weg von den sichtbaren Gegenständen überhaupt - er kehrt sich nach innen, um hier, verborgen und geborgen vor den gefühllosen Mächten, Gehör für seine Leiden zu finden. Hier spricht er seine drückenden Geheimnisse aus, hier macht er seinem gepreßten Herzen Luft. Diese freie Luft des Herzens, dieses ausgesprochne Geheimnis, dieser entäußerte Seelenschmerz ist Gott. Gott ist eine Träne der Liebe, in tiefster Verborgenheit vergossen über das menschliche Elend.“ (12)

Die Religion ist für Feuerbach die falsche Antwort auf durchaus richtig gestellte Fragen. Sie fesselt den Menschen, indem sie verspricht, die Kluft zu überwinden, die zwischen dem Ich und dem Du existiert. Dabei ist die Überwindung dieser Kluft für Feuerbach geradezu ein Signum echter Menschlichkeit, denn: „Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten - eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschiedes von Ich und Du stützt.“(13) Emphatisch fügt er hinzu: „Einsamkeit ist Endlichkeit und Beschränktheit, Gemeinschaftlichkeit ist Freiheit und Unendlichkeit. Der Mensch für sich ist Mensch (im gewöhnlichen Sinn); Mensch mit Mensch - die Einheit von Ich und Du ist Gott.“ (14)

Feuerbach will – das ist wohl die Quintessenz seiner gesamten Philosophie - an die Stelle der illusionären, religiösen Brücke zur Gattung eine echte stellen. Da der Umweg über Gott nicht mehr notwendig ist, formuliert er die Grundsätze einer säkularen Religion, einer Religion der umfassenden Menschenliebe, die in vielerlei Hinsicht die Gedanken humanistischer Autoren des 20. Jahrhunderts wie beispielsweise Erich Fromm vorwegnimmt. (15) In der anonym verfassten Schrift „Über das ‚Wesen des Christentums’ in Beziehung auf den ‚Einzigen und sein Eigentum’, in der Feuerbach über sich selber in der dritten Person spricht, heißt es hierzu: „Warum hebt F. so die Liebe hervor? Weil es keinen anderen praktischen und organischen, durch den Gegenstand selbst dargebotenen Übergang vom Gottesreich zum Menschenreich gibt als die Liebe, denn die Liebe ist der praktische Atheismus, die Negation Gottes im Herzen, in der Gesinnung, in der Tat. Das Christentum nennt sich die Religion der Liebe, ist aber nicht die Religion der Liebe, sondern die Religion des supranaturalistischen, geistlichen Egoismus, gleichwie das Judentum die Religion des weltlichen, irdischen Egoismus ist. F. musste daher das Christentum beim Wort nehmen, d.h. das Wort zur Sache, den Schein zum Wesen machen.“ (16)

Es ist nicht unverständlich, dass Feuerbach von verschiedener Seite vorgeworfen wurde, dass er – trotz seiner materialistischen, sensualistischen Ansatzes - das Phänomen der Liebe überschätze und vom Menschen idealistischer Weise etwas abverlange, wozu er gar nicht fähig sei. Auf die nahe liegende Frage, ob er die Liebe nicht auch „in einem der wirklichen Liebe widersprechenden, phantastischen, supranaturalistischen Sinne“ verstehe – also als eine Liebe, die von aller Selbstliebe frei sein soll, antwortete Feuerbach in der eben erwähnten Schrift: „Nein! ‚Kein Wesen …., kann sich selbst negieren.’ ‚Sein heißt, sich selbst lieben.’ ‚Indem ich das Elend des anderen erleichtere, erleichtere ich zugleich mein eigenes, Elend des anderen fühlen, ist selbst ein Elend’ usw. Jede Liebe ist insofern egoistisch, denn ich kann nicht lieben, was mir widerspricht; ich kann nur lieben, was mich befriedigt, was mich glücklich macht; d.h. ich kann nichts anderes lieben, ohne eben damit zugleich mich selbst zu lieben.“(17)

