"Die
deutschen Zensoren ---------
------------- Dummköpfe----------"(1)
Heiliger
Zwang und politische Zensur am
Beispiel "Maria-Syndrom"
Auszug
aus: Reinsdorf (Hrsg.): Zensur
im Namem des Herr.
Zur Anatomie des Gotteslästerungsparagraphen. Alibri-Verlag.
Aschaffenburg. 1997.
"Ekelerregend!"- "Schweinemist!" - "Das
Machwerk eines Irren", eines "Wahnsinnigen",
eines "Satanisten", eines "perversen Schweins!" Nein, sonderlich beliebt war ich nicht in jenen Tagen und Wochen des Sommers
1994, als sich der geballte Zorn ehrbarer Christen und Christinnen an mir wie
an einem Blitzableiter entlud. Der Skandal um das verbotene Stück Maria-Syndrom" war
für viele ein willkommener Anlaß gewesen, um sich zu rächen an der verhaßten
Gestalt moderner Kunst, die allzu oft religiöse Tabus attackiert, der Lächerlichkeit
preisgegeben hatte.
Ich will nicht sagen, daß die massive Gegenreaktion von seiten der christlichen
Hardcore-Fraktion, die auch vor offenen Morddrohungen nicht zurückschreckte,
unerwartet kam. Nein, dies alles bestätigte nur die von mir seit längerem vertretene
These, daß die demokratische Verfaßtheit unserer Gesellschaft von einem diffusen,
aber wirkungsvollen, christlichen Fundamentalismus bedroht ist, der danach
strebt, postmoderne Pluralität in prämoderne Dogmatik zu überführen. (2)
Erstaunt
war ich allerdings über die Reaktionen aus dem Bereich
der Politik, der Justiz und der Medien. Niemals hätte ich
erwartet, mit so vielen christlich-bornierten Schafsköpfen
konfrontiert zu werden, und bis heute weiß ich nicht so
recht, was ich erschreckender finden soll: die inhumane
Militanz der christlich-fundamentalistischen
GottesanbeterInnen oder aber die alle Vorstellungen sprengende Dummheit
der am "Maria-Syndrom"-Verfahren beteiligten OrdnungshüterInnen.
Doch zäumen
wir das Pferd nicht von hinten auf, sondern beginnen wir - chronologisch
korrekt - mit der Entstehungsgeschichte des Stücks.
A
piece is born oder: Kleist war an allem schuld
In
Anlehnung an eine hinreichend bekannte Schrift könnte man
sagen: Im Anfang war das Wort und das Wort hieß Maria-Syndrom".
Dieses merkwürdige Wort kam mir vor mehr als zehn Jahren
in den Sinn, als ich das erste Mal die Anfangszeilen der
Kleistschen Novelle Die Marquise von O..." las.
Dort berichtet Kleist von einer Dame von vortefflichem
Ruf", die über die Zeitungen bekanntmachen läßt, daß sie,
ohne ihr Wissen, in andere Umstände gekommen sei, daß der
Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden
solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlossen
wäre, ihn zu heiraten." (3) Ich fragte mich
nach der Lektüre des Werkes, warum Kleist die naheliegende
Möglichkeit, eine Parallele zur wundersamen Geschichte
der Jungfrau Maria zu ziehen, so gänzlich ausgeblendet
hatte. In welch pikante Richtung hätte sich die Novelle
entwickeln können, wenn die Marquise von O. sich als Auserwählte
des Herrn gesehen hätte! Es machte mir einiges Vergnügen,
die Kleistsche Geschichte in dieser Weise fortzuspinnen.
Ich schrieb mehrere Entwürfe, die sich immer weiter von
der Kleistschen Vorlage entfernten, war aber mit keiner
Fassung sonderlich zufrieden. Und so erging es dem Maria-Syndrom" wie
vielen anderen verrückten Projektideen, die ich in diesen
Jahren hatte: Es verschwand in der Schreibtischschublade
und geriet langsam in Vergessenheit.
Dann aber kam der Herbst 91. Die Kabarettgruppe HEIL & SALOMON, mit der
ich damals unterwegs war, steckte in einer tiefen künstlerischen Krise. Unser
Programm "An die Nachgeborenen" hatte
zwar gute Kritiken erhalten, ließ sich aber ungeheuer schlecht verkaufen. Die Gründe
hierfür waren offensichtlich: Das Programm war sowohl inhaltlich als auch formal
nur einer kleinen intellektuellen Elite zugänglich, es hatte wenig Ähnlichkeit
mit dem schenkelklopfenden Humor, den das breite Publikum bevorzugte, und außerdem:
wer wollte sich - außer uns - Anfang der 90er Jahre (!!) überhaupt noch mit
Brechtscher Kapitalismuskritik beschäftigen? Das
Problem: Keiner von uns wollte seine zentralen politischen und künstlerischen
Ziele verraten und wendehalsig zur Fraktion der zwanghaften Schenkelklopfer überlaufen.
Also mußten wir nach anderen Möglichkeiten suchen, um dem elitären Bildungsgetto
zu entfliehen. Ich träumte damals von einer multifunktionalen", mehrfach
codierten" Kunst, die einerseits so einfach angelegt war, daß sie die
künstlerisch/philosophisch weniger gebildeten Massen erreichte, aber andererseits
auch komplexere, künstlerische/philosophische Informationen enthalten sollte,
an denen sich anspruchsvollere KonsumentInnen erfreuen könnten.
In
diesem Zusammenhang erinnerte ich mich auch wieder an das
alte "Maria-Syndrom"-Sujet,
das verglichen mit allen anderen Projektentwürfen, die zur Debatte standen,
mit Abstand am besten geeignet schien für die angestrebte künstlerische
Neuorientierung. Ja, schon die Grundaussage des Stücks schrie förmlich
danach, auf künstlerisch "primitivere" Weise
verarbeitet zu werden, denn: Könnte man der real existierenden Absurdität
religiöser
Glaubensvorstellungen künstlerisch adäquater begegnen als mit dem Entwurf
eines absurden, (scheinbar) niveaulosen (und daher massenkompatiblen) Comicstrips?
Würde nicht jede andere Form der künstlerischen Auseinandersetzung das
real existierende Niveau religiöser Bekenntnisse unangemessen überschreiten?
Unterstützt
von meiner damaligen Kabarettpartnerin Charlotte Karlstedt
machte ich mich an die Arbeit und nach und nach wurde aus
dem Fragment Maria-Syndrom" ein
bizarrer musikalischer Comicstrip, der ein wenig an die humorvolle
Extravaganz des amerikanischen Komponisten und Rockmusikers Frank Zappa
und der britischen
Comedytruppe Monty Python erinnerte.
Ich hatte mir das Ziel gesetzt, die Haupthandlung
des Comicals so plakativ zu gestalten, daß wir uns der Begeisterung
pubertierender Jugendlicher ebenso gewiß sein konnten wie der Entrüstung
verknöcherter Kirchenfürsten.
