Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Vortragsreihe: Musik und Politik

Teil 2:
Kann Musik die Welt verändern?
Die Musik der alten und neuen Linken

 Eine überarbeitete, korrigierte und erweiterte Version dieses Vortrags findet sich in dem Buch:
Marvin Chlada / Gerd Dembowski / Deniz Ünlü (Hrsg.): ALLES POP? Kapitalismus und Subversion. Alibri-Verlag. Aschaffenburg 2002.
Die Onlineversion des Artikels findet sich hier

Wie ich bereits gestern abend ausgeführt habe, wurde seit Platon das Verhältnis von Musik und Politik immer wieder problematisiert. Politische Herrscher verwandten viel Zeit darauf, Musik zu kontrollieren, unterstellte man doch, dass Musik unten Umständen in der Lage sei, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Eine Vorstellung, die ihnen aus verständlichen Gründen nicht behagen konnte.

Nun, wie so oft: Des einen Befürchtung, ist des anderen Hoffnung. Innerhalb der linken Widerstandsbewegung setzte man große Erwartungen in die vermeintlich revolutionäre Kraft der Musik. Dies änderte sich erst, als die ersten Funktionäre, die sich selber Linke nannten, an die Macht kamen und sogleich damit begannen, unliebsame Neuerungen in der Musik zu unterbinden. Dazu später mehr.

Konzentrieren wir uns zunächst auf die subversiven, die widerständigen Phasen linker Musikproduktion. In Deutschland erblühte in den zwanziger Jahren dank des Engagements von Dirigenten wie Hermman Scherchen, Jascha Horenstein und Karl Rankl eine starke Arbeitermusikbewegung. Musikalisch lehnten sich viele Stücke dieser Bewegung an Volksmusiktraditionen an. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der berühmte "Rotgardisten-Marsch" "Brüder zur Sonne, zur Freiheit", aus dem wir nun einen kurzen Ausschnitt hören werden:

 

Tondokument: Brüder zur Sonne, zur Freiheit

 

 Sieht man einmal von den kunstvoll-experimentellen Versuchen im Umfeld von Brecht, Weil und Eislers ab, muss man festhalten, dass sich die Musik der Linken in der damaligen Zeit wenig von der Musik der Rechten unterscheidet. Blendet man die Texte aus, kann man in vielen Fällen kaum entscheiden, ob man es mit linken oder rechtem Musikgut zu tun hat. Zu sehr entsprechen sich die Kompositionen in Melodik, Harmonik, Rhythmik, Interpretation.

Ich habe Ihnen gestern abend das Nazi-Propagandalied "Die Deutschen am Donaustrand" von Ernst Kreuder vorgespielt. Vielleicht haben Sie den Song noch im Ohr. Wenn ja, vergleichen Sie diesen rechten Propagandasong doch einmal mit dem nun folgenden linken, dem 1936 von Paul Dessau komponierten Lied "Die Thälmannkolonne", einem regelrechten Schlager in antifaschistischen Kreisen. Sie hören eine Aufnahme von 1938 mit dem berühmten Arbeitersänger Ernst Busch:

 

Tondokument: Die Thälmannkolonne

 

 Wie kann man sich die Ähnlichkeiten der musikalischen Kulturen der politisch verfeindeten Lager erklären? Nun, ich habe es bereits gestern abend angesprochen: Die Kulturen der politischen Rechten und der politischen Linken waren sich in ihrer Tiefenstruktur recht ähnlich. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, an eine sozialspychologische Untersuchung zu erinnern, die Erich Fromm Ende der Zwanziger Jahre im Auftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Deutschland durchführte. In dieser mittlerweile berühmten Untersuchung über die Charaktereigenschaften der "Arbeiter und Angestellten am Vorabend des dritten Reichs" kamen Fromm und seine Mitarbeiter zu politisch hoch brisanten Ergebnissen. Man fand nämlich heraus, dass sich der Anhänger der Kommunistischen und Sozialdemokratischen Partei in ihren Tiefenstrukturen bzw. Charaktereigenschaften kaum von den Anhängern der NSDAP unterschieden. Autoritäre Lebensorientierungen - gerade auch im kulturellen Bereich - herrschten diesseits wie jenseits der politischen Barrieren vor. Fromm folgerte daraus, dass der Erfolg einer wahrhaft linken - das hieß für Fromm vor allem: antiautoritären - politischen Bewegung in Deutschland nahezu ausgeschlossen sei, schlimmer noch: dass bei einer möglichen Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Großteil der Arbeiter das Hammer-und-Sichel-Emblem sorglos gegen das Hakenkreuz eintauschen würde. Ein wahrlich düstere Prognose, die - wie wir heute wissen - schrecklich wahr wurde.

