Bernulf Kanitscheider ist eine Ausnahmegestalt in der akademischen Philosophie Deutschlands. Für den 1939 in Hamburg geborenen, seit 1974 an der Universität Gießen lehrenden Naturphilosophen und Wissenschaftstheoretiker scheinen die tiefen Gräben zwischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften nicht zu existieren. Er ist in der klassischen Philosophie ebenso beheimatet wie in der Relativitätstheorie Einsteins oder der Soziologie Max Webers. Beeindruckend ist nicht nur die enorme Wissensbreite, die Kanitscheider als einen Gelehrten von hohem Rang auszeichnet, sondern auch seine Entschlossenheit, „heiße Eisen“ anzupacken. Kanitscheider hat sich nicht nur offen mit akademisch tabuisierten Themen wie „Drogen“ und „Sexualität“ auseinandergesetzt, sondern auch die oftmals vertuschten Unterschiede von Wissenschaft und Religion in begrüßenswerter Klarheit herausgestellt.
In einem Aufsehen erregenden Interview mit Spektrum der Wissenschaft (November 1999) machte Kanitscheider deutlich, dass es intellektuell unredlich sei, die „sachlichen Antagonismen“ von Religion und Wissenschaft „unter den Teppich zu kehren“, nur weil man die „intellektuellen Spannungen“ nicht aushalten könne. Man dürfe nicht übersehen, dass Wissenschaft und Religion auf gegensätzlichen Methoden beruhten, einander widersprechende Ergebnisse erzielten und deshalb logisch nicht zu vereinbaren seien. Eine rationale Begründung der Theologie schloss Kanitscheider aus, denn: „Was uns in der christlichen Glaubenslehre bis heute an zentralen Begriffen angeboten wird, sind rational nicht rekonstruierbare oder logisch widersprüchliche Konstrukte.“
Auf die Frage, wie man die emotionale Lücke schließen könne, die durch den Verlust der Bindungskraft der Religionen entstehe, schlug Kanitscheider eine „Psychotherapie der Transzendenzreduktion“ vor: An die Stelle des Glaubens an illusionäre Götter solle die Freundschaft mit realen Menschen treten. Dabei bezog er sich explizit auf den griechischen Philosophen Epikur, mit dessen Vorschlägen zur „hedonistischen Lebensorientierung“ er sich wenig später intensiv auseinandersetzte (siehe das Buch „Von Lust und Freude“ in der Literaturliste).
MIZ-Redakteur Michael Schmidt-Salomon, von Professor Kanitscheider zu einem Vortrag nach Gießen eingeladen, nutzte die Gelegenheit, um den aufgeklärten Hedonisten und skeptischen Naturphilosophen für die MIZ zu interviewen.
MIZ: Herr Kanitscheider, Ihr hauptsächliches Arbeitsgebiet ist die Philosophie der Naturwissenschaften. Weithin bekannt geworden sind Sie vor allem durch Ihre Arbeiten zur Kosmologie. In den letzten Jahren allerdings beschäftigten Sie sich vermehrt auch mit Fragen der Sinnfindung, der Liebe, der Lust und des Drogenkonsums. Das hat einige Beobachter erstaunt. Daher die Frage: In welchem Verhältnis steht die Kosmologie zur Sinnfrage? Ist Ihr Bekenntnis zu einer hedonistischen Lebenseinstellung im Kontext Ihrer Beschäftigung mit kosmologischen Fragestellungen zu sehen oder hat das eine mit anderen rein gar nichts zu tun?
