Dr. Michael Schmidt-Salomon

Sind Religionen zukunftsfähig?
Diskussionsbeitrag auf der Podiumsdiskussion: "Projekt Weltethos? Religiöse und weltanschauliche Grundlagen der nachhaltigen Entwicklung" im Rahmen der Trierer Agenda-Wochen 1999


Sind Religionen zukunftsfähig? Können Sie einen Beitrag leisten zur Etablierung einer nachhaltigen Kultur? Oder stellen sie ein Hindernis dar auf dem ohnehin mühsamen Weg zu einer gerechten, ökologisch wie sozial tragfähigen Weltgesellschaft?

Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns vergegenwärtigen, was wir meinen, wenn wir von "Religion" sprechen. Philosophisch gesehen sind Religionen Weltanschauungssysteme, die auf der Annahme gründen, es gäbe eine Schnittmenge zwischen der diesseitigen "Welt des Menschen" und der jenseitigen "Welt an sich", zu der Privilegierte (insbesondere die jeweiligen Religionsstifter) per Offenbarung Zugang hätten. Religionen gründen also - und das ist der entscheidende Gegensatz zum wissenschaftlichen Denken - auf der Idee der offenbarten Wahrheit.

Bezogen auf unsere Fragestellung könnte man es sich nun leicht machen und sagen, daß Religionen umso zukunftsfähiger sind, je mehr die von ihnen vertretene "offenbarte Wahrheit" mit dem Konzept der nachhaltigen Entwicklung, der Idee der Verantwortung gegenüber der Natur sowie den gegenwärtig wie zukünftig lebenden Menschen, übereinstimmt.

Sollten wir uns also bemühen, Religion für Religion unter die Lupe zu nehmen und eine Art Gesamtbilanz ihrer Nachhaltigkeit zu erstellen? Hätten wir unsere Ausgangsfrage hinreichend beantwortet, wenn wir wüßten, dass Religion X zu 70% zukunftsfähig ist, während Religion Y nur 30% Nachhaltigkeit für sich beanspruchen darf?

Nein, abgesehen davon, dass ein solches Ergebnis wissenschaftlich kaum haltbar wäre: Mit einer solchen Antwort hätten wir die eigentliche Aufgabe verfehlt, denn es geht in unserer Fragestellung ja nicht darum, zu ergründen, ob Religion X zukunftsfähiger ist als Religion Y. Die Frage zielt tiefer: Sie fragt, ob das religiöse Denken an sich (also losgelöst von speziellen Glaubensinhalten) zukunftsfähig ist oder nicht.

Wie Sie vielleicht wissen, werden Agnostiker wie ich (Menschen, die sich nicht anmaßen, darüber zu urteilen, ob Göttinnen oder Götter wirklich existieren) von Theisten wie Atheisten oft gerügt, sie würden sich um klare Antworten herumdrücken. Nun, was die Frage der Zukunftsfähigkeit der Religionen angeht, so habe ich - zumindest im Moment (ich lasse mich gerne von besseren Argumenten überzeugen) - eine eindeutige, klare, wenn auch unbequeme Antwort:

Meines Erachtens stellt das religiöse Denken per se ein folgenschweres Hindernis für eine gerechte und friedliche Weltkultur dar. Religiöses Denken - gleich welcher Couleur, sei es noch so progressiv gemeint wie das Küngsche "Prinzip Weltethos" - ist nämlich behaftet mit drei fundamentalen Makeln, die in der Geschichte der Menschheit immer wieder zu unermeßlichem Elend geführt haben:

Makel Nr. 1: Religiöses Denken beruht notwendigerweise auf Etikettenschwindel, da hier menschliche Wirklichkeitskonstruktionen mit anderen als menschlichen Gütekriterien (nämlich Gott, Schicksal, Gesetz des Kosmos usw.) versehen werden, was zu einem unlauteren Wettbewerb der Gedanken führt. Anders formuliert: Der religiöse Mensch benutzt im Gegensatz zum nichtreligiösen nicht nur Argumente, die in der ?Welt des Menschen? beheimatet sind (die gegeneinander abgewogen und verändert werden können), er benutzt zudem noch Argumente, die ihrem Anspruch nach einer "höheren Ebene" angehören (die durch menschliche Argumente eben nicht aufgehoben werden können). Durch diese pseudotranszendentale Verstärkung seiner Argumente wird der religiöse Mensch argumentativ unangreifbar. Er steht über den Dingen, berichtet über höhere Einsichten, das heißt: er überhöht sich selbst, übervorteilt und erniedrigt seine nichtreligiösen KommunikationspartnerInnen, die in der Kommunikation nicht mit gezinkten Karten spielen.

Makel Nr. 2: Religiöses Denken ist auch deshalb problematisch, weil es (durch seine jenseitige und nicht diesseitige Begründungsform) jede rationale, menschliche Argumentation außer Kraft setzen und damit eine nicht mehr hinterfragbare Beliebigkeit der Argumentation nach sich ziehen kann. Mit dem Jenseits läßt sich - wie bereits Nietzsche wußte - jede beliebige Lüge im Diesseits begründen. Ist die Vernunft erst einmal mit dem religiösen Virus infiziert, so ist unter Umständen kein Mythos, keine Erzählung, kein Gedanke absurd genug, um nicht doch noch geglaubt, verbreitet und mit Waffengewalt verteidigt zu werden.

Eben hieraus ergibt sich Makel Nr. 3: Religiöses Denken ist stets mit einem ungeheuren Restrisiko verbunden, nämlich mit der Gefahr des religiösen Supergaus, der einen menschenfresserischen Fundamentalismus freisetzt. Nicht umsonst zieht sich die Blutspur der Religionen wie ein roter Faden durch die Geschichte der Menschheit. Und ein Ende des religiös motivierten Schreckens ist nicht in Sicht.

Das besonders Alarmierende daran: Man kann den heiligen Kriegern nicht einmal mit dem Argument entgegentreten, daß ihr Denken und Handeln gegen den authentischen Geist ihrer jeweiligen Religion verstößt, denn die Inhumanität der fundamentalistischen Organisationen ist durchaus ein adäquater Ausdruck jener Inhumanität, die wir in den jeweiligen heiligen Schriften vorfinden. Dies gilt nicht zuletzt auch für das Christentum, das sich in letzter Instanz auf das Wirken eines Fundamentalisten, Exorzisten und radikalen Ethnozentristen gründet. Aber das sei nur am Rande vermerkt. (Wir können hierüber gerne im Anschluß diskutieren.)

Ich komme zum Schluß:

Eine Beschäftigung mit dem KÜNGschen "Projekt Weltethos" ist insofern lohnend, als es zeigt, daß ein globales Ethos - wenn überhaupt - nur auf der Basis einer "säkularen, humanistischen Grundmoral" entstehen kann. Wir werden eine bessere Welt nur dann aufbauen können, wenn wir uns nicht mehr als Christen, Moslems, Hindus, Atheisten oder Juden identifizieren, sondern als gleichberechtigte Mitglieder jener affenartigen Spezies, die sich einst in einem Anflug von Überheblichkeit den Namen Homo Sapiens (der weise Mensch) gegeben hat. Anders formuliert: Wir brauchen eine Weltkultur des Zweifelns - nicht des Glaubens, eine Kultur, in der Menschen ihre falschen Ideen sterben lassen, bevor sie selbst für falsche Ideen sterben müssen.

Lernen wir doch aus der Geschichte: Wer seine Hoffnungen auf die "Wunderwaffe" Religion setzt, wird über kurz oder lang in einer Welt leben, die von einer einzigen, altbekannten, nicht nur in der Zeit der Inquisition erbarmungslos angewandten Maxime bestimmt wird. Diese lautet: "Du wirst dran glauben oder: Du wirst dran glauben!"

Mit dem Prinzip der Nachhaltigkeit ist dies wohl kaum zu vereinbaren.