Interessanterweise wurde Fromms Studie damals nicht veröffentlicht. Die Vorstellung, dass erklärte Anhänger von SPD und KPD aufgrund ihrer Charakterstrukturen willige Stützen des Naziregimes werden konnten, passte vielen Linken nicht ins Konzept. Wie dem auch sei: Für unsere Überlegungen ist die Frommsche Studie höchst aufschlussreich, denn sie hilft, die im ersten Moment überraschende tiefenpolitische Identität linker und rechter Musik zu verstehen: Wenn autoritäre Charakterorientierungen diesseits und jenseits der politischen Fronten auftraten, so ist es kein Wunder, dass dies auch die musikalischen Formen bestimmte, schließlich wurde die Musik dieser Jahre ja vornehmlich von diesem autoritären Charaktertyp konsumiert und produziert.

Ein wirklich entscheidender Bruch mit der autoritären Musiktradition fand erst in den sechziger Jahren statt. Mit dem Aufkommen der antiautoritären Bewegung und ihrer Musik, der Rockmusik, entwickelte sich eine neue Ästhetik des Widerstands. Es entstanden neue Fronten, die interessanterweise nicht nur zwischen autoritär rechter und antiautoritär linker Musik verliefen, sondern auch zwischen der antiautoritär linken Musik des Westen und der autoritär linken Musikkonzepten des Ostens. Den sozialistischen Machthabern war die neue rebellische Musik der Jugend schnell ein Dorn im Auge. Zwar glaubte man zunächst, gegen die Beatwelle nicht wirklich einschreiten zu müssen. (In einem entsprechenden Dokument aus den frühen sechziger Jahre heißt es sogar scheinbar liberal: "Wir betrachten den Tanz als einen legitimen Ausdruck von Lebensfreude und Lebenslust. [...] Niemandem fällt ein, der Jugend vorzuschreiben, sie solle ihre Gefühle und Stimmungen beim Tanz nur im Walzer- oder Tangorhythmus ausdrücken. Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache, sie bleibt taktvoll!") Bald aber wendete sich das Blatt. Nur kurze Zeit später erklärte der Genosse Erich Honecker, "daß es im Zentralrat der Freien Deutschen Jugend eine fehlerhafte Beurteilung der Beat-Musik gab. Sie wurde als musikalischer Ausdruck des Zeitalters der technischen Revolution 'entdeckt'. Dabei wurde übersehen, daß der Gegner diese Art Musik ausnutzt, um durch die Übersteigerung der Beat-Rhythmen Jugendliche zu Exzessen aufzuputschen. Der schädliche Einfluß solcher Musik auf das Denken und Handeln Jugendlicher wurde grob unterschätzt."

Konsequenz dieser Neubesinnung: Die Partei versuchte nun mit allen Mitteln, die entsprechenden Kommunikationskanäle zu schließen und die DDR-Jugendlichen vor dem Eindringen des gemeinen Rockvirus zu beschützen. Ein Versuch, der - wie wir wissen - gründlich mißlang. Als man in der Staatsführung merkte, dass der Konsum westlicher Rock- und Beatmusik auch durch Boykott und Einfuhrverbote nicht zu verhindern war, versuchte man es mit einer neuen Strategie. Staatlich ausgebildete Musikerkollektive erhielten den Auftrag, sich um den Aufbau einer neuen schmissigen "Jugendtanzmusik" zu bemühen. Freilich: Meist (Ausnahmen bestätigen die Regel) handelte es sich dabei nur um fade Kopien westlicher Rockmusik, die niemandem wehtaten, aber gerade dadurch auch niemanden so richtig mitrissen.

