Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Vom Ehekäfig zum Intimnetzwerk?
Anmerkungen zur Politik der Geschlechter

erschienen in Aufklärung und Kritik 2/2001

Wir leben in bewegten Zeiten. Wohl nie zuvor in der Menschheitsgeschichte gab es eine solche Dynamik des Wandels. Das gilt nicht zuletzt auch für die sexuellen Verhältnisse. Der Geist des Kapitalismus, einst ein tugendbeflissener Vertreter protestantischer Ideale, ist zu einem wahren Draufgänger mutiert, der nicht nur einen möglichst freien Austausch von Waren, sondern auch von Körperflüssigkeiten erzwingt. Unter seinem Einfluß geraten althergebrachte Beziehungsmuster in arge Bedrängnis. Die bürgerliche Kernfamilie, einst die unantastbare Keimzelle des Staates, gerät mehr und mehr zum Auslaufmodell - der "heilige Bund der Ehe" wird nicht mehr geführt, "bis der Tod uns scheidet", sondern bis zum nächstmöglichen Termin des Scheidungsrichters.

Ich möchte im Rahmen dieses Aufsatzes die Gründe für diese Entwicklung skizzieren. Dabei werde ich zunächst die biologischen Fundamente des menschlichen Sexualverhaltens beleuchten. In einem zweiten Schritt soll aufgezeigt werden, wie sich die sexuellen Verhältnisse im Kontext unserer kulturellen Evolution entfaltet haben. Daraufhin möchte ich einen kurzen Überblick über die verschiedenen Beziehungstypen geben, die heute auf dem Markt der Beziehungsmodelle zu finden sind. Abschließend soll ein kurzer Ausblick erfolgen, der zeigen soll, in welche Richtung sich die Politik der Geschlechter in Zukunft bewegen könnte.

 

Sex in der Natur: Zur Biologie des Seitensprungs

Calvin Coolidge, der 30. Präsident der Vereinigten Staaten und seine Gattin wurden einmal durch eine staatliche Musterfarm geführt. Als Frau Coolidge dort einen heftig mit einer Henne kopulierenden Hahn entdeckte, erkundigte sie sich, wie oft der Hahn seiner Pflicht nachkomme. "Dutzende Male täglich", lautete die Antwort. Die First Lady schwieg einen Moment, dann sagte sie: "Bitte sagen Sie das dem Präsidenten!" Als dieser wenig später ebenfalls an das Gehege geleitet wurde und von der enormen Potenz des Hahnes erfuhr, zog er die Augenbrauen hoch und fragte: "Immer mit derselben Henne?" ­ "Nein, jedes Mal eine andere", wurde ihm mitgeteilt. Die Augen des Präsidenten blitzten: "Sagen Sie das doch bitte meiner Frau!"

Es ist nicht verwunderlich, dass Evolutionspsychologen diese Anekdote immer wieder gerne erzählen. Nach ihrer Auffassung spiegelt sich in dieser Geschichte der fundamentale biologische Unterschied der Geschlechter: Da Männchen eine ungeheure Menge von Samenzellen produzieren, sind sie darauf aus, sich mit möglichst vielen Weibchen zu paaren, um so ihr Genmaterial weiterzugeben. Weibchen hingegen produzieren relativ wenige fruchtbare Eizellen und müssen daher versuchen, Männchen an sich zu binden, um mit ihnen das Überleben der Nachkommen zu sichern. Selbstverständlich: diese Typologie ist eine reduktionistische Vereinfachung. Dennoch lassen sich die Geschlechtsverhältnisse in der Natur mit Hilfe dieser Typologie recht gut begreifen. Die Kosten für polygames Verhalten (nämlich die Hauptverantwortung für die Aufzucht der Nachkommen) trägt in der Natur tatsächlich das Weibchen, das von sich aus eher monogame Verhältnisse bevorzugen würde.

Nun ist es aber nicht so, dass die Weibchen monogam ausgerichteter Arten (vor allem handelt es sich hierbei um Vogelarten) die Gelegenheit zu einem Seitensprung mit einem attraktiven Artgenossen nicht ergreifen würden. Im Gegenteil! Naturforscher konnten immer wieder beobachten, dass scheinbar brave Vogel-Weibchen jede Chance nutzten, sich außerhalb der "ehelichen Gemeinschaft" mit einem besonders interessanten Männchen zu paaren. Schwalbenweibchen beispielsweise wählen für ihren Seitensprung "stets Männchen, die dominanter, älter und attraktiver sind (das heißt, längere Schwanzfedern haben!) als ihre Ehemänner. Sie haben keine "Affären" mit Junggesellen (die vermutlich bereits von anderen Weibchen abgewiesen wurden), sondern stets mit den Ehemännern anderer Weibchen, und sie stacheln potentielle Liebhaber gelegentlich zu Wettkämpfen an und entscheiden sich für den Gewinner." (1)