Natürlich war Feuerbach nicht so naiv, dass er übersehen hätte, dass die Menschen seiner Zeit kaum in der Lage waren, die edlen Prinzipien der universellen Menschenliebe, in der sich das Individuum in seinem Gegenüber selber liebe, konkret in die Praxis umzusetzen. Aber er hoffte auf einen grundlegenden Bewusstseinswandel in der Zukunft. Hier blieb er durchaus dem hegelianischen Glauben an eine inhärente Fortschrittsautomatik in der Geschichte verhaftet. So sehr er auch die spekulative Philosophie verworfen hatte, an dem angeblich dialektisch abgesicherten Fortschrittsmodell hielt er zeitlebens fest. Sein Credo: Der wahre Mensch werde erst in Zukunft auftreten und zu allumfassender Liebe fähig sein. Hier argumentierte er nicht viel anders als Marx, der anfangs den Ansatz Feuerbachs fast wortgetreu übernahm, wenig später aber scharf kritisierte, dass Feuerbach die Notwendigkeit der revolutionären Praxis unterschätzt und ein abstraktes Naturwesen an die Stelle des gesellschaftlich geprägten Menschen gesetzt habe.

3.
Die Kritik des Jammertals:
Religionskritik und Religionsersatz bei Marx

Sowohl Marx als auch Engels waren bekanntlich nach dem Erscheinen des „Wesen des Christentums“ augenblicklich zu Feuerbachianern .geworden. „Erst Feuerbach, schrieben sie in „Die heilige Familie“, „vollendete die Kritik der Religion, indem er … zur Kritik der Hegelschen Spekulation und daher aller Metaphysik die großen und meisterhaften Grundzüge entwarf.“ (18)

Marxens berühmte“ Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ war wie viele seiner Frühschriften stark vom Geist des Feuerbachschen Humanismus und Naturalismus geprägt. Die Schrift begann mit der emphatischen Feststellung, dass (nach Feuerbach) die Kritik der Religion in Deutschland im wesentlichen beendigt, und die „Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik“ sei. (19) Marx fuhr fort: „Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine wahre Wirklichkeit sucht und suchen muß.“ (20)

Auch die darauf folgenden Sätze sind reiner Feuerbach: „Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat.“ (21)

Doch dann geht Marx über Feuerbach hinaus. Er stellt fest: „Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein, weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist.“ (22)

Während sich Feuerbach auf das individuelle, sinnliche Wesen konzentriert, das vom falschen Bewusstsein befreit, die Brücke vom Ich zum Du entlang schreiten soll, geht es Marx vordringlich um die gesellschaftlichen Zustände, die jene Entfremdung produzieren, welche erst den weltanschaulichen Nährboden für das religiöse Elend bereitet. Die Kritik der Religion ist für Marx daher nur ein kurzer Schritt auf der langen Etappe der Menschwerdung des Menschen. Marx fährt fort:

„Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. … Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.“ (23)

Auf diese Weise verwandelt sich nach Marx die „Kritik des Himmels“ in die „Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik.“ (24) Ausgehend von der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, gilt es nun nach Marx „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist…“ (25)

Wir sehen schon nach diesen wenigen Passagen: Trotz aller Gemeinsamkeiten werden schon in diesem Frühwerk die Unterschiede von Marx und Feuerbach deutlich. Während Feuerbach eine Veränderung des Bewusstseins anstrebt, zielt Marxens Engagement auf den politischen Kampf, in dem – wie er schreibt - die „Waffe der Kritik“ durch die „Kritik der Waffen“ ergänzt werden muss. (26) Dennoch begreift sich Marx zu diesem Zeitpunkt durchaus noch als Humanist Feuerbachscher Prägung, eine Denkhaltung, die vor allem in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ von 1844 deutlich zum Tragen kommt. Dort entwickelt Marx seine berühmte, am sinnlichen Individuum orientierte Vorstellung von „wahrer Tätigkeit“, die er den entfremdeten Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise entgegengestellt. (27)