Um nichts dem Zufall zu überlassen, wurde die Grundrichtung der Story
schon im Prolog als "obszön und geschmacklos" angekündigt: "OBSZÖN,
weil sie unter die Gürtellinie zielt und GESCHMACKLOS, weil sie eben
dadurch jenen sogenannten "guten Geschmack" verfehlt, welcher
bekanntlich in höheren
Regionen sein vertrocknetes Dasein fristet."
Von
Anfang an war klar, daß das "Maria-Syndrom" in
Gefahr geraten könnte, mit dem Zensurparagraphen 166 zu
kollidieren. Das aber machte gerade den besonderen Reiz
des Projekts
aus. Ich nahm mir vor, das Stück so zu konzipieren, daß es
einerseits die satirische Kritik an religiöser Geistesverzwergung
auf die Spitze trieb, aber andererseits bei genauerer Betrachtung
(!!) den Zensoren keine Möglichkeiten bot, um tatsächlich
im Sinne des §166 StGB einzuschreiten. (4) Mit anderen
Worten: Ich versuchte das Prinzip der "Mehrfachcodierung" nicht
nur auf ästhetische Formfragen anzuwenden (z.B. auf die
Konzeption der Musik, bei der ich gängige Rock-Grooves
u.a. mit Barock-Rezitativen und Clusterbildungen der Neuen
Musik kombinierte), sondern auch auf den Umgang mit der
stets lauernden Gefahr eines Verbots auf der Basis des
alten Gotteslästerungsparagraphen. Will sagen: Auf der
einen Seite sicherte ich das Stück gewissenhaft gegen alle
möglichen Ansatzpunkte für Zensurbestrebungen ab, auf der
anderen Seite aber gab ich den meist unreflektiert wahrnehmenden,
christlichen FundamentalistInnen all jene Schlüsselreize,
die sie brauchten, um reflexartig um sich zu schlagen.
Von dem "unsichtbaren Theaterstück", das ich
dank der so gesicherten "Mitarbeit" christlicher
FundamentalistInnen um die eigentliche Musiktheaterproduktion
herum inszenieren
wollte, erhoffte ich mir zweierlei: Erstens sollte hierdurch
die Aufmerksamkeit auf das Stück gelenkt werden. Zweitens
gefiel mir die Vorstellung, daß das "Theater um das Theater" selbst
als Lehrstück wirken könne, denn ich hatte die (zugegebenermaßen
etwas naive) Hoffnung, daß die liberal denkenden Bevölkerungskreise
aufgeschreckt würden durch das Sichtbarwerden der ansonsten
meist im Verborgenen wirkenden christlich-fundamentalistischen
Fraktion.
Heiliger
Zwang und politisches Kalkül: Es lebe die Zensur!
Im
Mai 1994 liefen die Vorbereitungen für die für den 28.5.
angekündigte Uraufführung des Maria-Syndroms" auf
Hochtouren. Die MusikerInnen der Flying Toilet Seats" (so
der Name der hervorragend besetzten Band, die wir eigens
für die Produktion zusammengestellt hatten) probten, was
das Zeug hielt. Die Spannung stieg - nicht nur im Ensemble,
sondern auch in der Öffentlichkeit.
Bereits Anfang Mai waren die ersten Beschwerdebriefe bei der Stadt eingegangen.
Grund: die schwangere Nonne, die auf den großformatigen Maria-Syndrom"-Plakaten
mit sanftem Lächeln für die bevorstehende Uraufführung warb. Ich verschärfte
den Druck ein wenig, indem ich mit der I.R.A. (der damals spontan gegründeten Initiative
für religiöse Abrüstung") am Pfingstsonntag vor dem
Trierer Dom erschien, religionskritische Aufsätze und vegetarische Hostien
(kein Heiland drin") verteilte und den Domvorplatz scherzhaft zur religionsfreien
Zone" erklärte (ein viel diskutiertes Happening, das damals von einigen
wohlgesonnenen KirchenbesucherInnen als spannendes Pfingsterlebnis" empfunden
wurde und bundesweit positives Medienecho fand).
Das Bistum Trier war allerdings von der Aktion weit weniger
begeistert (5) und reagierte panisch. Drei Tage später, am 25.5., stellte es Antrag
auf präventives Eingreifen zur Verhinderung einer Straftat", wobei mit Straftat" nichts
anderes als die Uraufführung des Maria-Syndroms" gemeint war. So
lächerlich und juristisch unhaltbar die Begründung dieses eilig aufgesetzten
Antrags auch war, er zeigte Wirkung: Am 27.5.1994, also einen Tag vor der geplanten
Uraufführung, wurde die öffentliche Darbietung des Maria-Syndroms" vom
Trierer Ordnungsamt unter Androhung von Polizeigewalt verboten, weil angeblich
die Gefahr bestünde, daß die Schutzintentionen des §166 StGB verletzt würden.
Daß die öffentlichen Stellen vor einer solch ungeheuren Zensurmaßnahme nicht
zurückschreckten (man muß sich vergegenwärtigen, daß keiner der Zensoren das
Stück auch nur ansatzweise kannte!!), kann nicht allein mit der Macht erklärt
werden, die die katholische Kirche in der altehrwürdigen Bischofsstadt Trier
besitzt. Mindestens ebenso ausschlaggebend waren hier zwei weitere Gründe,
nämlich
1. die Mitgliedschaft des direkt verantwortlichen Politikers, Herrn Bürgermeister
Dr. Neuhaus, im christlich-fundamentalistischen Geheimorden Opus Dei"
2. die wahltaktischen Überlegungen der Christlich Demokratischen Union.
Welches
Interesse hatte das Opus Dei am Verbot des "Maria-Syndroms"?
Herr Dr. Neuhaus, dem u.a. das Trierer Ordnungsamt untersteht,
war und ist als Numerarier (Vollmitglied) von Opus Dei
prinzipiell nicht nur zu Armut (sein Bürgermeistergehalt
dürfte in die Taschen des Ordens fließen) Bußgürteltragen
(2 Stunden täglich!) und harter Selbstgeißelung (in der
Regel mindestens eine halbe Stunde wöchentlich!) verpflichtet,
sondern auch dazu, alles Mögliche im Sinne einer Rechristianisierung
der Gesellschaft zu unternehmen. Hierzu
heißt es in einer internen Opus Dei-Schrift: "Wir
haben den großen Ehrgeiz, die Institutionen der Völker,
der Wissenschaft, Kultur, Zivilisation, Politik, Kunst
und sozialen Beziehungen zu heiligen und zu christianisieren.