Der biologische Nutzen dieses doppelbödigen Verhaltens liegt auf der Hand: Während die Männchen danach streben, möglichst viele Nachkommen zu zeugen, versuchen die Weibchen, möglichst gutes Genmaterial zu erhaschen, so dass sich ihre Nachkommen dank höherer Attraktivität selber mit hoher Wahrscheinlichkeit fortpflanzen können, was den Fortbestand der eigenen Gene in den folgenden Generationen sichert. Vereinfacht ausgedrückt: Männchen zielen auf eine möglichst hohe Quantität, Weibchen auf eine möglichst hohe Qualität der eigenen Nachkommenschaft.

Da sich attraktive Männchen - wie sich bei Studien an Vogelkolonien gezeigt hat - weniger um ihren Nachwuchs kümmern als unattraktive, kann man für "monogame" Weibchen folgende Verhaltensmaxime formulieren: Halte Ausschau nach einem mittelmäßigen, hart arbeitenden Ehemann und betrüge ihn mit dem größten Casanova bzw. mächtigsten Despoten, der dir über den Weg läuft! Oder mit den Worten Matt Ridleys; "Heirate einen netten Kerl und gönne dir eine Liebschaft mit deinem Chef..." (2)

Angesichts der ständigen Gefahr weiblicher Untreue ist verständlich, dass viele der "netten Kerle" ihre Partnerinnen eifersüchtig auf Schritt und Tritt bewachen. (Bekanntlich lassen sich nur wenige gerne ein Kuckucksei ins Nest legen!) Entsprechend scharf ist der Konkurrenzkampf unter den Männchen. Mit aller Macht versuchen sie nicht nur lästige Konkurrenten aus dem Blickfeld ihrer Weibchen zu verbannen, sondern auch fremde Weibchen von der verlockenden Qualität der eigenen Erbanlagen zu überzeugen. Man sieht: "Doppelmoral" ist keine originelle Erfindung von Homo sapiens.

Man kann die grundlegende Beziehungsform sogenannter monogamer Arten mit gutem Recht als "Monogamie mit doppeltem Boden" bezeichnen. Selbst die von Konrad Lorenz immer wieder bemühten Graugänse sind - wie wir heute wissen - lange nicht so treu, wie Befürworter der Monogamie es sich einst erhofften. Die Fundamente einer keuschen Naturrechtsethik stehen auf sandigem Grund, zumal die meisten höheren Spezies ohnehin dem vermeintlichen Laster der Polygamie verfallen sind. Dies gilt auch für unsere nächsten Verwandten, die Schimpansen, Gorillas und Bonobos.

Am Beispiel der letzten beiden Gattungen lassen sich im übrigen auch hervorragend die beiden grundverschiedenen Strategien demonstrieren, die polygame Männchen im Wettbewerb um Fortpflanzungserfolg an den Tag legen können:
Gorillas leben bekanntlich in kleinen Gruppen, an deren Spitze ein Alphamännchen steht. Dieses Alphamännchen hält sich ein Harem liebeswilliger Gorillaweibchen und hindert andere Männchen mit massiver Körpergewalt daran, mit den Weibchen seines Harems zu kopulieren. Bonobos hingegen scheinen Eifersucht kaum zu kennen. In einer Bonobogruppe treibt es jeder mit jedem, Männchen mit Weibchen, Weibchen mit Weibchen und Männchen mit Männchen.

Die Tatsache nun, dass Gorillamännchen eifersüchtige Haremsbesitzer sind, während Bonobos von einer sexuellen Massenorgie zur nächsten hasten, liegt nicht darin begründet, dass sich die Bonobos irgendwann einmal entschlossen haben, eine "freiere" Sexualethik zu entwickeln. Wir treffen hier vielmehr auf zwei höchst unterschiedliche Fortpflanzungsstrategien, die, so grundverschieden sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, beide strikt der Logik des genetischen Eigennutzes folgen. Dem eifersüchtigen Gorilla wie dem toleranten Bonobo geht es vorwiegend um das Eine, den Fortpflanzungserfolg, und das impliziert: die Niederlage der sexuellen Konkurrenten. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Gorilla extravaginal, der Bonobo intravaginal mit den Konkurrenten um den Fortpflanzungserfolg kämpft. Das heißt, der Gorilla wird durch seine Körperstärke versuchen, männliche Konkurrenten davon abzuhalten, mit den Weibchen seines Harems zu verkehren (seine wichtigsten Waffen sind seine List und seine Muskeln), der Bonobo wird versuchen, mittels Killer- und Blockerspermien die Spermienarmeen seiner Beischlafkonkurrenten auszuschalten und so den Kampf um das Ei zu gewinnen (seine wichtigsten Waffen kommen also erst im Vollzug des sexuellen Aktes zur Geltung.) (3)

Forscher haben festgestellt, dass der Grad der "sexuellen Freizügigkeit" innerhalb einer Spezies mit der relativen Größe des männlichen Hodens korreliert. Je größer der Hoden im Verhältnis zum Gesamtkörper desto offensichtlicher die Promiskuität, je kleiner der Hoden, desto eifersüchtiger werden die Männchen über ihre Weibchen wachen.