Kanitscheider: Neben vielen kognitiv spannenden
Einsichten liefert die Kosmologie auch die Erkenntnis, dass das menschliche
Dasein aus der großräumigen und langzeitlichen Perspektive betrachtet, ein völlig unbedeutendes Durchgangsstadium des Universums darstellt. Jede Vermutung
nach einer objektiven Sinnhaltigkeit der zufälligen menschlichen Existenz wird
aus dem astrophysikalischen Blickwinkel im Keim erstickt. Von daher liegt es
nahe, eine individualistische, der Endlichkeit der Lebensspanne Rechnung
tragende Lebensform zu finden. Theorien und Fakten der Naturwissenschaft legen
außerdem zumindest einen schwachen Naturalismus nahe, wonach spirituelle,
supernaturale Entitäten weder im deskriptiven noch im normativen Bereich
gebraucht werden. Der Hedonismus ist eine individualistische, sensualistische,
metaphysisch äußerst sparsame Ethik, die mit dem gegenwärtigen
wissenschaftlichen Weltbild gut in Einklang zu bringen ist.
MIZ: Von religiöser Seite wird häufig der Vorwurf erhoben, der Mensch könne sich in einer wissenschaftlich entzauberten Welt nicht zurechtfinden. Was ist von diesem Argument zu halten?
Kanitscheider: Max Webers Diktum von der
„Entzauberung der Welt“ ist in den letzten Jahrzehnten durch weitere wissenschaftliche
Entdeckungen v. a. der Neurobiologie und der Verhaltensgenetik weiter gestützt
worden. Wer sich nicht weiterhin metaphysischen und religiösen Illusionen
hingeben will, ist gezwungen seine Lebensorientierung den Bedingungen der
Endlichkeit und Episodenhaftigkeit der menschlichen Existenz anzupassen. Dies
ist durchaus möglich. Freude, Glück, Daseinserfüllung und ein gelungenes Leben
sind auch dann realisierbar, wenn der stärkste denkbare Reduktionismus wahr
sein sollte, wonach der Mensch eine komplexe biochemische Maschine darstellt.
Eine chemische Entschlüsselung der freudvollen Reaktionen der emotiven Zentren
unseres Körpers lässt die Erlebnisqualität der Gefühle auf der Phänomenebene
völlig unberührt. Die „Entzauberung“ findet auf der Erklärungsebene statt, sie
stiftet auf der unmittelbaren Erlebnisebene keinen erkennbaren Schaden. Erklären heißt nicht Wegerklären. Gefühle behalten ihre phänomenologische Qualität,
selbst wenn sie mikrokausal betrachtet letztlich als etwas völlig anderes, z. B.
als ein physikalisches Geschehen, enträtselt werden.
MIZ: Sie stellten Ihrem Buch „Von Lust und Freude“ ein bekanntes Heine-Zitat voran: „Ja, Zuckererbsen für jedermann / sobald die Schoten platzen! / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen“. Sind Sie der Meinung, dass der Hedonismus eine im Kern heidnische, säkulare Lebenseinstellung ist? In diesem Zusammenhang ist es ja vielleicht bemerkenswert, dass wir in unserer Sprache zwar das Wort „Heidenspaß“ kennen, das Wort „Christenspaß“ aber wohl niemals Eingang in den Duden finden wird…
Kanitscheider: Wie die Sprach-Wurzel des Begriffes Hedonismus
besagt, wurde diese Form einer Glücksethik in der griechischen Antike zuerst
vertreten. Aristippos v. Kyrene, Eudoxos v. Knidos und Theodoros Atheos –
Zeitgenossen des Sokrates – haben die Grundideen dieser Lebensform geprägt.
Alle gehen davon aus, dass das Streben nach Lust eine natürliche Disposition
alles höheren Lebens darstellt, welches, wenn von der Vernunft optimal
verwaltet, echtes Lebensglück mit sich bringen kann. Epikuros v. Athen hat dann
später eine mehr auf emotionale Ausgeglichenheit angelegte Variante der
kyrenaischen Lust-Ethik vertreten. Der Hedonismus ist in diesem Sinne sicher
eine „heidnische“ Lebensphilosophie, die in starkem Kontrast zu der späteren
christlichen weltentsagenden, lustfeindlichen Lebenshaltung steht. Epikur wurde
nach der Wende zum Christentum als der glaubensfeindliche,
materialistische Antagonist angesehen. Epikureismus galt bis in die Neuzeit als
unverträglich mit einem christlichen Sozialwesen. So heftig war die Ablehnung,
dass noch John Locke in seiner Abhandlung über Toleranz den atheistischen
Epikureismus als die Grenze für jede Duldsamkeit gegenüber alternativen Lebenshaltungen
ansah.