Alles sollte christlich sein als ein kollektiver gesellschaftlicher
Ausdruck des Glaubens des Menschen und als ein Werkzeug,
Seelen zu retten, sie in ihrem Glauben zu erhalten und
zu Gott zu führen" (6)
Der
Hitler- und Franco- freundliche Gründer des Opus Dei, Josemaria
Escriva, ließ keinen Zweifel daran, daß es im Notfalle,
also falls es mit der freiwilligen Christianisierung einmal
nicht so richtig klappen sollte, angebracht ist, "heiligen
Zwang" einzusetzen. Seine Begründung: "Um
ein irdisches Leben zu retten, wendet man unter dem Beifall
aller jede mögliche Gewalt an, um den Menschen vom Selbstmord
zurückzuhalten. - Sollen wir nicht den gleichen Zwang anwenden,
den heiligen Zwang, um das Leben vieler zu retten, die
idiotischerweise unbedingt den Selbstmord ihrer Seele verüben
wollen?" (7)
Es
ist einsichtig, daß Bürgermeister Neuhaus mit der Anordnung
des Maria-Syndrom"-Verbots nichts anderes getan
hat, als diesen Worten seines geliebten Vaters" Escriva
zu gehorchen. Er wendete heiligen Zwang" an.
Und er tat dies sicherlich mit bestem Gewissen, denn er
war damals (und ist natürlich auch heute noch) davon überzeugt,
daß Zensur ein legitimes Mittel ist, um zu verhindern,
daß Menschen vom richtigen, nämlich christlichen, oder
genauer: streng katholischen Weg abkommen.
Genaugenommen ist für Neuhaus ein Leben ohne Zensur überhaupt nicht vorstellbar,
denn innerhalb des Opus Dei ist Zensur an der Tagesordnung. Hierzu heißt es
in einer internen Schrift, dem sogenannten "Vademecum für die örtlichen
Räte": "Konkret
darf man ohne die notwendige Erlaubnis nicht lesen: die
Bücher, die von der zuständigen kirchlichen Behörde ausdrücklich
verworfen sind; die Bücher und Artikel von nicht-katholischen
Autoren, die ausdrücklich religiöse Themen behandeln, es
sei denn, sie enthalten mit Gewißheit nichts gegen Glaube
oder Sitten; die Schriften, die im Widerspruch zum Glauben
und zu den Sitten stehen; [...]die Bücher, die zwar nicht
ausgesprochen antikatholisch, häretisch, unmoralisch usw.,
aber doch zweideutig und verwirrend (und darum gefährlich)
im Hinblick auf Glauben und Moral sind." (8)
Aber
selbstverständlich bergen nicht nur Bücher Gefahr für die
Einheit von Glauben und Moral, auch in persönlichen Briefen
können sich natürlich auch immer wieder Passagen einschleichen,
die für Verwirrung sorgen könnten. Darum greift die jeweilige örtliche
Opus Dei - Führung auch hier liebevoll zensierend ein: "Leute,
die dem Werk erst kurz angehören, sind dankbar, wenn die
Mitglieder des Örtlichen Rats die Lektüre der an sie gerichteten
Briefe wohlwollend übernehmen - dies gehört zur Aufgabe
der Formung -, denn so können sie ihnen Orientierung, Hilfestellung
und den geeigneten geistlichen oder apostolischen Rat geben." (9)
Widerspruch
gegen solche Zensurregelungen ist selbstverständlich nicht
erlaubt, Kritik im höchsten Maße angstbesetzt, denn - wie
das ehemalige Mitglied Steigleder betont - : Zu
der Ausbildung des Opus Dei gehört neben vielem anderen
die Vermittlung großer Angst vor ewiger Verdammnis und
Hölle. (...) Wer (...) den sicheren Weg des Gehorsams im
Opus Dei, wer seine Berufung verläßt, begibt sich in eine
große Gefährdung, in die Gefahr ewiger Verdammnis. Er gibt
einen sicheren Weg auf und beginnt höchst unsichere und
heikle Wege zu beschreiten." (10)
Kommen
wir nun zu den wahltaktischen Überlegungen der CDU:
Dr. Neuhaus wurde in seinen Verbotsbestrebungen unterstützt durch seine christlich
demokratischen Parteikollegen, die ihr erfolgreiches Eingreifen im Fall Maria-Syndrom" geschickt
im Wahlkampf einsetzten. (SPD-PolitikerInnen sagten nach der Wahl, daß ihr
schlechtes Ergebnis in der Region Trier zum Teil auch auf den Skandal um das Maria-Syndrom" zurückzuführen
sei.)
Daß nicht unerhebliche Teile der Bevölkerung positiv auf die Zensurmaßnahme
reagierten, ist nicht allein auf die u.a. von Fromm und Adorno belegte autoritäre
Charakterstruktur vieler BürgerInnen zurückzuführen. Berücksichtigt werden
muß darüber hinaus auch der unter postmodernen, unübersichtlichen, wertunsicheren
Verhältnissen notwendigerweise intensiver werdende Wunsch nach klaren, übersichtlichen,
ethisch wie juristisch verbindlichen Werten. Viele Menschen sind von den permanenten
Wandlungsprozessen in unserer Gesellschaft schlichtweg überfordert. Sie kleben
zwanghaft an der Scholle ihrer eigenen Vergangenheit und verteidigen ihr angestammtes
kulturelles Getto verzweifelt gegen das vermeintlich Feindliche, das sie hinter
allem Fremden" vermuten.
ZensorInnen haben es unter solchen Rahmenbedingungen leicht. Sie müssen nur
die richtigen Infohäppchen zum richtigen Zeitpunkt in die Medien bringen. Wer
das richtige Timing besitzt, der hat die Schlacht schon fast gewonnen.
Und zumindest dies muß man den Trierer ZensorInnen bescheinigen: Der Zeitpunkt
des Maria-Syndrom" Verbotes war vom Timing her optimal gewählt:
ein Tag vor der geplanten Uraufführung und knapp eine Woche vor den Kommunalwahlen.
Zufall? Unwahrscheinlich, denn die Tatsache, daß die Ordnungsverfügung zu diesem
strategisch günstigen Zeitpunkt erfolgte, kann nicht darauf zurückgeführt werden,
daß die Stadt erst zu diesem Zeitpunkt von dem Stück erfahren hat. Schon Monate
zuvor hatte es u.a. wegen Finanzierungsfragen zahlreiche Gespräche mit Vertretern
der Stadtverwaltung und der Landesbehörden gegeben.
Die
ZensorInnen bewiesen übrigens ein zweites Mal erstaunliches Gespür für
Timing: Nach einer Sendepause von knapp zwei Jahren tauchte das Thema Maria-Syndrom" 1996
wieder einmal passend zur Wahlkampfzeit in den Medien auf. Das Maria-Syndrom"-Urteil
des Verwaltungsgerichts Trier war noch gerade rechtzeitig ergangen, um in der
Schlußphase des rheinland-pfälzischen Wahlkampfes Stimmung für die Konservativen
zu machen. Dabei wurde das Urteil von der Pressestelle des Gerichts umgehend
an die Medien gemeldet und mit großem Tamtam verbreitet. Ich selbst erfuhr
die Entscheidung aus der Presse...
Die
Zeitschrift MIZ kommentierte die damaligen Vorgänge folgendermaßen:
"Die
Begleitumstände des Verfahrens legen es [...] nahe,
hier eine korrupte politische Justiz am Werke zu sehen.
[...]