Natürlich stellt sich hier die Frage: Wie steht es um den Menschen? Was das Verhältnis von Hoden- und Körpergröße betrifft (sowie das Größenverhältnis von Männchen und Weibchen - ein weiterer wichtiger Indikator), sind wir irgendwo zwischen Gorilla und Bonobo angesiedelt. Kein Wunder also, dass wir in puncto Fortpflanzungsstrategie (beide Geschlechter!) zu einem Mischtyp neigen: Im menschlichen Manne steckt zum einen das Potential zum eifersüchtigen Pascha, der mit allen Mitteln der Macht die Schritte seiner Frau (im Falle der Monogamie) bzw. seiner Frauen (im Falle der Polygynie) kontrolliert. Zum anderen lauert in ihm aber auch das Potential zum eher toleranten, liberalen, nur auf genetischer Ebene militanten Eikrieger. Welches Potential schließlich Überhand gewinnt, ist abhängig von den jeweiligen historisch-sozialen Umständen.

 

Sex in der Kultur: Haremsdamen, Frauenrechtlerinnen und das vertrackte Ideal der ewigen Liebe

Betrachtet man die Politik der Geschlechter im Laufe der kulturellen Entwicklung der Menschheit, wird schnell deutlich, dass ökologische und ökonomische Faktoren die jeweiligen sexuellen Verhältnisse bestimmten. Während bäuerliche Kulturen, in denen Mann und Frau gemeinsam für den oft kärglichen Lebensunterhalt der Familie sorgen mussten, eher monogame Paarbeziehungen hervorbrachten, kam in reichen Hirtenkulturen das Haremswesen zu seiner vollen Blüte, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass Hirtenvölker in der Regel kriegerische Völker waren, die oftmals ein kriegsbedingtes Defizit an Männern zu beklagen hatten.

Von König Salomon berichtet die Bibel, er habe über 700 Ehe- und 300 Nebenfrauen verfügt. Mohammed begrenzte die Zahl der Ehefrauen pro Mann auf höchstens vier, gestand sich selbst jedoch einen etwas größeren Harem von zehn Ehefrauen und zwei Konkubinen zu. Im Serail über dem Goldenen Horn lebten zeitweise mehr als eintausend Frauen, strengstens bewacht von eigens dazu abgestellten Eunuchen, die garantierten, dass nur ein fortpflanzungsfähiger Mann diese Frauen beehrte: der osmanische Sultan. (4)

Während in vielen Kulturen die Mehrfrauenfamilie anzutreffen war, gab es nur wenige, die einer Frau mehrere Männer zubilligten. Eine diese Ausnahmen treffen wir in den abgelegenen, unfruchtbaren Hochtälern des Himalajas an. Dort ist es bis heute Sitte, dass Frauen zwei oder mehrere Brüder heiraten, die gemeinsam das Land bewirtschaften. (5)

In der Regel waren und sind es aber - wie biologisch zu erwarten - die Männer, die mehrere Frauen exklusiv für sich beanspruch(t)en. Sie waren es auch, die im Krieg der Geschlechter die schwersten Geschütze auffuhren. Ehebruch ahndeten sie häufig mit der Ermordung oder zumindest der Verbannung der Frau aus ihrem sozialen Umfeld. Darüber hinaus erfanden sie zahlreiche präventive Mittel, die einen möglichen Seitensprung der Frauen von vornherein verhindern sollten. In China beispielsweise wurde den Frauen die Füße so lange bandagiert, bis sie mit ihren "anmutig kleinen Füßen" das Haus kaum noch verlassen konnten. Großer Beliebtheit erfreut sich bis heute die Unsitte der Klitorisverstümmelung, ein Verbrechen am Selbstbestimmungsrecht der Frau, das jenseits aller religiösen Ideologisierung vor allem verhindern soll, dass Frauen außereheliche sexuelle Gelüste entwickeln.

Die Angst vor der Emanzipation der Frau entlud sich in Europa in der sogenannten Hexenverbrennung, deren sexuelle Komponente in den Inquisitionsprotokollen deutlich zum Vorschein kommen. (6) Später versuchte man(n), die Frauen im Zwinger der bürgerlichen Kleinfamilie zu halten, als politisch und sozial unmündiges Geschöpf, das dem Mann zu folgen und die Kinder zu versorgen hatte.