Wenig später aber gibt Marx diesen dezidiert humanistischen Ansatz auf. Er wird fortan nicht mehr vom „wahren menschlichen Wesen“ sprechen, das sich in der „Liebe zum Mitmenschen“ als „Gattungswesen“ verwirklicht. Durch eine erneute intensive Beschäftigung mit Hegel wird Marx mehr und mehr zum Immoralist. Die konkreten Wünsche, Hoffnungen, Ängste und Leidenschaften der Menschen begreift er als notwendigen Ausdruck spezifischer historischer Existenzformen, die ihrerseits durch die jeweiligen sozioökonomischen Bedingungen hervorgebracht werden. Der Kapitalist kann den Proletarier nicht lieben und umgekehrt. Beide sind Marionetten des jeweiligen historisch vermittelten Klasseninteresses. Moral predigen hilft da wenig. Marx kann weder den Kapitalisten noch den Aristokraten oder den Klerus moralisch verurteilen. Seiner Meinung nach verhalten sich alle Akteure im gesellschaftlichen Spiel so, wie sie sich auf dem erreichten Entwicklungsstand der Produktivkräfte verhalten müssen. Dabei ist es für ihn nur eine Frage der Zeit, bis sich die Widersprüche innerhalb der kapitalistischen soweit hochschaukeln, dass die Klasse der Proletarier das Ruder übernimmt. Das würde, so orakelt Marx, nicht nur das Ende der kapitalistischen Lohnausbeutung bedeuten, sondern auch das Ende von Religion, Moral und Philosophie. All diese Ideologien, die - so Marx – in letzter Instanz keinem anderen Zweck dienten, als antagonistische Klasseninteressen zu verschleiern, sollen in der klassenlosen Gesellschaft absterben.

Soweit die Grundkonzeption von Marx. Fragen wir uns nun, ob Marxens Konzept tatsächlich eine Weiterentwicklung der Feuerbachschen Idee war, wie dies viele Marxisten immer wieder behauptet haben. War Feuerbach nur der Stichwortgeber, Marx aber der Vollender einer aufgeklärten materialistischen Weltanschauung?

Nun, man kann schwerlich bezweifeln, dass Marx in der Analyse einige Schritte vorangegangen ist. In der Tat kann man der Feuerbachschen Philosophie vorwerfen, dass sie von einem abstrakten menschlichen Wesen ausgegangen ist und dabei auch noch im Stile Rosseaus die negativen Potentiale der menschlichen Existenz weitgehend verdrängte. Sie übersah die große Bedeutung der jeweiligen historischen Bedingungen der Gesellschaft für die Ausprägung spezifischer menschlicher Verhaltensmuster und Denkweisen. Insofern kann der sozioökonomische Relativismus, den Marx einführte, durchaus als eine sinnvolle Weiterentwicklung der ursprünglichen Feuerbachschen Philosophie gesehen werden.

Dies gilt selbstverständlich auch für die Marxsche Religionskritik, die mit Recht die gesellschaftlichen Bedingungen fokussiert, die zur Ausbildung, Verbreitung und Akzeptanz religiöser Heilserzählungen notwendig sind. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Mit Hilfe der Feuerbachschen Religionskritik kann die gegenwärtige Verbreitung des militanten, islamischen Fundamentalismus kaum verstanden werden. Als Erklärungsansatz ist hier die im Sozialen, Ökonomischen und Politischen fußende Marxsche Religionskritik deutlich überlegen. Denn der momentane Boom fundamentalistischer Strömungen innerhalb des Islams gründet auf klar benennbaren außerreligiösen, sozialen, ökonomischen wie politischen Ursachen, nämlich 1. einer über weite Strecken ungerechte Weltwirtschaftsordnung, in der die Armen ärmer und die Reichen reicher werden, 2. einer als penetrant empfundene Dominanz des selbsternannten „Weltpolizisten“ USA, der eigenmächtig internationales Recht bricht, wenn ihm das zum Vorteil gereicht, 3. weithin korrupten Regimen vor Ort, die sich oftmals nur dank westlicher Unterstützung behaupten können, 4. unzulänglichen Sozial- und Bildungssysteme in den Krisenregionen, die dafür sorgen, dass die Zugehörigkeit zu einer Religion oder einer Volksgruppe das Einzige bleibt, worauf die weitgehend entrechteten und geknechteten Menschen stolz sein können usw.

Dennoch: Trotz der Vorteile der Marxschen Herangehensweise, die u.a. die Sozialpsychologie des 20. Jahrhunderts stark befruchtete,(28) kann man durchaus auch von einem Marxschen Rückfall hinter das von Feuerbach Geleistete sprechen. Während Feuerbach sich auf die einzige wirkliche, reale Substanz der Geschichte konzentrierte, nämlich auf das konkrete, sinnliche Individuum, griff Marx auf die abstrakten Geschichtsprinzipien Hegels zurück, die er freilich materialistisch umdeutete. Wie bei Hegel steht auch bei Marx ein abstrakter Fortschrittsautomatismus der Geschichte im Mittelpunkt der Theorie. Allerdings: Während bei Hegel der damalige preußische Staat als geschichtsnotwendiges Idealbild des Staates überhaupt gedeutet wird, blickt Marx über die Gegenwart hinaus. Die Zukunft wird zur Verheißung einer weltgeschichtlichen Erlösung, eines „Reichs der Freiheit“, dessen Vorzeichen allein Marx - ähnlich den Propheten des Alten Testamentes – richtig zu interpretieren weiß.