Da die Absicht, Wahlkampfhilfe zu leisten, den Urteilsspruch
allzu offensichtlich motiviert hat, dürfte er in der
angekündigten
Revision auch nur schwerlich Bestand haben." (11) So
stimmig diese (von mir damals geteilte) Analyse auch
war, unsere Erwartung, die Revision würde Licht ins juristische
Schattenspiel bringen, wurde nicht erfüllt. Unser Fehler:
Wir bauten auf den sogenannten "gesunden Menschenverstand" und
vernachlässigten dadurch fahrlässig eine entscheidende
Größe im gesamten Zensurspektakel, nämlich die geradezu
abenteuerlich anmutende Scheuklappenblindheit der zensierenden
OrdnungshüterInnen.
Alle
Klarheiten beseitigt: Justitia fischt im Trüben
Um
es klarzustellen: Der eigentliche Skandal im Fall Maria-Syndrom" war
nicht das vom Stadtvorstand beschlossene und vom Ordnungsamt
verfügte Verbot (angesichts der weltanschaulichen Beschränktheit
der verantwortlichen Politiker mußte man mit einer solchen
Reaktion rechnen), sondern das totale Versagen der JuristInnen,
die über die (Un-) Rechtmäßigkeit dieser Zensurentscheidung
zu urteilen hatten. Erschreckend geradezu die Klarheit,
mit der sich die gedankliche Unklarheit der RichterInnen
in den Urteilen manifestierte. Wie sehr Heinrich Heine
doch den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, als er - siehe
Titel! - darauf hinwies, daß sich die zensierenden Ordnungshüter
in der Regel nicht nur durch konservative Gesinnung auszeichnen,
sondern auch durch bemerkenswerte intellektuelle Unschärfen
(um es einmal etwas freundlicher zu formulieren...)!! (12)
Werfen wir, um dies zu untermaueren, einen Blick in das
letzte, vom OVG Rheinland-Pfalz
ergangene Urteil in Sachen "Maria-Syndrom" (13):
Das
OVG Rheinland-Pfalz kommt in seinem Urteil
vom 13.12.1996 zu dem Ergebnis, daß das Maria-Syndrom" gegen
die Bestimmungen des §166 StGB verstößt, weshalb das 1994
erfolgte Verbot der Uraufführung des Bühnenstücks rechtens
sei.
Die Argumentation der Koblenzer RichterInnen vollzieht sich dabei in drei Schritten:
(1) Sie stellen fest, daß das Maria-Syndrom" den Inhalt des
christlichen, insbesondere des katholischen Bekenntnisses, nämlich Grundlehren
und Glaubensregeln angreift, indem Jungfrauengeburt, Maria, Jesus und Gott
angesprochen sind, und [...] auch beschimpft werden" (14)
(2) Sie legen dar, daß mit dem Maria-Syndrom" [...] das Bekenntnis
anderer im Sinne des § 166 Absatz 1 StGB beschimpft" wird (Hier
geht es vor allem um die Form der Darstellung.) (15)
(3) Sie zeigen auf, daß die in Punkt (2) dargelegte Beschimpfung geeignet ist,
"den öffentlichen Frieden zu stören" . (16)
Untersuchen
wir nun die Stichhaltigkeit dieser dreistufigen Argumentation.
Um mit dem ersten Punkt zu beginnen: Stimmt der Vorwurf,
im rahmen des "Maria-Syndroms" würden christliche
Inhalte, christliche Glaubensfiguren direkt angesprochen
und beschimpft?
Im
Rahmen der Verhandlung hatte ich mit allem Nachdruck darauf
hingewiesen, daß die Bühnenfiguren Ann-Marie und Me-Ti (siehe die obige Zusammenfassung
der Handlung) auf keinen Fall mit den biblischen Gestalten Maria und Jesus
zu verwechseln sind. Die RichterInnen des OVG aber glaubten, das Stück besser
verstanden zu haben als sein Autor. Deshalb versuchten sie, im Rahmen ihrer
Urteilsbegründung darzulegen, daß der Einwand des Autoren angesichts
der Inhalte des Stücks [...] nicht nachvollziehbar" sei. (17)
Ihr
wichtigster Beleg für die Deutung (Ann-Marie = biblische
Maria) ist dabei eine Stelle aus dem zweiten Akt des Stücks.
Dort führt der (insgesamt recht
unsympathisch gezeichnete) Psychoanalytiker Henry Boys aus: "In
der Geschichte gab es - wenn ich mich nicht irre - nur
einen einzigen, auch nur annähernd ähnlich struktu-rierten
Fall. Vor knapp zweitausend Jahren. Da stand nämlich die
heilige Jungfrau Maria höchstpersönlich vor einer ähnlich
prekä-en Situation. Ihr gelang es damals ihren wohl reichlich
naiven Freund Josef davon zu überzeugen, daß ihre Schwangerschaft
göttlichen Ursprungs sei. Ich möchte also - wenn Sie es
mir erlauben - bezüglich Ihres Leidens von einer Art "MARIA-SYNDROM" sprechen." (18)
In
der Tat wird hier - völlig untypisch für das gesamte Stück!
- direkt von biblischen Gestalten gesprochen. Doch: Kann
diese Stelle wirklich in dem Sinne gedeutet werden, daß Ann-Marie
und Maria ein und dieselbe Person sind?
Jeder Mensch mit halbwegs klarem Kopf dürfte diese Frage vehement verneinen,
denn gerade in dieser Passage wird ja explizit ausgesprochen, daß Ann-Marie
und Maria zwei verschiedene Personen sind, die zu völlig verschiedenen Zeitpunkten
leben (Vor knapp zweitausend Jahren"). Ann-Marie und Maria sind
also auf keinen Fall identisch.
Allerdings:
Es stimmt, daß hier ein Vergleich zwischen Ann-Marie und
biblischer Maria gezogen wird. Aber auch dies hat - wie
leicht zu erkennen ist - wenig
blasphemischen Charakter. (19) Vergegenwärtigen wir uns hierzu die Situation,
in der es zu diesem Vergleich kommt: Der Psychoanalytiker Boys ist konfrontiert
mit einer schwangeren Frau, die nach eigenem Bekunden niemals Sexualkontakt
mit einem Mann hatte. Dies ist die "prekäre Situation", von der
der wenig einfühlsame Boys im obigen Zitat spricht, und die er mit der Situation
Mariens vergleicht. Boys benutzt dabei den christlichen Marien-Mythos als
Kennzeichnung
der bei Ann-Marie angeblich vorliegenden Psychopathologie - ähnlich wie Sigmund
Freud auf den griechischen Ödipus-Mythos zurückgegriffen hat, um seine Theorie
des Ödipuskomplexes zu verdeutlichen. Dabei bezieht sich die von Boys vorgenommene
Beschreibung des "Maria-Syndroms" - wie aus dem Text leicht zu ersehen
ist - nur auf Ann-Marie, nicht auf die biblische Maria. Auch hier die Parallele
zu Freud: Seine Beschreibung des Ödipuskomplexes kann ja auch nicht auf die
mythologische Ödipusgestalt bezogen werden, denn Ödipus war ja zum Zeitpunkt
seiner eigenen "ödipalen Phase" von Vater und Mutter getrennt.