Doch die Emanzipation der Frau, die der Emanzipation des Bürgertums folgte, war selbst durch bornierteste patriarchale Vorurteile nicht aufzuhalten. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts feierte die Frauenbewegung ihre ersten Erfolge. Frauenrechtlerinnen traten in ganz Europa auf und forderten die Gleichberechtigung der Geschlechter. Paradoxerweise legten in Deutschland ausgerechnet die Nationalsozialisten, deren Parteiprogramm die Frauen zurück an den Herd bringen wollte, den Grundstein für einen weiteren Etappensieg der Emanzipation: Als die Männer an fremden Fronten ihre Leben ließen, übernahmen die Frauen "an der Heimatfront" die Produktion, zeigten also, dass sie auch außerhalb der Familie ihren "Mann" stehen konnten.

Auch wenn es in den fünfziger Jahren einige Zeit lang so aussah, als könne das Rad der Geschichte noch einmal zurückgedreht werden, die Frauen waren aus dem gesellschaftlichen Leben nicht mehr wegzudenken. Immer mehr Frauen begannen, ihre Stellung in Familie und Gesellschaft kritisch zu reflektieren. Der Ruf nach einer umfassenden Gleichberechtigung von Mann und Frau machte die Runde.

Als die Frauen zunehmend erkannten, dass ihr Lebenssinn sich nicht in der Pflege der Familie erschöpfte, als sie massenhaft begannen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, veränderte sich alles. Die ehemals ökonomisch wie ideologisch verriegelten Türen des bürgerlichen Ehekäfigs öffneten sich, was vor allem den Frauen - einst mit Gedeih und Verderb an ihre Männer gekettet - die Gelegenheit bot, ein neues Leben außerhalb der oftmals als monoton empfundenen ehelichen Gemeinschaft zu verwirklichen.

Dank der gleichzeitig voranschreitenden "sexuellen Revolution" war es nun auch möglich, mehr oder weniger unbefangen über die eigenen erotischen Vorlieben zu sprechen. Die sexuelle Liebe wurde zum Dreh- und Angelpunkt der Paarbeziehung. So gut das auch klingt: Das Faktum, dass die schönste Hauptsache in der Welt nun endlich zum zentralen Maßstab der Paarbeziehung wurde, hatte und hat einen unübersehbaren Nachteil: Das romantische Hoch der Liebe ist in der Regel nur von relativ kurzer Dauer. Nach wenigen Jahren nehmen - wie Untersuchungen ergeben haben - die Endorphinausschüttungen, die mit dem Zustand des Verliebtseins einhergehen, dramatisch ab. Der Komödiant Heinz Erhard hat die bitteren Konsequenzen, die sich aus diesem Umstand ergeben, einmal sehr treffend beschrieben: "Ich hol vom Himmel dir die Sterne,/ so schwören wir den Frauen gerne. / Doch nur am Anfang! Später holen / wir nicht mal aus dem Keller Kohlen!"

Vor allem Frauen scheinen sich mit dieser langsamen Ernüchterung der Liebe nicht abfinden zu wollen. Lieber trennen sie sich von ihren Partnern, als dass sie diesen Zustand länger ertragen. Die Folgen sind bekannt: In Deutschland wird mittlerweile jede zweite Ehe geschieden. Die Lust auf Wiederheirat verebbt, ebenso der Wunsch nach einem ersten Versuch: Während zu Beginn der sechziger Jahre noch neun Zehntel aller heiratsfähigen Männer den Weg zum Standesamt fanden, "traut" sich jetzt nur mehr knapp die Hälfte.(7)

Zurück nach Deutschland: Die Anzahl der Kinder pro Paar ist mittlerweile im Bundesdurchschnitt soweit gesunken, dass Tanten, Onkel und Cousinen mittlerweile zu den bedrohten Arten der Gattung "Familie" gezählt werden müssen. Wenn zwei Einzelkinder heiraten, deren Eltern bereits Einzelkinder waren, dann haben die beiden nach dem Tode ihrer Eltern keinen einzigen Verwandten mehr. (Ob zu ihrem Glück oder nicht, sei einmal dahingestellt. Auf jeden Fall aber handelt es sich hier um einen Trend, der das Gesicht unserer Gesellschaft verändern wird.) (8)