Wie anders damals die Entwicklung im Westen. Die neu aufkommende Pop- und Rockmusik schrieb einen fulminanten Soundtrack zu den großen Studentenunruhen der Sechziger Jahre. Pop-Poeten und umherschweifende Haschischrebellen gaben den ehemals arg steifen politischen Diskursen der Linken eine völlig neue Note. Es formierte sich eine neue, antiautoritäre, hedonistische Linke, eine Linke, die mit dem bitteren Ernst kommunistischer Parteiprogramme nichts mehr anzufangen wusste.

Der berühmt-berüchtigte amerikanische Studentenführer Jerry Rubin z.B. formulierte das politische Programm der Yippies (so bezeichneten sich damals die politisch aktiven Hippies) folgendermaßen: "Die Yippies sind Marxisten. Wir stehen in der revolutionären Tradition von Groucho, Shico, Harpo und Karl. Was die Yippies von Karl Marx, dem berüchtigsten, bärtigen, langhaarigen, hip-kommunistisch-frei-verrückten Agitator der Geschichte, lernen, ist die Tatsache, dass wir einen spektakulären Mythos der Revolution hervorbringen müssen. Karl schrieb und sang sein eigenes Rock-Album mit dem Titel "Kommunistisches Manifest". "Das Kommunistische Manifest" ist ein Song, der Regierungen gestürzt hat."

Selbst ein eher unpolitischer Kopf wie Mick Jagger ließ sich zu politischen Statements hinreißen. Er trat an die Öffentlichkeit mit markanten Sprüchen, wie dem berühmten Satz, dass das Problem mit John Lennon sei, dass dieser nie Marx gelesen habe. Außerdem schuf er gemeinsam mit Keith Richards zahlreiche Songs, die den aufrührerischen Geist der späten Sechziger adäquat ihn Töne umsetzten. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist der Song "Street fighting man" von 1968:

 

Musikbeispiel: Rolling Stones: Street fighting man

 

Der Text des Songs läßt sich folgendermaßen übersetzen:

Überall höre ich den Klang marschierender Schritte, Junge / Denn der Sommer ist hier und die Zeit ist da, um in der Straße zu kämpfen, Junge / Aber was kann ein armer Junge tun / außer in einer Rock´n Roll Band zu singen / denn im verschlafenen London / gibt es keinen Platz für einen Straßenkämpfer! Nein! / Hey, ich denke, die Zeit ist gekommen für eine Palastrevolution/ Aber dort, wo ich lebe heißt das Spiel, das man spielen muss Kompromisslösung / Nun was kann ein armer Junge tun / außer in einer Rock´n Roll Band zu singen / im verschlafenen London / gibt es keinen Platz für einen Straßenkämpfer! Nein!

 

Zwei Jahre später nahm dann Eric Burdon die berühmte Platte "Eric Burdon declares War" auf. Auf dieser auch heute noch mitreißenden Scheibe findet sich u.a. das 14 minütige Stück "Tobacco Road", ein ekstatischer Aufschrei gegen das Elend der Armen verbunden mit der kompromißlosen Kampfansage, mit allen verfügbaren Mitteln für eine bessere, gerechtere Welt zu kämpfen. Auch aus diesem Klassiker wollen wir einen kurzen Ausschnitt hören:

 

Musikbeispiel: Eric Burdon & War: Tobacco Road

 