MIZ: Sie haben sich für einen „aufgeklärten Hedonismus“ ausgesprochen und dabei auf die große Tradition des diesseitigen Denkens in der Philosophie verwiesen. Können Sie kurz umreißen, wodurch sich die Position des aufgeklärten Hedonisten heutzutage auszeichnet?
Kanitscheider: Es ist wichtig zu betonen – und die
antiken Hedonisten haben stets darauf hingewiesen – dass das Luststreben durch
die Vernunft vor kurzsichtigen, schädlichen Reaktionen bewahrt werden muss.
Bedeutsam ist bei allen Strebungen nach Steigerung des Erlebens – Aristipp
behauptet sogar, dass es keine Obergrenze für lustvolle Erfahrungen gibt – die Langzeitperspektive
im Auge zu behalten. Man sollte seinen eigenen Körper als ein sensibles Instrument
betrachten – eine Art biologische Stradivari – mit dem man behutsam umgeht,
um lange Freude an ihm zu haben, ihn nicht um eines momentanen Lust-Maximums
willen überfordern, sondern eher an ein über die Lebensspanne integriertes Lust-Optimum denken. Gerade angesichts der heutigen pharmakologischen Möglichkeiten,
künstliche Luststeigerungen zu erziehen, sind die Ratschläge zum rechten Maß,
wie sie z. B. auch Aristoteles in der Nikomachischen Ethik erteilt,
beherzigenswert. Das Fernziel des Hedonismus ist nicht der einzelne Höhepunkt
des Erlebens, sondern das gelungene, geglückte Leben. Schon gar nicht kann –
etwa im Sinne de Sade’s – eine Verletzung oder gar Zerstörung des
lustspendenden Körpers in den klassischen Hedonismus integriert werden.
MIZ: Die offensive Weise, in der Sie starren, metaphysisch begründeten Sittlichkeits-Vorschriften entgegengetreten sind und für „freie Liebe“, ja sogar für ein „Recht auf Rausch“ plädiert haben, entspricht nicht unbedingt dem tradierten Bild des deutschen Universitätsprofessors. Wie haben Kollegen und Öffentlichkeit auf Ihre Publikationen reagiert?
Kanitscheider: Die meisten haben sie wohl ignoriert,
was bei genauerer Betrachtung auch nicht allzu verwunderlich ist. Wenn man die
tradierten philosophischen Auffassungen, speziell zur Sexualethik,
durchmustert, erhält man den Eindruck, dass – mit wenigen Ausnahmen – die Philosophen ein Volk triebschwacher
Intellektualisten gewesen sein müssen, bei denen geistige Leistung, kognitives
Vermögen, nur unter der Vorraussetzung von Trieb-Freiheit möglich
war. Nur ganz wenige – wie z. B. Rousseau oder Hume – betonten die
Notwendigkeit der Leidenschaft, um auch im Bereich der Erkenntnis etwas zu
erreichen. Erst unter dem Einfluss jüngerer Sexualforscher – u. a. Wilhelm
Reich – hat sich auch in der Philosophie die Auffassung breit gemacht, dass
Kulturschaffen und intellektuelle Leistung nicht auf Triebverzicht bzw.
Triebunterdrückung aufgebaut sein müssen. Es scheint sinnvoller – gerade auf
den sexuellen Bereich bezogen – ein wellenartiges Triebmodell zu befürworten,
wobei die Refraktärphasen zwischen den Höhepunkten für konzentriertes
intellektuelles Schaffen ausgenützt werden können.