Wie Hegel, versteht auch Marx seine Theorie als Höhepunkt der geschichtlichen Entwicklung. Als solche ist sie unantastbar und deshalb gelten Kritiker auch automatisch als Ketzer, die es – um die Reinheit der heilen Theorie zu bewahren - auszuschalten gilt. Anfangs – bei Marx und Engels – geschieht dies mit Worten (wenn auch mit recht rüden Worten, wenn man sich beispielsweise den Briefwechsel der beiden ansieht (29)), später jedoch ergänzten Marxens Nachfolger die „Waffe der Kritik“ schnell durch die „Kritik der Waffen“. Dabei enthüllt die ungeheure Rücksichtslosigkeit, mit der von Anfang an jede kleinste Abweichung von der offiziellen Doktrin verfolgt wurde, den religiösen Charakter der gesamten Unternehmung. Die „russische Inquisition“ verfuhr nach dem gleichen Muster, das uns bereits aus dem Jahrhunderte alten Kampf um religiöse Vormachtstellung bekannt ist. Wie in der spanischen, so hieß es auch in der russischen Inquisition: Du wirst dran glauben – oder: du wirst dran glauben!

Tragischerweise lieferte Marx selbst den Grundstein dafür, dass sein Ansatz in der Folge zur fundamentalistischen Politreligion verkommen konnte, in der orthodox geschulte, kommunistische Parteipriester das Hochamt der Gewalt zelebrierten. Bei allen gewichtigen Unterschieden zwischen Marx, Lenin und Stalin (30) ist nicht zu übersehen, dass die impliziten, versteckten Religionsanteile der marxistischen Theorie den totalitären Personenkult um Stalin & Co. auf erschreckende Weise untermauerten. Nach der marxistischen Vorlage war es für Stalin ein Leichtes, sich als übermenschlichen Propheten der bolschewistischen Säkularreligion zu stilisieren, als vom Histomat bestimmten Führer der auserwählten Volksgruppe „Arbeiterklasse“ und unfehlbaren Papst des kommunistischen Parteipriestertums. (31)

Mit dem weit bescheideneren Ansatz Feuerbachs, in dem weder ein abstraktes Geschichtsprinzip noch die anonyme, durch historische Umstände geformte Masse im Zentrum steht, sondern der sinnliche Dialog von Ich und Du, wäre eine solche totalitäre Religionsvariante sicherlich nicht möglich gewesen. Insofern scheint der Marxsche Versuch einer Verbindung von Hegelscher Geschichtsphilosophie und Feuerbachschem Materialismus tatsächlich einiges davon verspielt zu haben, was Feuerbach in seiner Auseinandersetzung mit Hegel produktiv vorangetrieben hatte.


4.
Blick zurück nach vorn:
Vom Sinn der Religionskritik im 21. Jahrhundert

Vor zehn Jahren schrieb Christoph Türcke in seinem „Kassensturz zur Lage der Theologie“ einen für unser Thema bemerkenswerten Satz: "Feuerbach glaubte wenigstens, dass es Gott nicht gibt, wir glauben nicht einmal das."(32)

Vorausgesetzt, Türckes Bestandsaufnahme würde stimmen, so wäre die Debatte über Religionskritik und Religionsersatz bei Hegel, Feuerbach, Marx & Co. heute nur noch von historischem Interesse. Wir könnten die historischen Voraussetzungen und Wirkungen der Autoren diskutieren, wären aber von den religionskritischen bzw. religionsaffirmativen Inhalten ihrer Philosophie aktuell kaum noch betroffen.