 In Deutschland sorgte vor allem die Band "Ton, Steine, Scherben" mit programmatischen Titeln wie "Macht kaputt, was euch kaputt macht" und "Keine Macht für niemand" für zeitgeistkonforme, kritische Töne. Doch die Zeiten der Revolte waren bald vorbei. Die revolutionären Blütenträume einer ganzen Musikergeneration zerschellten an der ganz und gar nicht revolutionär anmutenden Realität. Zahlreiche Musiker zogen sich aus der politischen Sphäre gänzlich zurück und produzierten nun eine Musik, die keinen anderen mehr Anspruch hatte, als gute Musik zu sein. Es war die große Zeit des Artrock. Supergroups wie Yes, Emerson, Lake & Palmer und Genesis verknüpften Rock- und Jazzelemente geschickt mit Partikeln klassischer Bildungsmusik. Ihre Musik wurde immer komplexer und polyphoner. Bands wie Gentle Giant gingen sogar dazu über, mehrstimmige Fugen zu schreiben, was zwar erfahrene Musikliebhaber erfreuen konnte, aber mit der Realität der Jugendlichen auf der Straße kaum noch etwas zu tun hatte.

Die Revolte gegen diese Form von Bildungsrock war vorprogrammiert und sie erschien in Gestalt des Punk, der das Niveau der Musik wieder auf ein Minimum reduzierte, der statt kunstvollen Metaphern einfache rebellische Botschaften in den Vordergrund stellte. Freilich: Auch die subversive Kraft des Punk war zeitlich sehr begrenzt. Es dauerte nicht lange und auch der Punk verkam zu einer bloßen, hohlen Modeattitüde.

Ungefähr zu dieser Zeit wurde immer mehr Musikern und Musikjournalisten bewusst, dass Popmusik kaum die Kraft hatte, die Verhältnisse wirklich zum Tanzen zu bringen. Im Gegenteil. Man mußte anerkennen, dass die Musik stets nach der Vorgabe der Verhältnisse tanzte. Ja, selbst die schärfste politische Aussage geriet unter den Maßstäben der Musikindustrie zur leicht konsumierbaren Ware, wurde - wie Adorno schon lange Zeit zuvor festgestellte hatte - zu einer fetischierten, affirmativen Stütze der etablierten Ordnung.

Der überwiegenden Mehrzahl der Musiker war all dies jedoch ziemlich egal. Für sie war Musik ohnehin nicht viel mehr als eine Kombination von Fun und Geschäft. Doch es gab auch Künstler, die ihre Musik als Botschaft verstanden, die sich mit der kommerziellen Entschärfung und Verdinglichung ihrer künstlerischen Projekte nicht abfinden wollten. Hierzu gehörten nicht nur Independent-Künstler, die gewissermaßen aus ihrer Not (also der fehlenden Vermarktungsmöglichkeiten ihrer Produkte) eine Tugend machten, sondern auch echte Megastars wie der ehemalige Kopf der Supergroup "Pink Floyd", Roger Waters.

Waters, der für einige der legendärsten und meist verkauftesten Alben der Musikgeschichte verantwortlich zeichnet (u.a. "Dark Side of the Moon", "Wish you were here" und "The Wall"), war sich recht früh bewusst, dass die sozialistisch-humanistischen Botschaften seiner Songs im Kontext des industriellen Rockbusiness radikal entschärft werden mussten. Bereits das Album "Wish you were here" war von seinem Konzept her eine bitterböse Abrechnung mit der Musikindustrie, die Waters zufolge nicht weiter war als eine kalte seelenlose Maschine, in der unfähige Manager danach strebten, noch den letzten Funken Geist aus der Musik zu verbannen. Im Laufe der Jahre steigerte sich Waters? Aversion gegen das Business ins Unermessliche. Auf der gigantischen Pink Floyd-Tour des Jahres 1977 kam es dann zum Eklat. Waters Haß auf die Fans, die ihm wie gelenkte Marionetten der Musikindustrie erschienen, entlud sich in einer Aktion, die den Bassisten und Sänger vor sich selbst erschrecken ließ. Er guckte aus der Reihe der Fans einen besonders frenetisch jubelnden aus der ersten Reihe heraus, ging auf ihn zu und spuckte dem armen Kerl voller Abscheu ins Gesicht. In diesem Moment, sagte Waters später, sei ihm der Grundgedanken zu "The Wall" gekommen, dem vielleicht ambitioniertesten Projekt der Popgeschichte. Das zwei Jahre später erschienene Konzeptalbum "The Wall" erzählt auf vier prall gefüllten LP-Seiten von dem Rockstar Pink, der von Kindesbeinen an versucht, sich durch den Bau einer psychischen Mauer von der bedrohlichen Umwelt zu schützen. Elternhaus, Schule, Kampf der Geschlechter, Warenwelt, Musikbusiness, Drogen: all dies sind Steine in Pinks Mauer der Entfremdung. Pink läßt keine echten Gefühle mehr an sich heran. In dem Moment, in dem er sich völlig von der Außenwelt abgekoppelt hat, mutiert er zu einem faschistischen Demagogen, der vor begeistertem Publikum sein Unwesen treibt, solange, bis er - ähnlich seinem Schöpfer Roger Waters - vor dem totalen Nervenzusammenbruch steht. Am Ende bricht das komplexe System seiner psychischen Mauern zusammen. Aber die Krise ist bei Waters nicht nur Untergang. Sie nährt auch die Hoffnung auf ein neues Leben jenseits der Entfremdung.