MIZ: Eine amüsante Vorstellung – insbesondere wenn
man dabei den durchschnittlichen deutschen Philosophie-Ordinarius vor Augen
hat! Zweifellos würde sich Einiges ändern, wenn man die Verhältnisse vom Standpunkt rationaler Glücksoptimierung
aus betrachten würde. Unter genau dieser Perspektive haben Sie gemeinsam mit
Bettina Dessau die verschiedenen Partnerschaftsmodelle durchleuchtet…
Kanitscheider: Ja, wir kamen zu dem Ergebnis, dass es angesichts der uns von unserer biologischen Natur mitgegebenen Dispositionen, ein ideales, allen Wünschen gerecht werdendes Modell des Zusammenlebens nicht gibt. Man muss sich wohl oder übel auf eine Ausgleichs- bzw. Übergangslösung einlassen, wenn man den monogamen Rigorismus vermeiden will. Schon Bertrand Russell hat sich in seinem Buch „Marriage and Morals“ für das Kompromiss-Modell der offenen Ehe ausgesprochen, einer Basis-Gemeinschaft aber mit Toleranz bezüglich gelegentlicher Seiten- oder Nebenbeziehungen. Dieses Modell erscheint mir nach wie vor angesichts der biologischen Engramme, die den Menschen zu Polygynie neigen lassen, die geringsten Zwangsbedingungen im Triebbereich mit sich zu bringen und damit dem hedonistischen Ideal am nächsten zu kommen.
MIZ: In Bezug auf den Drogengebrauch scheinen
Sie analog zu argumentierten…
Kanitscheider: Richtig, denn hier sehe ich
eine deutliche Parallele. Während die Geschichte der Sexualunterdrückung eine
Abfolge von Eingriffen in den individuellen Gebrauch der Genitalien von Männern
und Frauen darstellte, ist das heutige fast vollständige Verbot bewusstseinsverändernder
Substanzen als grober Eingriff in die Freiheit der Gestaltung der mentalen
Zustände des Gehirns jedes einzelnen zu sehen. In dieser Frage habe ich mich in
Fortführung der liberalistischen Tradition der antiprohibitionistischen
Auffassung angeschlossen. Der heutige in fast allen westlichen Ländern
vorherrschende Drogen-Paternalismus ist eine mit dem individuellen Liberalismus
unvereinbare Vergewaltigung der Autonomie des Einzelnen. Hier stehe ich auf
Milton Friedmans Standpunkt: Drogengebrauch ist Privatsache. Jugendschutz muss
natürlich sein, aber Erwachsenenbevormundung ist antiliberal.
MIZ: Werfen wir einen Blick in die Natur, können wir feststellen, dass Organismen in der Regel danach streben, Lustgefühle zu steigern und Unlustgefühle zu vermeiden. Trotz dieses prinzipiell hedonistischen, biologischen Basisprogramms konnten sich die Weltgenießer gegen die Weltverächter in der menschlichen Geschichte nicht so recht durchsetzen. Haben Sie eine Erklärung für dieses merkwürdige Faktum gefunden?
Kanitscheider: Es muss in der Tat verwundern, dass
Lebewesen die mit einer solchen verfeinerten Sinnlichkeit ausgestattet sind,
sich über Jahrhunderte von den Ideologen Weltverachtung haben aufzwingen
lassen. Ich denke hier muss man die sozio-ökonomischen Randbedingungen
berücksichtigen. In Zeiten härtester Lebensbedingungen – und die bestanden
sicher seit der Spätantike bis in die frühe Neuzeit – ließen sich die Menschen
transzendente Kompensationen für fehlendes Lebensglück einreden und
akzeptierten den verlangten Triebverzicht mit Aussicht auf Entschädigung in
einer besseren Welt. Immerhin hat sich zumindest in der Gegenwart unter
besseren ökonomischen Umständen der Hedonismus in der Gesellschaft stärker
durchgesetzt. Die Verteidiger eines kompensatorischen Glücks im Jenseits für
entgangen Weltgenuss haben es heute schwerer, Proselyten zu finden.