Schuld an dem ganzen Schlamassel ist nicht nur der anfangs zitierte Geist des Turbokapitalismus, dessen Zwang zur Konsumtion stets neuer Sinnesfreuden auch unser Liebesleben nachhaltig bestimmt ("we want it all - we want it now!"), sondern - wie gesagt - auch das diesem Trend scheinbar entgegengesetzte romantische Ideal der Liebe selbst. Der Liebe nämlich ist in den letzten Jahrzehnten eine Bedeutung zugefallen, die sie vorher - wenn überhaupt - nur selten gehabt hat. Schon vor zehn Jahren klagte Hans Joachim Schöps, die Oldenburger Professorin Rosemarie Nave-Herz zitierend, im Spiegel: "Die Ehe wird bei uns derart überfrachtet mit Erwartungen, mit immateriellen Leistungsansprüchen, daß das Ganze leicht in Überforderung umkippt." (9)

Dies gilt selbstverständlich auch für die diversen Formen nichtehelicher Partnerschaften. Bei einer Untersuchung über nichtehelich Zusammenlebende für das Bundesfamilienministerium stieß man immer wieder auf zwei Wunschvorstellungen, die im Alltag des Zusammenlebens oft schwer, häufig überhaupt nicht miteinander zu vereinbaren sind: Einerseits legten die Paare, "größten Wert auf Gemeinsamkeiten im Tun, Fühlen und Denken". Andererseits gehörte es "zu den zentralen Forderungen an die Partnerschaft, daß sie beiden Partnern einen größtmöglichen Freiraum gewährt". (10)

 

Die Dialektik von Freiheit und Bindung: Beziehungsmodelle in der Gegenwart

Es spricht vieles dafür, daß die hier aufscheinende Dialektik von "Wunsch nach Bindung" und "Wunsch nach Freiheit" als treibendes Moment innerhalb der Beziehungsdramen unserer Zeit betrachtet werden muß. Heutige Beziehungsmodelle (egal ob es sich hierbei um hertero- oder homosexuelle Partnerschaften handelt) müssen sich daran messen lassen, wie gut sie in der Lage sind, beide Dimensionen miteinander zu verbinden.

Werfen wir unter dieser Perspektive einen Blick auf den gegenwärtigen Markt der sexuellen Beziehungsmodelle. Ich möchte der Überschaubarkeit halber 7 Modelle idealtypisch voneinander unterscheiden:

Modell 1: Strikte Monogamie

Bei der strikten Monogamie ist der Grad der Bindung an den Partner am höchsten, der Freiheitsgrad am geringsten. Als Ideal gilt, nur einen Partner zu lieben und dies ein Leben lang. Dieses Modell wird - und das ist in Anbetracht unserer evolutionär erworbenen Ausstattung verständlich - weit häufiger gepredigt als verwirklicht. AnhängerInnen dieses Modells sind u.a. christliche Theologen, gläubige Asketen, hoffnungslose (oder besser: allzu hoffnungsvolle!) RomantikerInnen und/oder scheue, bzw. unattraktive Menschen, die es mit gutem Grund vorziehen, aus der Not eine Tugend zu machen.

Modell 2: Monogamie mit doppeltem Boden

Bei der Monogamie mit doppeltem Boden gilt das Ideal der lebenslangen Treue zwar ebenfalls, praktisch versucht man aber, es hin und wieder zu umgehen. Unserem biologischen Erbe scheint dieses Modell eher zu entsprechen als Modell 1. (In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass - empirischen Studien zufolge - 80% Prozent aller Frauen mindestens einmal in ihrem Leben innerhalb einer Woche Sex mit verschiedenen Partnern hatten und dass jedes zehnte Kind nicht von dem Mann abstammt, der der biologische Vater zu sein glaubt...) (11)
Auch im Modell der Monogamie mit doppeltem Boden ist der Grad der Bindung hoch, der Freiheitsgrad relativ gering und vor allem hart erkämpft. Um nicht entdeckt zu werden, muß der Seitenspringer bzw. die Seitenspringerin ein ganzes Arsenal an Täuschungstechniken beherrschen, vom geschickten Arrangement von Alibis und Örtlichkeiten, über das Entfernen von Lippenstiftresten, Haaren und Parfüm- bzw. Aftershave-Düften, bis hin zur geschickten Vertuschung von Hotel- und Restaurant-Rechnungen... Ein großer Aufwand, der nicht immer lohnt und auch nicht immer verhindern kann, daß der Seitensprung am Ende doch auffliegt. Und was passiert dann? Entweder Mord aus Leidenschaft (die Kehrseite des romantischen Ideals: jeder Romeo trägt den Othello in sich) oder aber Modell 3 kommt ins Spiel: das Modell der seriellen Monogamie.