Als "The Wall" dann auf die Konzertbühnen der Welt kam, scheute sich Waters nicht, die ihn beklemmende Barriere zwischen Künstler und Publikum auf drastische Weise zu verdeutlichen. Während die Musiker ihre Songs spielten, errichteten die Bühnenarbeiter eine riesige Mauer zwischen Band und Fans. Nach der Hälfte des Programms war von der berühmten Band nichts mehr zu sehen. Ein äußerst gewagtes Konzept, doch die Rechnung ging auf. "The Wall" wurde innerhalb kürzester Zeit zum meistverkauftesten Doppelalbum aller Zeiten, alle Shows der Tour waren restlos ausverkauft, der wenig später abgedrehte Film von Alan Parker gehört bis heute zu den größten Verkaufsschlagern auf dem Videomarkt. Trotz dieses immensen Erfolgs war Waters nicht zufrieden. Denn "The Wall" wurde - trotz seiner magenbitteren Botschaft - auf gleiche Weise konsumiert wie jedes andere Popprodukt. Jugendliche tanzten gutgelaunt in den Diskotheken zu "Another Brick in the Wall", ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, was der Autor des Songs damit eigentlich mitteilen wollte.

Waters zog aus dieser Erfahrung wiederum radikale ästhetische Konsequenzen und spitzte seine musikalische Formsprache noch weiter zu. "The Final Cut", das letzte Album, das Waters mit Pink Floyd aufnehmen sollte, zählt sicherlich zu den kompromißlosesten Werken der Rockmusik. Untertitelt mit der programmatischen Zeile "a requiem for the post war dream by roger waters" stellt "the final cut" in zwölf düsteren Songs die letzten Gedanken eines imaginären Ichs dar, das in seinem Autos fahrend vom Anblick zweier Sonnen überrascht wird: den letzten Strahlen der untergehenden Sonne im Westen sowie dem Lichtblitz einer Atombombe im Osten.

Mit diesem Szenario reagierte Waters auf Maggie Thatchers Falkland-Krieg. Die bittere Schärfe seines Angriffs und der beißende Pessimismus seiner Texte ist kaum zu überbieten. Ich möchte Ihnen dies anhand zweier Stücke aus diesem Album demonstrieren, nämlich den Nummern: "get your filhy hands off my desert" (also: Lass deine dreckigen Hände aus meiner Wüste) und "the fletcher memorial home"

Zum besseren Verständnis des letztgenannten Songs möchte ich Ihnen hier eine grobe Übersetzung des Textes geben:

 

Nehmt all eure übermächtigen Kindsköpfe zur Seite
Und baut ihnen ein Haus, einen kleinen Ort nur für sie allein
Das Fletcher Gedächtnis Haus für unheilbare Tyrannen und Könige

Und sie können sich selbst betrachten - jeden Tag
Auf den Bildschirmen eines allein ihnen zugänglichen Fernsehkanals
Sie brauchen das, um sich ihrer eigenen Existenz sicher zu sein
Es ist die einzige Verbindung, die sie fühlen

 

"Meine Damen und Herren, begrüßen Sie bitte Reagan und Haig, Herrn Begin mit Freund, Frau Thatcher und Paisley, Herrn Breschnew und Partei, den Geist von McCarthy, Erinnerungen an Nixon, und nun - um etwas Farbe hinzuzufügen - eine Gruppe anonymer lateinamerikanischer High-Society-Schlampen..."