MIZ: Zum Schluss ein Blick in die Zukunft: Welche Chancen sehen Sie für die „frohe Botschaft“ den Hedonismus? Denken Sie, dass sie sich wird durchsetzen können gegen die erstarkten fundamentalistischen Bestrebungen in den sog. „Hochreligionen“? Oder müssen wir damit rechnen, dass im Falle eines scharfen „Zusammenstoßes der Kulturen“ möglicherweise all die Freiheiten verloren gehen, die von den Aufklärern über viele Jahrhunderte mühsam gegenüber konservativen Kräften erkämpft worden sind?
Kanitscheider: Ich glaube nicht, dass der Hedonismus –
sei es im Sinne Aristipps oder Epikurs – je eine hohe Gefolgschaft erreichen
wird. Der darin inhärente ontologische Materialismus, die Leugnung eine
Unsterblichkeit der Seele, der praktische Atheismus - all dies macht die
hedonistische Ethik zu einer Lebensphilosophie für intellektuelle Skeptiker,
Leute, die soviel persönliche Stabilität und Autarkie besitzen, dass sie der
ideologischen Stützen nicht bedürfen. Die Verteidiger eines hedonistischen
Lebensstils müssen sich glücklich schätzen, wenn ihnen nicht die
gesellschaftliche und politische Basis für ihr Freiheitsstreben entzogen wird.
Wenn Experten auf dem Gebiet der Einschätzung der Entwicklung des
Fundamentalismus wie Gilles Kepel und Bassam Tibi richtig liegen, müssen wir in
der Tat fürchten, durch neue Ehen von Staat und Religion (Thron und Altar) den
mühsam seit der Aufklärung erkämpften Handlungsspielraum wieder zu verlieren.
Hier heißt es wachsam sein und den Anfängen wehren.
MIZ: Herr Professor Kanitscheider, vielen Dank für das Gespräch!
Literaturliste (Auswahl)
Bettina Dessau / Bernulf
Kanitscheider: Von Lust und
Freude. Gedanken zu einer hedonistischen Lebensorientierung, Insel-Verlag,
Frankfurt a.M., Leipzig 2000.
Es gibt wenige Bücher fremder
Autoren, die der Rezensent gerne selber geschrieben hätte. Dieses aber zählt mit
Sicherheit dazu. „Von Lust und Freude“ vermittelt nicht nur einen
hervorragenden Überblick über die Ideen- und Wirkungsgeschichte des Hedonismus,
sondern glänzt auch durch eine gelungene Darstellung der naturalistischen
Fundamente, auf die sich die hedonistische Lebensorientierung berufen kann („Chemie
der Gefühle“, „evolutionäre Determinanten des Luststrebens“ etc.).
Verdienstvollerweise demonstrieren die Autoren die allgemeine Perspektive des
Hedonismus an konkreten Themenstellungen (z.B. „Liebe, Besitz und Eifersucht“
oder „Bewusstseinserweiternde Drogen“). Dabei machen sie unmissverständlich
klar, dass aufgeklärte Hedonisten ein hohes Interesse an Freundschaft,
Geselligkeit, Gerechtigkeit haben, was zu einer Korrektur des christlichen
Vorurteils beiträgt, Hedonisten seien selbstsüchtige, unsoziale Egoisten.
Fazit: „Von Lust und Freude“ ist – auch dank der eingestreuten literarischen
Zitate – ein Musterbeispiel für
„fröhliche Wissenschaft“, ein erfrischend offenes Plädoyer für eine
„hedonistische Lebensorientierung“, kurzum: ein Buch, das im deutschen
Sprachraum seinesgleichen sucht. Anschaffung dringend empfohlen!
Bernulf Kanitscheider: Auf der Suche nach dem Sinn. Insel-Verlag.
Frankfurt a. Main, Leipzig 1995.
„Auf der Suche nach dem Sinn“
ist gewissermaßen das Bindeglied zwischen Kanitscheiders
praktisch-philosophischen Arbeiten (z.B. „Von Lust und Freude“) und seinen
Beiträgen zur Naturphilosophie/Kosmologie. Die diversen Versuche menschlicher
Sinnkonstruktion werden hier einer scharfen, kritischen Analyse unterzogen.