Modell 3: Serielle Monogamie

Die serielle Monogamie verlangt die Konzentration auf einen Partner, allerdings nur auf bestimmte Zeit. Der Freiheitsgrad ist hier höher als in den anderen monogamen Modellen, immerhin wird man nicht mehr darauf verpflichtet, es ein Leben lang an der Seite eines Partners auszuhalten. Stattdessen hat man nun sogenannte "Lebensabschnittsgefährten" und die Beziehung mitunter eine recht kurze Halbwertszeit, denn das Verhältnis kann schnell aufgekündigt werden, sofern es nicht mehr den eigenen Ansprüchen genügt.
Es ist nicht verwunderlich, daß dieses Modell zur Zeit groß in Mode ist. Schließlich ist es in der Lage, das romantische Liebesideal der tiefen monogamen Bindung aufrechtzuerhalten - zumindest solange, bis der Wunsch nach Freiheit bzw. nach einer neuen, attraktiveren Bindung eine Veränderung der Situation verlangt.
Man sollte allerdings auch die Schwächen dieses Modells nicht übersehen: Der Zwang zur Monogamie sät Mißtrauen und führt mitunter zur Lüge und allzu häufig auch zur Aufkündigung von Beziehungen, in die man zuvor viel Zeit und Energie investiert hat. Das kann überaus problematisch sein, insbesondere, wenn Kinder mit im Spiel sind.

Modell 4: Polygame Austauschbeziehungen

Hohen Freiheitsgrad bei geringer Bindungsmöglichkeit bietet das Modell der polygamen Austauschbeziehung, das irgendwie unseren nächsten Verwandten, den Bonobos, nachempfunden zu sein scheint. Polygame Austauschbeziehungen kann man allwöchentlich beobachten auf den mehr oder weniger amüsanten Balzveranstaltungen von Großraumdiskotheken. Nach der Devise ex und hopp reihen passionierte Singles One-Night-Stands aneinander, eine Art Fast Food Sex, der hin und wieder spannend sein mag, aber auf Dauer nur wenige befriedigt. Nicht umsonst zeigen Umfrageergebnisse, daß selbst hartgesottenste Singles oftmals insgeheim den Traum von der EINEN erfüllenden Beziehung träumen.

 Modell 5: Haremsbildung

In Modell der Haremsbildung zwingt man seine diversen Partner oder PartnerInnen ins Korsett der Monogamie, reserviert für sich selbst jedoch die vermeintlichen Freuden der Polygamie. Diese Asymmetrie im Beziehungsgefüge ist nicht nur ethisch anrüchig, sie ist oft genug auch verbunden mit einer immensen Überforderung der Haremsbesitzer bzw. -besitzerinnen, die sich nun den Liebesansprüchen mehrerer PartnerInnen ausgeliefert sehen. Zudem ist auch das Problem der Eifersucht für den oder die HaremsbesitzerIn nicht aus der Welt geräumt. Im Gegenteil: Wer selbst das polygame Leben genießt, fürchtet in der Regel umso mehr, daß seine PartnerInnen sich nicht an das ihnen verordnete Treuegebot halten. Zwanghafte Kontrollversuche sind oft die Folge.

Modell 6: Offene Ehe

Mit dem Konzept der "offenen Ehe" trat Anfang der 70er Jahre das Ehepaar O`Neill an die Öffentlichkeit. (12) Sie verstanden unter "offener Ehe" eine Beziehungsform, die auf gleicher Freiheit und gleichem Recht auf Persönlichkeit beider Partner beruht. Konkret sollte es beiden Partnern möglich sein, auch außerhalb der ehelichen Gemeinschaft intime Beziehungen einzugehen. Über diese außerehelichen Beziehungen kann (aber muss nicht) gesprochen werden, die eheliche Gemeinschaft wird durch "Seitensprünge" nicht in Frage gestellt. Die Pole Freiheit und Bindung sind hier zumindest vom Programm her aufeinander abgestimmt, oder genauer: Freiheit und Bindung werden überhaupt nicht mehr im Sinne von Polaritäten begriffen. Durch die Freiheit soll Bindung vertieft, durch vertiefte Bindung Freiheit (auch sexuelle Freiheit) ermöglicht werden. (Zu den Problemen dieses Modells s.u.)