Haben sie etwa erwartet, dass wir sie auch nur mit dem kleinsten Funken Respekt behandeln?

Sie können ihre Medaillen polieren und ihr Lächeln schärfen
Und sich selbst eine Zeit lang mit kleinen Spielchen amüsieren:
Bumm-bumm, bäng-bäng, leg dich hin, du bist tot!

Sicher verwahrt unter der permanenten Kontrolle eines kalten Glasauges
Und versorgt mit ihren liebsten Spielzeugen
Werden sie gute Jungen und Mädchen sein
Im Fletcher Gedächtnis Haus für koloniale Verschwender des menschlichen Lebens

Ist jeder drinnen?
Hattet Ihr eine gute Zeit?
Dann können wir jetzt mit der Endlösung beginnen.

 

 Soweit der Text. Wie Sie mir sicherlich zustimmen werden, ist dies schon ziemlich harter Tobak - zumindest für ein millionenfach verkauftes Pop-Album. Immerhin wird hier nicht anderes erträumt als die Ausrottung beinahe der gesamten politischen Führungsriege der Welt. Hören wir uns nun an, wie Waters diesen Text musikalisch umsetzt...

 

Musikbeispiel: Pink Floyd:
Get your filthy hands off my desert/the flechter memorial home

 

Wie gesagt: The Final Cut war das letzte Album, das Waters unter dem Label Pink Floyd aufnahm. Er produzierte danach noch einige Soloalben, aber diese erlangten nie die Popularität der früheren Pink Floyd Werke. Seine Mitmusiker waren kommerziell gewitzter. Sie fanden sich Mitte der Achziger wieder unter dem Markenzeichen "Pink Floyd" zusammen und plünderten den Schatz des Waters´schen Vermächtnisses hemmungslos aus. Zum großen Entsetzen von Waters ließen sie es sogar so weit kommen, dass Volkswagen ein Sondermodell "Golf Pink Floyd" auf den Markt brachte. Schlimmer noch: Auf der Präsentation des neuen Golf-Modells verkündete einer der führenden Volkswagen-Manager sogar, Waters? berühmte Kampfansage an das Geldsystem, der Song "Money" von "Dark Side of the Moon" sei seit jeher (wahrscheinlich wegen der klingelnden Kassen zu Beginn) einer seiner Lieblingssongs gewesen. Ein vernichtenderes Kompliment hätte der VW-Manager dem libertären Sozialisten Waters kaum machen können...

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich den Fall "Roger Waters" hier so ausführlich schildere. Nun, die Antwort ist einfach: Meines Ermessens zeigt dieses Beispiel wie kaum ein anderes Macht und Ohnmacht neulinker Musikproduktion. Sicherlich wird niemand bestreiten können, dass Waters Songs das Denken und Empfinden vieler Menschen beeinflusste. (In Südafrika z.B. wurde der Song "Another Brick in the Wall" zur offiziellen Hymne des landesweiten Schulboykotts, der sich gegen das damalige Apartheitsregime richtete.) Anderseits aber muss herausgestellt werden, dass auch Waters sich den ausgeklügelten Verwertungs- und Verdinglichungsmechanismen der Musikindustrie nicht entziehen konnte. Seine Songs wurden - solange sie sich verkaufen ließen - mit immensem Aufwand als Popprodukte vermarktet und auch als eben solche konsumiert. Nur die allerwenigsten Hörer verstanden, was Waters mit seinen Hörwerken eigentlich bezweckte. Die meisten genossen - völlig inhaltsfrei - die Attitüde seiner Kompositionen, solange das irgendwie modisch war, also den tiefenpolitischen Trends der Zeit entsprach. Als sich der Zeitgeist in den Achtzigern wandelte, tauschten sie - ohne mit der Wimper zu zucken - die düsteren Floyd-Alben gegen die poppig hochgestylten Plastikprodukte von Duran-Duran oder Wham ein. Der einstige Megastar Roger Waters war plötzlich ein Mann von gestern. Mit dem Niedergang der Verkäufe sank sein Stern am Pophimmel. Denn im Musikbuiness zählt weder Qualität noch Anspruch, sondern allein der Verkauf. Wer im Kampf um die Konsumentennachfrage unterliegt, hat nichts mehr zu melden. Wer out ist, ist erledigt.