Ein
anderer Einwand gegen die oben zitierte Passage: Ist die
Boys´sche Rede von dem wohl reichlich naiven Freund
Josef" nicht eindeutig im Sinne einer böswilligen
Beschimpfung des Christentums aufzufassen?
Auch hier muß mit einem klaren Nein!" geantwortet werden, denn man
muß ja grundsätzlich differenzieren zwischen der Äußerung einer Bühnenfigur
und den Überzeugungen eines Autors bzw. den Grundaussagen seines Stücks. Will
heißen: Es ist - auch wenn dies eine in der Geschichte der Zensur immer wieder
angewandte Strategie ist - nicht legitim, die Äußerungen einer Bühnenfigur
als direkte Äußerung des Autors zu interpretieren, insbesondere nicht, wenn
es sich um eine Bühnenfigur handelt, die mit all ihren Deutungen und Kommentaren
so völlig an der Wahrheit vorbeizielt, wie dies im Fall der Figur des Psychoanalytikers
Boys leicht zu beobachten ist.(20) Schließlich ist Ann-Maries Unkenntnis
bezüglich der Ursachen ihrer Schwangerschaft nicht - wie Boys glaubt - auf
eine Amnesie (traumatische Verdrängung) zurückzuführen, sondern auf die in
der Tat höchst ungewöhnlichen Bedingungen der Befruchtung. Ja, schlimmer noch:
Der offenkundig unfähige Boys löst durch seine unsensiblen Darlegungen erst
das eigentliche Maria-Syndrom" bei Ann-Marie aus, denn erst nachdem
der Analytiker seine Ausführungen beendet hat, (miß-)versteht sich Ann-Marie
als Reinkarnation Mariens (ähnlich wie sich andere psychisch gestörte Menschen
z.B. als Reinkarnationen Napoleons verstehen)!
Wir sehen: Erst nachdem Ann-Marie von ihrem Arzt gewissermaßen in den Wahnsinn
getrieben wurde, kommt es - vereinzelt - zu einer Parallelität von Comical-Handlung
und biblischer Geschichte. Diese Parallelität ist aber - beim besten Willen!!
- NICHT im Sinne einer direkten Parodie der biblischen Geschichte zu verstehen,
sondern als comic-hafte Nachzeichnung der tragisch-komischen Geschichte einiger
psychisch kranker Menschen, die sich in ihrem Wahn FÄLSCHLICHERWEISE als
Reinkarnationen biblischer Gestalten verstehen.
Deshalb ist klar: Wenn Ann-Marie mit erregter Stimme verkündet, dazu bestimmt
zu sein, den Heiland, den Erlöser zu gebären", so ist dies - selbstverständlich!
- nicht im Sinne einer wie auch immer gearteten Identität von Ann-Marie und
Marie zu verstehen, sondern als Ausdruck der durch die Fehlleistung eines Therapeuten
erzeugten Wahnidee einer psychisch kranken Frau...
Kurzum:
Eigentlich dürften nur hochgradig unaufmerksame (oder begriffsstutzige?)
RezipientInnen dem Gedanken verfallen, im Maria-Syndrom" würden
biblische Figuren direkt beschimpft. Pointiert formuliert: In jedem Sextaneraufsatz
hätte es empfindliche Punktabzüge gegeben, wäre man dort zu einer ähnlich
absonderlichen Textinterpretationen gelangt wie die RichterInnen des OVG
in ihrer Interpretation
des Maria-Syndroms". Und
dabei hatte ich eigentlich gedacht, es gerade literarisch
weniger geübten
Hobbyexegeten besonders leicht gemacht zu haben. Schließlich heißt es
doch ziemlich unmißverständlich im ersten Satz des Stückes: "Das
folgende Stück handelt NICHT von dem jüdischen Rebellen
Jesus von Nazareth, der vor knapp 2000 Jahren von der römischen
Besat-zungsmacht hingerichtet wurde, allenfalls von den
Mechanismen, die diese historische Gestalt zur Gottheit
ERNIEDRIGTEN, und damit das Fundament legten für eine der
größten Verbrecherorgani-sationen der Menschheitsgeschichte."
Bezeichnenderweise
hat das OVG nur den zweiten Teil dieses Satzes zitiert,
den ersten Teil aber vorsorglich unterdrückt. Dabei hätte
gerade dieser Satz in seiner Gesamtheit den RichterInnen
helfen können, das Stück zu verstehen und den in der Tat
vorhandenen, von mir selbstverständlich auch niemals geleugneten,
religionskritischen Bezug des Stückes zu erfassen:
Im Maria-Syndrom" geht es nämlich tatsächlich um eine scharfe Kritik
der Religion. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine spezielle, sondern
um eine allgemeine Form der Religionskritik. Und eben deshalb handelt das Stück
auch nachweislich nicht von Jesus, Maria und Josef, es handelt nicht einmal
vom Christentum im Speziellen, sondern - wie der oben zitierte Vorspruch bereits
verdeutlicht - einzig und allein von den MECHANISMEN, die verantwortlich sind
für die Entstehung von Religion und - damit zusammenhängend - für die barbarischsten
Greueltaten der Menschheitsgeschichte (21) (incl. des Nationalsozialismus (22)
).
Mit
anderen Worten: Es handelt sich hier - auch wenn man dies
von einem, auf den ersten Blick nicht besonders anspruchsvoll
erscheinenden Comicstrip möglicherweise
nicht erwartet (gerade das ist ja der Gag!) - um eine Art Metakritik der Religion
(im Allgemeinen) und nicht um eine Kritik (geschweige denn einer Beschimpfung)
spezieller religiöser Glaubenssätze und -überzeugungen. Deshalb wird auch der § 166
StGB durch das Maria-Syndrom nicht tangiert, denn dieser Paragraph schützt
ja nur spezielle Glaubensüberzeugungen. Das bedeutet: Die Maria-Syndrom" erfolgte
satirische Auseinandersetzung mit den allgemeinen Voraussetzungen, auf denen
sich die speziellen religiösen Glaubenssätze und -überzeugungen gründen, kann
durch Anwendung dieses Paragraphen nicht beanstandet werden.
Kommen
wir nun zum zweiten Punkt der richterlichen Argumentation:
Hier behaupten die RichterInnen, daß die christlichen Inhalte im Maria-Syndrom" nicht
nur konkret angesprochen werden, sondern daß dies auch noch in einer Form geschieht,
die jeglichen Ansatz zu konstruktiver Kritik vermissen läßt. Obwohl sich dieser Punkt durch die obigen Ausführungen eigentlich von selbst
erledigt, sollten einige gedankliche Entgleisungen, die den RichterInnen hier
unterlaufen, nicht unerwähnt bleiben.