Die Frage ist allerdings, ob Türcke - der mehr oder weniger guten Pointe wegen - nicht über das Ziel hinaus und an der Wirklichkeit vorbei zielte. Bei genauerer Betrachtung scheint mir seine Aussage sogar in zweifacher Hinsicht falsch zu sein. Zum einen glaubte Feuerbach nicht einfach, dass Gott nicht existierte. Sein Atheismus war kein theoretischer, kein gläubiger, sondern ein praktischer Atheismus. Feuerbach negierte Gott, nicht weil er von dessen Nicht-Existenz überzeugt war, sondern weil dieser vorgestellte Gott die Freiheit, das Selbstbestimmungsrecht, des Menschen negierte. Davon zeugen u.a. die die folgenden Klarstellungen Feuerbachs: „Wer von mir nichts weiter sagt und weiß als: Ich bin ein Atheist, der sagt und weiß von mir soviel wie nichts. Die Frage, ob ein Gott ist oder nicht ist, der Gegensatz von Theismus und Atheismus, gehört dem achtzehnten und siebzehnten, aber nicht dem neunzehnten Jahrhundert an. Ich negiere Gott, das heißt bei mir: Ich negiere die Negation des Menschen, ich setze an die Stelle der illusorischen, phantastischen, himmlischen Position des Menschen, welche im wirklichen Leben notwendig zur Negation des Menschen wird, die sinnliche, wirkliche, folglich auch politische und soziale Position des Menschen. Die Frage nach dem Sein oder Nichtsein Gottes ist eben bei mir nur die Frage nach dem Sein oder Nichtsein des Menschen.“(33)

Zum anderen – und dies ist wohl die weit schwerwiegendere Fehleinschätzung Türckes – ist das Thema „Religion“ bzw. „Glaube“ längst nicht abgehakt. Der oberflächliche Blick auf die postmoderne Spaßgesellschaft bzw. auf die beeindruckenden Fortschritte wissenschaftlicher Welterklärungsmodelle verleitet hier zu einer dramatisch falschen Einschätzung der Lage. Auch in unserer - ach so säkularisierten - Gesellschaft glauben noch 50% der Erwachsenen an übersinnliche Mächte, in Amerika, der wichtigsten Industrienation der Welt, sind es sogar 90%. Für die meisten Amerikaner wäre ein atheistischer Präsident ein Ding der Unmöglichkeit, sie sehen indes kein Problem darin, mit Georg W. Bush einen wiedergeborenen Christen ins höchste Staatsamt zu erheben, d.h. einen Mann, der die Bibel wörtlich nimmt und starke Sympathien für das fundamentalistische Vorhaben hegt, die Evolutionstheorie aus den Lehrplänen der amerikanischen Schulen zu verbannen.(34)

Trauriger Weise sieht die Lage weltweit kaum besser aus. Die Zahl der fundamentalistisch Gläubigen steigt von Jahr zu Jahr an, was zu einer zunehmenden Verschärfung der weltpolitischen Lage führt. Alles in allem spricht vieles dafür, dass das 21. Jahrhundert nicht das Jahrhundert der Aufklärung sein wird, sondern ein Jahrhundert verheerender Religionskriege.

Wir täten daher gut daran, das Phänomen „Religion“ Ernst zu nehmen. Insofern ist die Beschäftigung mit den religionskritischen sowie versteckt religiösen Modellen von Hegel, Marx, Feuerbach & Co. auch heute noch von großer Bedeutung. Von Feuerbach können wir u.a. die Erkenntnis übernehmen, dass wir Menschen die Götter und Religionen erschaffen haben, um auf fantastische Weise reale Bedürfnisse zu befriedigen, von Marx und Hegel die Erkenntnis, dass diese realen Bedürfnisse nicht allein in der menschlichen Natur verankert sind, sondern im geschichtlichen Prozess geformt werden.

Verabschieden sollten wir uns selbstverständlich von manchem Irrtum der referierten Autoren, beispielsweise von der allzu naiven Weise, in der Feuerbach den Menschen sah. Wie wir heute wissen, spiegelt sich in der Religion nicht nur das menschliche Bedürfnis nach Liebe wieder, sondern auch das evolutionär geprägte Bedürfnis, „das Fremde“ auszugrenzen und über eine vermeintlich enge Beziehung zu einem imaginären Alpha-Männchen, also zu „Gott“, die eigene Stellung innerhalb der menschlichen Säugetierhierarchie aufzubessern. (35)