 

Aber kommen wir nun zur Ausgangsfrage zurück: Was können wir aus unserem Abriß der Musik der alten und neuen Linken für den Zusammenhang von Musik und Politik folgern? Wie ich bereits gestern sagte, müssen wir davon ausgehen, dass Musik nur dann die Welt verändern kann, wenn sich die Welt anschickt, die Musik bzw. die sie produzierenden Musiker zu verändern. Will sagen: Eric Burdon, die Stones, Ton Steine Scherben und Pink Floyd, sie alle haben die Welt eine Zeit lang durchaus im neulinken Sinne verändert - und zwar, weil es ihnen gelang, den Geist ihrer Zeit in musikalische Formen zu fassen. Durch ihre Musik erreichte der Geist der Rebellion auch die Herzen jener Menschen, die in der tiefsten Provinz lebten - fernab von den politischen Auseinandersetzungen dieser Tage. So konnte sich auch der Seppl aus Niederbayern ein paar Wochen lang als Straßenkämpfer fühlen. Und vielleicht verhalf es ihm sogar dazu, einige der überkommenen Traditionen seiner Eltern leichter über Bord zu werfen. Allerdings: Das Motivierungspotential neulinker Musikproduktion war nur solange vorhanden, solange es vom Zeitgeist getragen wurde. Als sich die Zeiten änderten, änderte sich auch die Musik. Nur sehr wenige Musiker - wie Roger Waters - hielten an ihren Konzeptionen fest. Ihr aufrechter Gang wurde freilich gleich bestraft - mit sinkenden Verkaufszahlen und der herablassenden Ignoranz der marktfixierten Medien.

Aus dieser mehr oder weniger betrüblichen Erkenntnis können Kunstschaffende nun zwei unterschiedliche idealtypische Konsequenzen ziehen: Entweder sie verstehen sich als Dienstleistungsunternehmer und richten ihre Produkte radikal auf die herrschenden Marktinteressen aus. Oder aber sie entdecken ihr eigenes marktunabhängiges Profil, ein Profil, das sie konsequent weiter verfolgen - selbst wenn die Marktchancen ihrer Produktionen als eher gering erscheinen. Ich will nicht verhehlen, dass ich die zweite Option präferiere. Meines Erachtens muss Kunst auch den Mut haben, anzuecken, denn nur wer sich nicht scheut, anstößig zu sein, wird hin und wieder auch Anstöße geben können.

Friedrich Schiller hatte meines Ermessens also durchaus Recht, als er schrieb: "Der Künstler ist zwar Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines besseren Alters..." Freilich: Der naive Schillersche Glauben an das "bessere Alter" ist uns Heutigen fremd. Dennoch: Ohne die Utopie eines "besseren Alters" (und handelte es sich auch nur um die bloße Negation des Bestehenden) kann auf lange Sicht keine Kunst existieren können.

Denn Kunst speist ihre Energie aus der normativen Kraft des Kontrafaktischen. Und das macht sie eigentlich erst spannend. Kunst - das wird leider allzu häufig übersehen - hat auch die Aufgabe, die stets notwendige Kritik an den real existierenden Verhältnissen in adäquate ästhetische Formen zu übersetzen. Diesem Auftrag dürfen sich nicht alle KünstlerInnen entziehen. Auch MusikerInnen haben hier ihren Beitrag zu leisten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

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