Höchst skurril zum Beispiel die Behauptung der RichterInnen, sie könnten den
Gesamteindruck des Stücks adäquat einschätzen - und zwar incl. der Art
und Weise der Aufführung" (23)!! Heißt das, daß die Koblenzer RichterInnen
paranormale Fähigkeiten besitzen, die die offensichtlich gewordenen,
mentalen Unschärfen wettmachen können - oder wie, um alles in der Welt, ist
ihnen sonst gelungen, einen Eindruck von der Art und Weise der Aufführung" zu
bekommen, ohne das Stück jemals - auch nur in Fragmenten! - gesehen oder
gehört zu haben (es wurde ja vorsorglich vor der Uraufführung verboten!!)?
Was
das Verständnis der formalen Anlage des Stücks betrifft, so muß festgestellt
werden, daß die RichterInnen kaum eine der vielen künstlerischen und philosophischen
Anspielungen entdeckt bzw. begriffen haben, was die Qualität ihrer ohnehin
kläglichen Textinterpretation zusätzlich mindert. So war ihnen z.B. nicht bewußt,
daß der Name Me-Ti (Name der tragisch-komischen Hauptperson des 3.Aktes) nicht
an den jüdischen Rabbi Jesus von Nazareth, sondern an den alten chinesichen
Philosophen Mo-Ti erinnert, der bereits 400 Jahre vor Christus von der Notwendigkeit
universeller Menschenliebe sprach. Darüber hinaus war die Figur des Me-Ti auch
eine Art augenzwinkernde Reminiszenz an die Zeit, in der ich mehr oder weniger
vergeblich versucht hatte, dem Publikum die unbequemen, aber dennoch eminent
wahren, dialektischen Weisheitsgedichte des späten Brecht nahezubringen, denn
schon Brecht hatte jenen alten chinesischen Philosophen wieder zum Leben erweckt.
(24) Aus dieser Parallele erklärt sich übrigens auch der an Brecht erinnerte
Duktus der Worte, die Me-Ti am Anfang des 3. Aktes spricht:
Mißtraut
denen, die da sagen
Daß Gott auf ihrer Seite steht
Sie sind nur so nah ihrem Gott,
Weil sie so fern dem Menschen sind.
Das jenseitsgetrübte Auge
Es übersieht allzu gerne
Das Unrecht im Diesseits!
Ihm verklärt sich
Das Leid zur Freude,
Das Verbrechen zur Heldentat,
Das Joch zum Siegessymbol..."
Es
dürfte niemanden verwundern, daß diese Passage in der Urteilsbegründung
nicht zitiert wurde, obwohl sie - deutlicher als jede andere
Stelle - die religionskritische Ausrichtung des Stücks
widerspiegelt. (Der Grund hierfür ist leicht einsichtig,
hätte das Zitieren dieser Passage in der Urteilsbegründung
doch das Märchen von der angeblich allgegenwärtigen Sexual-
und Fäkalsprache entlarvt, das die RichterInnen mühsam
konstruiert haben, um behaupten zu können, daß im "Maria-Syndrom" Darstellungen
aus dem Sexual- und Fäkalbereich ?möglicherweise vom Autor
beabsichtigte kritische Ansätze völlig überlagern" (25).
Ziehen
wir - statt weiterer Ausführungen zur Frage der künstlerischen
Form - an dieser Stelle ein erstes Fazit:
Daß die RichterInnen im Maria-Syndrom" nur eine bloße Verächtlichmachung
christlicher Glaubensvorstellungen" (26) ohne jeden Ansatz zu gerechtfertigter
Kritik sehen konnten, ist weniger auf das Stück selbst als auf schwerwiegende
analytische Defizite der RichterInnen zurückzuführen, die bedauerlicherweise
weder den Inhalt des Stücks korrekt verstanden haben, noch die vielfältigen
Qualitäten und Anspielungen auf formaler, künstlerischer Ebene.
Dies aber wirft spannende, prinzipielle Fragen auf, z.B.:
Müssen KünstlerInnen
die Zeche zahlen für die strukturell bedingte Borniertheit der staatlichen OrdnungshüterInnen?
Sind sie haftbar zu machen, wenn OrdnungshüterInnen den Konsensus der Dummheit
zur allgemeinen Richtschnur der juristischen und künstlerischen Beurteilung
erheben? Müssen wir - um dies polemisch auf die Spitze zu treiben - befürchten,
daß irgendwann einmal KünstlerInnen unter Quarantäne gestellt werden, nur weil
OrdnungshüterInnen unter Polyphonie" fälschlicherweise eine ansteckende
Viruserkrankung vermuten?
Spaß beiseite, das Problem ist ernst genug: Ich denke, daß es für unsere Demokratie
alles andere als vorteilhaft ist, wenn BürokratInnen aus der Not ihrer Unbildung
eine Tugend machen und mit unnachahmlicher deutscher Ignoranz alles zu Schund
erklären, was ihren eigenen, engen, bürgerlichen Maßstäben nicht entspricht.
Sollten wir dies zulassen, so steigt auch wieder die Gefahr, daß Polizeigewalt
entscheidet, was artige und was ENTARTETE Kunst ist...
Nun
zum letzten Punkt der Urteilsbegründung: Um das nachfolgende
etwas spannender zu gestalten, wollen wir kontrafaktisch
annehmen, die Argumente der RichterInnen bezüglich der
Punkte (1) und (2) seien stimmig gewesen. Wir unterstellen
also spaßeshalber, daß das Maria-Syndrom" tatsächlich
christliche Glaubensinhalte in einer besonders rohen, unkritischen
und unflätigen Weise beschimpfen würde. Wäre hierdurch
- und dies wird ja von den RichterInnen behauptet - der öffentliche
Frieden gefährdet?
Wer stört hier den öffentlichen Frieden?!
An
dieser Stelle kann ich nur wiederholen, was ich bereits
in meiner Stellungnahme vor Gericht dargelegt habe:
Die Vorstellung, daß der öffentliche Friede durch
die Aufführung eines musikalischen Comicstrips gefährdet sei, kann man mit
Fug und Recht als fundamentalistische Wahnidee verstehen. Einer korrekten
wissenschaftlichen Wirkungsanalyse würde eine solche Behauptung niemals standhalten.
Aber leider ist die Argumentation des OVG in diesem Punkt nicht nur ähnlich
unscharf wie in den vorangegangenen Punkten. Nein, hier kommt zum Tatbestand
der intellektuellen Unredlichkeit auch noch ein Schuß juristische Perversität
hinzu, denn die RichterInnen versteigen sich tatsächlich zu der Behauptung,
daß die Tatsache, daß von christlich fundamentalistischer Seite Morddrohungen
gegen MICH ausgestoßen wurden, ein Beleg dafür sei, daß MEIN Stück den öffentlichen
Frieden stört!!
Der Logik dieser Argumentation folgend müßten wir auch Salman Rushdie schuldig
sprechen, weil er die iranischen Machthaber dazu reizte, den Mordbefehl zu
geben! Gleichermaßen wäre auch Giordano Bruno zu beschuldigen, denn hätte er
seine Naturphilosophie nicht veröffentlicht, wäre er nie auf dem Scheiterhaufen
der Inquisition gelandet...