Modell 7: Intimnetzwerk

Dem Prinzip der offenen Ehe stark ähnelnd, ist das Modell des Intimnetzwerkes. Ramey definiert das Intimnetzwerk als "Zusammenfallen von traditioneller Freundschaft und sexueller Intimität als normgerechtem Verhalten". (13) Grundlegend für das Intimnetzwerk ist das Verständnis, daß sexuelle Intimität unter den Mitgliedern des Netzwerks prinzipiell geduldet ist. Im Unterschied zum Konzept der offenen Ehe muß es im Intimnetzwerk nicht unbedingt HauptpartnerInnen geben, es kann durchaus zu mehreren gleichwertigen Beziehungen kommen - einen Zwang hierzu gibt es jedoch nicht. Ohnehin ist Potentialität das wesentliche Charakteristikum des Intimnetzwerkes. Das bedeutet auch, daß es (zeitweise oder dauerhaft) auch zu monogamen Beziehungsstrukturen innerhalb des Netzwerkes kommen kann. Interessant ist, dass alte Bindungen in diesem Modell nicht gänzlich verloren gehen müssen, wenn neue Beziehungen entstehen. Vor allem für Kinder kann es vorteilhaft sein, wenn durch die sexuelle Trennung der Eltern nicht alle Formen der familären Bindung aufgehoben werden.
Sicherlich: All diese Vorteile sind auch mit Nachteilen verbunden. Ein Grundproblem, das schon das Modell der offenen Ehe prägt, verschärft sich gewissermaßen auf der Ebene des Intimnetzwerkes: Die einzelnen Mitglieder müssen in der Lage sein, PartnerInnen nicht als einen Besitz zu begreifen, der gefährlicherweise abhanden kommen kann. Das heißt: Sie müssen mehr oder weniger gut gefeit sein gegen das unangenehme Gefühl, das mit dem romantischen Liebesideal unweigerlich verbunden zu sein scheint: das Gefühl der Eifersucht.

Eifersucht, so heißt es, ist eine Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft. Nirgends ist dies offensichtlicher als in Intimnetzwerken. Ein eifersüchtige Mensch wird ein Intimnetzwerk niemals als Heimat erfahren, als einen Ort, der Freiheit und Bindung gleichermaßen ermöglicht, sondern als einen Irrgarten der Gefühle, als Folterkammer der Seele. Und deshalb wird er sich in der Regel auch schnell von Intimnetzwerksstrukturen abwenden und sein Heil in der scheinbaren Sicherheit und Überschaubarkeit der Monogamie suchen. Tragischerweise ist er aber auch dort immer wieder mit der Gefahr konfrontiert, seine Besitzstände zu verlieren. Daher ist es nicht verwunderlich, daß einige enttäuschte Monogamisten die Flucht nach vorne antreten - in die Belanglosigkeit polygamer Wegwerfbeziehungen, die Eifersucht gar nicht aufkommen lassen, weil dafür der Grad der Bindungen schlichtweg nicht ausreicht.

Wie man es auch dreht und wendet: Die Sache ist vertrackt. Egal, welches Modell man bevorzugt, von einer liebgewordenen Bestrebung muß der Mensch sich wohl stets (zumindest partiell) verabschieden: entweder a) von dem Wunsch nach Bindung, b) dem Wunsch nach Freiheit, oder aber c) von dem Wunsch, andere exklusiv zu besitzen, der Grundlage der Eifersucht. Wir haben - so scheint es - nur die Wahl der Qual...

 

Fazit und Ausblick

Fassen wir zusammen: Die Mitglieder der Gattung Homo sapiens sind von ihrem biologischen Erbe her weder ausschließlich monogam noch ausschließlich polygam veranlagt. Die sexuellen Verhältnisse, die der Mensch in seiner kulturellen Entwicklung erschafft, sind stets abhängig von den ökonomischen, sozialen wie ökologischen Rahmenbedingungen.

In der gegenwärtigen Situation scheint das althergebrachte Modell der lebenslangen Monogamie, das Modell der "Heiligen Familie", zu einem Auslaufmodell zu werden. An die Stelle des ideologisch und ökonomisch verriegelten Ehekäftigs sind neue Beziehungsmodelle getreten, die ihrerseits in der Geschichte immer wieder erprobt wurden und den Liebeswütigen der Jetztzeit zur Verfügung stehen: Das Modell der seriellen Monogamie, das Modell der Haremsbildung, das Modell der polygamen Austauschbeziehung, das Modell der offenen Ehe sowie das Modell des Intimnetzwerkes.

In der Politik sollte dafür gesorgt werden, dass keines dieser Modelle einseitig bevorzugt wird. Insbesondere sollte vermieden werden, dass das Konzept der bürgerlichen Ehe und Familie weiterhin zum zentralen Leitbild der Sozialpolitik erhoben wird. Homosexuelle Partnerschaften müssen heute ebenso berücksichtigt werden wie Ein-Elternfamilien oder Netzwerksmodelle, in denen mehrere Erwachsene sich die Verantwortung für eines oder mehrere Kinder teilen.

Das bedeutet nicht, dass für jede dieser Beziehungsformen spezielle neue Gesetze erlassen werden müssten. Denkbar wäre ein weit radikalerer Schnitt: Meines Ermessens ist es an der Zeit, die Politik nicht mehr auf Familien hin zu konzipieren, sondern auf die einzelnen Individuen auszurichten. (In Schweden ist man bereits erste Schritte in diese Richtung gegangen.) Ich bin der Überzeugung, dass mit einer solchen Politik viele Probleme vermieden werden könnten, die heute dadurch entstehen, dass unsere Sozialpolitik auf einem Beziehungsmodell aufbaut, welches bereits vor einhundert Jahren erste Brüche erlitt und das auf das Leben und Empfinden vieler Menschen von heute kaum noch zutrifft.