Gleichermaßen sollten wir uns verabschieden von jeder Form religiösen Erlösungsglaubens – und sei er noch so säkular formuliert. Der bei Hegel angelegte, von Marx vollendete Glauben an eine inhärente Fortschrittsautomatik der Geschichte wurde immer wieder dazu genutzt, alle Entsagungen und Gräuel der Gegenwart über die Verheißung einer vermeintlich sicheren paradiesischen Zukunft zu rechtfertigen. Letztlich sollten wir auch Abschied von der versteckt religiösen Vorstellung Hegels und Marxens nehmen, es gäbe für alle Zeiten abgesicherte, privilegierte Zugänge zur Wahrheit. Denn das Grundproblem der Religion ist nicht der Gottesglaube per se (bekanntlich gibt es Religionen, die ohne Götter auskommen) sondern der unter Religiösen aller Couleur anzutreffende Irrglauben, im Besitz der absoluten, universell gültigen Wahrheit zu sein, oder genauer: im Besitz dieser Wahrheit sein zu können.

Wie das Beispiel des zur Politreligion mutierten Marxismus zeigt, kann es verheerende Folgen haben, wenn eine Theorie den Anschein erweckt, sie habe für alle Zeiten den Stein der Weisen gefunden. Eine solche argumentative Unantastbarkeit, d.h. Heiligkeit von Aussagen ist der Kern jedes religiösen Denkens. Das wissenschaftliche Denken schlägt hier bekanntlich den diametral entgegen gesetzten Weg ein: Wissenschaft bedeutet permanentes Zweifeln. Die wissenschaftliche Suche nach Wahrheit ist ergebnisoffen, nichts ist ihr heilig - nicht einmal die Ergebnisse der eigenen Tradition - und so kann die wissenschaftliche Luxuskarosse von heute schon morgen auf dem Schrottplatz der Geschichte landen.

Gelänge es, diesen postreligiösen, posttraditionalen Denkansatz stärker im Bewusstsein der Menschen zu verankern, würden sich die Chancen für eine friedliche Koexistenz entscheidend verbessern. Denn dann hätten wir die besten Voraussetzungen für Etablierung einer wahrhaft offenen Weltkultur, in der Menschen ihre falschen Ideen sterben lassen können, bevor sie selbst für falsche Ideen sterben müssen.

Ich komme zum Schluss: Karl Marx begann seine „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ mit einem überaus bemerkenswerten Satz, der einerseits etwas fundamental Richtiges aussagte, aber andererseits auch grundverkehrt war. Dass „die Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik ist,“ ist zweifellos wahr. Solange Menschen sich mit Hilfe eines spekulativen Jenseits allen Argumenten entziehen können, werden wir in dem wichtigen Dialog der Kulturen kaum vorankommen. Allerdings irrte Marx schwer, als er meinte, dass diese notwendige Kritik der Religion in Deutschland (oder auch in irgendeinem anderen Land der Erde) im Wesentlichen bereits abgeschlossen sei. Das Gegenteil ist der Fall: Die Kritik der Religion ist trotz Hegel, Feuerbach, Marx & Co. längst nicht vollendet, sie steht noch immer am Anfang…


Anmerkungen

(1) Schopenhauer, Arthur (1977): Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde. In: Arthur Schopenhauer, Werke in 10 Bänden (Züricher Ausgabe). Zürich, Bd. 5, S. 140

(2) a.a.O., S.130

(3) siehe Popper, Karl (1958/1980): Die offene Gesellschaft und ihre Feinde II. Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen. Tübingen, S.36ff.

(4) Popper (1958/1980), S. 98f.

(5) zitiert nach Schmidt, Alfred (1988): Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus. München, S. 14.

(6) vgl. hierzu Minois, Georges (2000): Geschichte des Atheismus. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Weimar, S.546ff.

(7) Auf diesen doppelbödigen Charakter der Hegelschen Philosophie wies Bruno Bauer schon 1841 hin und zwar im Rahmen seiner anonym veröffentlichten Schrift „Die Posaune des jüngsten Gerichts über Hegel, den Atheisten und Antichristen“.

(8) Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1979): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. In Hegel, G.W.F: Werke. Frankfurt/Main, Bd. 10, S. 29f.

(9) ebenda

(10) Hegel, G.W.F. (1979): Phänomenologie des Geistes. In: Hegel, G.W.F: Werke. Frankfurt/Main, Bd. 3, S. 554

(11) Feuerbach, Ludwig(1956): Das Wesen des Christentums (herausgegeben von W. Schuffenhauer) Berlin, Bd.2, S. 348

(12) Feuerbach (1956), Bd. 1, S. 200f.