Kurzum:
Es handelt sich hier um eine skandalöse Verdrehung von
Tatsachen! Denn wenn hier jemand zur Rechenschaft gezogen
werden müßte, so bestimmt nicht die
KritikerInnen, die sich allein auf die Kraft ihrer Argumente und Worte
stützten,
sondern einzig und allein die bigotten Schwärmer, die - geschichtlich reich
dokumentiert - allzu häufig nur nach einer Maxime handeln, und die lautet:
Du wirst dran glauben oder: Du wirst dran glauben!! Es ist daher an der Zeit, endlich die richtigen Fragen zu stellen: Wer
stachelt denn hier zum Haß an? Wer predigt Intoleranz und ruft nach Zensur? Wer stört
den öffentlichen Frieden? Man werfe zur Beantwortung dieser Frage einfach einen
Blick in die Statistik: Wieviele Tote gehen auf das Konto religionskritischer
Kunst, wieviele auf das Konto der Religion? Wieviele Menschen haben je eine
Veranstaltung hemmungslos blasphemischer KünstlerInnen mit dem festen Vorsatz
verlassen, Andersdenkende zu töten, und wieviele den gesitteten Gottesdienst?
Selbstverständlich
bedarf es keiner allzu großer argumentativer Anstrengungen,
um zu belegen, daß Religionen den öffentlichen Frieden
seit Menschengedenken weit mehr gestört haben, als religionskritische
KunstlerInnen dies je könnten.
Trotzdem wird kein aufgeklärter, kritischer Künstler jemals auf den Gedanken
kommen, Religionen verbieten zu wollen - und dies, obwohl die religiösen Urtexte
z.B. des Christentums - anders als das Maria-Syndrom"! - zum Teil
nur so strotzen vor Menschenverachtung und Intoleranz. (27)
Die
juristische Zurückhaltung kritischer KünstlerInnen liegt
nicht nur - wie man vielleicht vermuten könnte - in der
realen Hoffnungslosigkeit eines solchen Unterfangens begründet,
sondern vor allem darin, daß KünstlerInnen - im Gegensatz
zu fundamentalistisch Religiösen - von ihrem eigenen Anspruch her auf Offenheit,
Dialog, Interaktion setzen müssen und nicht auf Offenbarung, Zensur und Verbot.
Kunst braucht zu ihrer Entfaltung den Nährboden produktiver Auseinandersetzung,
sie schöpft ihre Kraft aus dem bunten Aufeinanderprallen von Lebensentwürfen,
aus dem ständigen Widerstreit von alt und neu. Kunst bedeutet Wechsel, Veränderung,
Erneuerung. Kunst, die nicht über sich und ihre Zeit hinausweist, verfehlt
ihren genuinen Auftrag.
Deshalb
ist Kunst stets auch Provokation. Sie muß anstößig sein, denn sie beansprucht,
Anstöße zu geben. Kunst versucht stets, den zeitbedingten Konsensus der Dummheit
aufzubrechen. Dies ist der Grund, warum KünstlerInnen aller Zeiten immer wieder
mit Zensur zu kämpfen haben.
Auf
dem Weg in die geschlossene Gesellschaft?
Nun,
da ich diese Zeilen schreibe, besteht das Verbot des Maria-Syndroms" seit
mehr als drei Jahren. Alle Versuche, das Verbot zu umgehen,
sind bislang gescheitert. (28) Es liegt nun in der Hand
der RichterInnen des Bundesverwaltungs- bzw. des Bundesverfassungsgerichts,
endlich dafür zu sorgen, daß es in absehbarer Zeit zu einer
Uraufführung des Maria-Syndroms" kommen kann.
Wie
gesagt: Juristische Gründe für ein Aufrechterhalten des Aufführungsverbots
gibt es nicht. Im Gegenteil! Das Verbot des Maria-Syndroms" war
von Anfang an Verfassungsbruch, denn auf dem Boden unserer Verfassung kann
nicht geduldet werden, daß zentrale Grundrechte (wie die Kunstfreiheit und
das Recht auf freie Meinungsäußerung und -bildung) eingeschränkt werden, obwohl
durch ihre Ausübung gleichrangige Rechtsgüter nicht bedroht sind. (Wohlgemerkt:
Durch die Aufführung des Stücks wäre niemand daran gehindert worden, seine
Religion auszuüben. Eine Beeinträchtigung hat lediglich in umgekehrter Richtung
stattgefunden, schließlich wurden wir daran gehindert, Kunst zu produzieren.)
So
offensichtlich die juristischen Tatbestände auch sind: Bisher folgten die
RichterInnen nicht dem klaren, freiheitlich geprägten Geist unserer Verfassung,
sondern der engen Stirn christlicher FundamentalistInnen. Will heißen: Sie
begingen Verrat an der produktiven Streitkultur der Aufklärung und machten
sich zu Handlangern von Leuten, die am liebsten mit heiligem Zwang" einen
antiaufklärerischen Gottesstaat errichten würden, in dem selbst Kants Kritik
der reinen Vernunft" der Zensur zum Opfer fiele. (29)
In
diesem Zusammenhang ist zu fragen, ob das leichtfertig-zensurfreundliche
Agieren der Maria-Syndrom"-RichterInnen nicht als adäquater
Ausdruck derzeitiger sozioökonomischer Rückwärtsbewegungen verstanden
werden muß, d.h.
als Symptom einer generellen Krisenerscheinung unserer Gesellschaft.
Steht uns - um dies weiterzuführen - vielleicht der Weg in eine geschlossene" Gesellschaft
bevor? Wird Zensur wieder zum probaten Mittel politischer Herrschaft?
Angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit des Establishments, produktiv auf
die tiefe kulturelle Zerissenheit und die überhand nehmenden sozialen Probleme
der Gesellschaft zu reagieren, ist dies zumindest nicht völlig auszuschließen.
Zwar hat es eine Zeit lang so ausgesehen, als sei der Wille zur Zensur in Deutschland überwunden,
doch seit einigen Jahren sind auch hierzulande restaurative Tendenzen deutlich
spürbar. Wie in Amerika so gibt es auch in unseren Breitengraden einen zunehmend
gefährlicher werdenden Machtzuwachs reaktionärer Kräfte, die nichts sehnlicher
wünschen, als der mühsam errungenen Kultur der Offenheit ein Ende zu
bereiten. Erschreckend in diesem Zusammenhang die Parallelen zur soziokulturellen
Situation Ende der zwanziger Jahre: Wieder einmal ist zu befürchten, daß sich die Bedingungen
für freie, offene Kultur unter dem Druck problematischer werdender Wirtschaftsverhältnisse
drastisch verschlechtern werden, daß Zensur gedeihen und staatlich verordnete
Dummheit boomen wird.
Ein Narr, wer dies nicht erkennt und nicht beizeiten
dagegen aufbegehrt, denn wie heißt es so schön -
oder besser gesagt: so schrecklich treffend? Wer
aus den Schrecken der Vergangenheit nichts lernt,
der ist dazu
verdammt, sie wieder zu erleben...