Konkret: Ich schlage vor, Lebensgemeinschaften (wie die traditionelle Ehe) konsequent zu entzaubern und juristisch nüchtern als "Gesellschaften bürgerlichen Rechts" (GbR) zu begreifen. Sollte es nicht den Individuen überlassen sein, wieviele Gesellschafter eine Lebensgemeinschaft hat und welches Geschlecht sie besitzen? Warum muss eine Vaterschaft vor Gericht eingeklagt werden, wenn alle Beteiligten, der Kindsvater, die Mutter und ihr nach traditonellem Verständnis "gehörnter" Ehemann wissen und akzeptieren, dass das Kind außerehelich "gezeugt" wurde? Warum muss man sich von einem Ehepartner scheiden lassen, um einen anderen heiraten zu können? Kann man nicht auch ohne größere Probleme Gesellschafter mehrerer Lebensgemeinschaften sein?

Ich weiß, wenn man solche Fragen stellt, wittern die neokonservativen "Retter des christlichen Abendlandes" sogleich den Untergang unserer Zivilisation. Das ist zweifellos ihr gutes Recht, ich halte eine solche Einschätzung jedoch für grundlegend falsch. Statt zu betrauern, dass das Trugbild der ewigen Treue heute an Bedeutung verliert, sollten wir uns freuen über die neue Offenheit, mit der sich die Geschlechter heute begegnen können!

Sex ist - so trivial es auch klingt - der Urquell des Lebens. Man sollte ihn nicht unnötig kanalisieren. Ansonsten könnte die angestaute Triebenergie über die Ufer treten und sich mit erschreckender Gewalt entladen. Nicht nur die Hexenfolterer der Vergangenheit, sondern auch die Triebtäter unserer Zeit waren bzw. sind in der Regel Opfer einer rigiden Zwangsmoral. Möglicherweise - und mit dieser kleinen Provokation will ich schließen - sollten wir uns doch ein Beispiel nehmen an unseren nächsten tierischen Verwandten, den Bonobos, die im Gegensatz zu uns, den Mitgliedern der angeblich weisen Gattung Homo sapiens, Aggressionen nach Innen wie nach Außen wirkungsvoll vermeiden, indem sie Tag für Tag und mit vorbildlichem Einsatz die alte Hippieweisheit bestätigen: Make love, not war! (14)

 

Anmerkungen

1) Rittley, Matt (1998): Eros und Evolution. Die Naturgeschichte der Sexualität. München, S. 308

2) a.a.O., S. 309

3) Zu den unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien siehe z.B. Vogel, Christian/Sommer, Volker (1994): Mann und Frau. In: Schiefenhövel, Wulf/Vogel, Christian et al (Hrsg.): Zwischen Natur und Kultur. Der Mensch in seinen Beziehungen. Stuttgart.

4) vgl. Dörrzapf, Reinhold (1995): Eros, Ehe, Hosenteufel. Eine Kulturgeschichte der Geschlechterbeziehungen. Frankfurt/M., S 71ff.

5) Wie sich herausgestellt hat, haben Großmütter mit polyandrischen Töchtern in dieser Region mehr überlebende Enkel als solche mit monogamen Töchtern, siehe Blackmore, Susan (2000): Die Macht der Meme oder: Die Evolution von Kultur und Geist. Heidelberg., S. 221.

6) vgl. Wolf, Hans-Jürgen (1994): Hexenwahn. Hexen in Geschichte und Gegenwart. Bindlach.

7) siehe den trotz des zeitlichen Abstands immer noch lehrreichen Aufsatz von Schöps, Hans Joachim: Dauerhaft ist nur die Trennung. In: Der Spiegel, 2/1991.

8) ebenda

9) ebenda

10) ebenda

11) vgl. Baker, Robin (1999): Krieg der Spermien. Weshalb wir lieben und leiden, uns verbinden, trennen und betrügen. Bergisch Gladbach, S. 235f. bzw. S.91.

12) O’Neill, Nena/ O’Neill, George (1972): Die offene Ehe. Konzept für einen neuen Typus der Monogamie. Bern.

13) zitiert nach Schwendter, Rolf (1993): Theorie der Subkultur. Hamburg, S. 412.

14) vgl. De Waal, Frans (1991): Wilde Diplomaten. Versöhnung und Entspannungspolitik bei Affen und Menschen. München.

 

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