(13) Feuerbach, Ludwig (1950): Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Feuerbach, Ludwig: Kleine philosophische Schriften (herausgegeben von Max Gustav Lange). Leipzig, S. 168.

(14) Feuerbach (1950), S. 169

(15) vgl. beispielsweise Fromm, Erich (1989): Die Kunst des Liebens. In: Fromm, Erich: Gesamtausgabe Bd. IX. München

(16) Feuerbach, Ludwig (1950): Über das ‚Wesen des Christentums’ in Beziehung auf den ‚Einzigen und sein Eigentum’. In: Kleine philosophische Schriften. Leipzig, S. 193

(17) a.a.O., S.194

(18) Marx, Karl/Engels, Friedrich (1956ff.): Die heilige Familie oder: Kritik der kritischen Kritik. In: MEW, Bd.2, S. 147

(19) Marx, Karl (1956ff.) Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: MEW, Bd.1, S.378.

(20) ebenda

(21) ebenda

(22) ebenda

(23) a.a.O., S.378f.

(24) a.a.O. S.379

(25) a.a.O., S. 385

(26) ebenda

(27) Symptomatisch, dass der „Feuerbachianer“ Erich Fromm die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ als Marxens „philosophisches Hauptwerk“ auffasste und sie der amerikanischen Öffentlichkeit zugänglich machte, um der „Verfälschung des Marxschen Denkens“ entgegen zu wirken (vgl. Fromm, Erich (1989): Das Menschenbild bei Marx. In: Fromm, Erich: Gesamtausgabe. Bd. V. München.). In den vom ZK der KPdSU besorgten „Marx-Engels-Werken“ (MEW) erschienen die Manuskripte erst im Ergänzungsband 1 (heute MEW, Bd.40). Dabei legten die Herausgeber größten Wert darauf, aufzuzeigen, dass es sich hier um eher unbedeutende Werke des frühen, „unreifen“ Marx handelte. Auf diese Weise versuchte man den „Revisionisten“ wie Fromm, Marcuse oder Bloch entgegenzutreten, die auf der Basis der Marxschen Frühwerke die „entfremdeten Lebensbedingungen“ des „real existierenden Sozialismus“ angriffen.

(28) Auch in diesem Zusammenhang sind die Werke von Erich Fromm von besonderem Interesse. Die im Anhang zu „Die Furcht vor der Freiheit“ veröffentlichte Theorie des „Gesellschaftscharakters“ beispielsweise liest sich wie eine psychologische Ausformulierung der Marxschen These vom Menschen als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (vgl. Fromm, Erich: Die Furcht vor der Freiheit. In: Fromm, Erich: Gesamtausgabe Bd I. S. 379ff.)

(29) vgl. Raddatz, Fritz (Hrsg.) (1986): Mohr an General. Marx und Engels in ihren Briefen. Reinbek.

(30) zu den Unterschieden von Marxismus und Leninismus (bzw. Stalinismus) vgl. Schmidt-Salomon, Michael (1999): Proletarier aller Länder verzeiht mir? Plädoyer für einen zu Unrecht angeklagten Philosophen. In: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie. 2/1999.

(31) vgl. Schmidt-Salomon, Michael (2000): Sind Atheisten die besseren Menschen? Anmerkungen zur Kriminalgeschichte des Atheismus. In: Materialien und Informationen zur Zeit (MIZ), 4/2000.

(32) Türcke, Christoph (1992): Kassensturz. Zur Lage der Theologie, Frankfurt/Main S. 139.

(33) Feuerbach, Ludwig: Gesammelte Werke (herausgegeben von W. Schuffenhauer). Berlin 1971, Bd.10, S.189.

(34) vgl. hierzu u.a. Herkt, Stefan (2002): In God we trust. Die Rolle der Religion im US-amerikanischen Wahlkampf 2000. In: Materialien und Informationen zur Zeit (MIZ), 1/2002.

(35) siehe Schmidt-Salomon, Michael (2002): Die Banalität von Gut und Böse. In: Aufklärung und Kritik. Zeitschrift für freies Denken und humanistische Philosophie. 1/2002. Zur soziobiologischen Entzauberung der Religion siehe auch: Wilson, Edward O. (1998): Die Einheit des Wissens. Berlin, S.317ff.

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