Anmerkungen:
(1)
vgl. Heinrich Heine: Das Buch Le Grand, Kapitel XII
(2) Eines der Hauptthemen meiner Dissertation Erkenntnis aus Engagement.
Grundlegungen zu einer Theorie der Neomoderne", die sich u.a. mit dem
Wechselspiel von Prämoderne, Moderne und Postmoderne beschäftigt.
(3) Kleist, Heinrich von: Erzählungen und Schriften. München 1986, S.33
(4) Freilich: An dieser Stelle machte ich den schwerwiegenden Fehler, die strukturell
bedingte Dummheit der zensierenden OrdnungshüterInnen massivst zu unterschätzen.
(5) Möglicherweise hat es ja dem Klerus nicht gefallen, daß ich die von Bischof
Spital in der Pfingstmesse angekündigte Heilig Rock-Ausstellung mit meiner
Vorankündigung einer Unterwäschekollektion der Menschheitsgeschichte" weit
in den Schatten stellte?!
(6) zitiert nach Hertel, Peter: Geheimnisse des Opus Dei. Freiburg i.Br. 1995
, S. 146
(7) ebenda
(8) a.a.O., S.139f.
(9) a.a.O., S. 141f.
(10) Steigleder , Klaus: Das Opus Dei. Eine Innenansicht. München 1995,
S. 258f.
(11) MIZ/Materialien und Informationen zur Zeit 2/96, S..32
(12) Um nicht mißverstanden zu werden: Es geht mir im folgenden nicht
um eine persönliche Kritik an den individuellen Fähigkeiten der Koblenzer RichterInnen,
sondern um das perfide System staatlich normierter, STRUKTURELLER DUMMHEIT,
ein System, das nicht nur RichterInnen immer wieder zwingt, in heiklen Angelegenheiten
ihre zweifellos vorhandenen, intellektuellen Fähigkeiten gekonnt vor
sich und der Welt zu verbergen...
(13) Immerhin: Die Koblenzer RichterInnen haben sich wenigstens noch
bemüht, eine halbwegs nachvollziehbare Argumentation zu entwickeln - anders
als ihre KollegInnen vom Verwaltungsgericht Trier, die in ihrer Urteilsbegründung
(sofern man dies überhaupt Begründung" nennen kann ) völlig hoffnungslos
im Dunkeln fischten.
(14) OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.12.1996, S. 8
(15) a.a.O., S. 9
(16) a.a.O., S. 12
(17) a.a.O., S. 8
(18) ebenda
(19) Zum Stichwort Blasphemie": Für einen Agnostiker wie mich
ist Gotteslästerung" - im Gegensatz zu religiös fixierten KritikerInnen
- nur wenig reizvoll. Dies machte ich auch vor Gericht deutlich, als mich die
RichterInnen fragten, ob die Erscheinung Gottes als geheimnisvoll illuminierte
Toilettenbrille" nicht als scharfe Form von Blasphemie zu bewerten sei.
Ich erwiderte, daß die sanitäre Gotteserfahrung" Me-Tis allein auf
den problematischen Geisteszustand der Hauptfigur zurückzuführen sei, daß ich
persönlich aber nicht zur illustren Schar derer gehören würde, die da behaupten,
daß Gott es vorzieht, in Gestalt einer Toilettenbrille zu erscheinen. (Gelächter
im Gerichtssaal) Ich fügte hinzu: Als Agnostiker mache ich gar keine
Aussagen über Gott (nicht einmal blasphemische), denn im Gegensatz zu Theisten
und (naiven) Atheisten maße ich mir kein Urteil darüber an, ob Gott existiert
oder nicht. Der Begriff Gott" hat für mich auf Erden nur deshalb
eine Bedeutung, weil Menschen ihn benutzen, um sich gegenseitig umzubringen,
oder etwas harmloser: um künstlerische Darbietungen zu verbieten."
(20) Um es klar zu machen: Im Gegensatz zur Bühnenfigur Boys gehe ich natürlich
nicht davon aus, daß der historischen Maria ein solch absonderlicher Gedanke
wie jungfräuliche Empfängnis" in den Sinn gekommen ist. Die Jungfrauengeburt
ist nachweislich Ausdruck einer nachträglichen Mystifizierung der historischen
Geschichte. Ohnehin kann der gesamte christliche Jesus-Mythos mit den historischen
Fakten kaum in Einklang gebracht werden (vgl. hierzu insbesondere die Werke
der jüdischen Jesus-Forscher Pinchas Lapide und Hyam Maccoby).
(21) Den prinzipiellen Zusammenhang von Religion und Inhumanität habe
ich in diversen wissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema Religion ausführlich
dargelegt. Historische Belege für die Inhumanität des Christentums im
Speziellen finden sich zu Genüge im Werk von Karlheinz Deschner.
(22) vgl. hierzu u.a. Ley/Schoeps (Hrsg.): Der Nationalsozialismus als
politische Religion. Bodenheim 1997.
(23) OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.12.1996, S. 9
(24) siehe Brecht, Bertolt: Me-Ti. Buch der Wendungen.
(25) OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.12.1996, S. S.9
(26) ebenda
(27) Erinnert sei hier nur an jene fürchterliche Passage im Matthäusevangelium
(Mt13,41-43), in der Jesus eine Art himmlisches Auschwitz für Ungläubige" ankündigt: Der
Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle
zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und
werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen
und mit den Zähnen knirschen." Übrigens: Nicht einmal zehn Verse später
findet sich noch einmal die gleiche, pyromanische Vorstellung von einer sauberen
Endlösung der Ungläubigenfrage. In Mt 13,49-50 werden die Engel abermals
mit der Selektion an der himmlischen Rampe beauftragt, wo sie die Bösen
von den Gerechten trennen und in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt",
so daß sie heulen und mit den Zähnen knirschen."
(28) Anfangs hatten wir gedacht, das mit der Verletzung religiöser Gefühle" begründete
Verbot mittels Clubveranstaltungen umgehen zu können. In diesem Fall hätte
das Publikum statt gewöhnlicher Eintrittskarten Mitgliedsausweise im Club
der Gefühllosen" erworben. Mitglied in diesem Club hätte nur werden können,
wer sich zumindest für die Dauer einer Maria-Syndrom"-Aufführung
von verletzbaren religiösen Gefühle befreien kann. (Für religiös bemäntelte
Clubmitglieder wollten wir eigens eine Garderobe für religiöse Restgefühle" einrichten.)
Als wir dann bei den für die Zensur verantwortlichen Stellen anfragten, ob
eine solche clubinterne, d.h. ansatzweise nichtöffentliche Aufführung des Stücks
möglich wäre, erhielten wir jedoch eine abschlägige Antwort, so daß wir auch
diese Idee aufgeben mußten.
(29) Dies ist keine polemische Überspitzung: Kants Werk stand bis zuletzt auf
dem Index Romanum, der für katholische Christen verbindlichen Liste der verbotenen
Bücher, die erst in Folge des II. Vatikanischen Konzils 1966 offiziell aufgegeben
wurde, was wiederum von Opus Dei & Co. scharf kritisiert wird
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