Kanitscheider erörtert den Ort des Menschen im Universum nüchtern und
illusionslos. Er lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass das menschliche
Dasein ein unter kosmologischer Perspektive völlig unbedeutendes Phänomen darstellt.
Nach der naturwissenschaftlichen Entzauberung traditioneller Mythen muss sich
der Mensch in einem sinnleeren Universum zurechtfinden. An die Stelle des
großen, absoluten, ewigen Sinns tritt der kleine, relative, „terrestrische Sinn
des nächsten Augenblicks“. Auf diese Weise wird dem sinnsuchenden Menschen eine
„Lehre in Bescheidenheit“ erteilt. Für Kanitscheider kein Grund zur Trauer,
denn am Ende dieser Lehre stehen nicht notwendigerweise Nihilismus oder
Verzweiflung, sondern im Idealfall das „Glück eines erfüllten Daseins“. Fazit: „Auf
der Suche nach dem Sinn“ ergründet die vielleicht fundamentalste Frage der
Philosophie auf spannende und bei aller naturwissenschaftlichen Genauigkeit
leicht lesbare Weise. Leider ist das Buch nicht mehr im Buchhandel erhältlich. Wer
es zufällig im Antiquariat oder im Internet entdeckt, sollte unbedingt
zugreifen!
Bernulf Kanitscheider (Hrsg.): Liebe, Lust und Leidenschaft. Sexualität
im Spiegel der Wissenschaft. Hirzel-Verlag. Stuttgart, Leipzig 1998
Bernulf Kanitscheider (Hrsg.): Drogenkonsum. Bekämpfen oder Freigeben? Hirzel-Verlag.
Stuttgart, Leipzig 2000.
Beide Sammelbände sind
interdisziplinär angelegt und versuchen, mittels rationaler Aufklärung zu einem
Abbau herrschender Vorurteile beizutragen. Dabei zeichnen sich die Bücher durch
hohe Faktendichte, innovative Forschungsperspektiven und breite Themenvielfalt
aus. Bei aller Unterschiedlichkeit der Herangehensweisen ist den Beiträgen
gemeinsam, dass sie Wege zu einem liberaleren Umgang mit Sexualität bzw.
Drogenkonsum eröffnen möchten. Auch wenn das eine oder andere Thema sicherlich gründlicherer
Behandlung bedürfte (was im Rahmen eines Sammelbandes allerdings schwer möglich
ist), vermitteln die Bücher gute Einblicke in aktuelle
Diskussionszusammenhänge. Dass hierbei
die liberale Position stark überrepräsentiert ist (die Verteidiger des
Repressionsapparates kommen nicht zu Wort), dürfte freigeistige Leser kaum vom
Kauf dieser empfehlenswerten Bücher abschrecken.
Bernulf Kanitscheider: Kosmologie. Geschichte und Systematik in
philosophischer Perspektive. Reclam.
Stuttgart 1991
Dieses 1984 erstmals erschienene
Buch gilt mittlerweile als echter Klassiker auf dem Gebiet der Kosmologie. Das
Preis-Leistungs-Verhältnis der Reclam-Ausgabe ist unschlagbar. Allerdings
sollte der Leser einiges an makro-physikalischem Vorwissen mitbringen, um das
theoretisch anspruchsvolle Buch durchgängig mit Genuss lesen zu können. Für
Laien, die die Details (vor allem der neueren kosmologischen Modelle) kaum nachvollziehen
können, dürften zumindest die Darlegungen zur historischen Entwicklung der
Kosmologie sowie die Konsequenzen, die sich aus der Kosmologie für die
Naturphilosophie ergeben, von Interesse sein.
Bernulf Kanitscheider: Das Weltbild Einsteins. Verlag C.H.Beck. München
1988.
Eine der Komplexität des
Themas angemessene, aber dennoch verständliche Einführung in die Gedankenwelt
Einsteins. Kanitscheider gelingt es, die intellektuelle Entwicklung Einsteins,
seine Grundfragen, Prämissen und Schlüsse nachvollziehbar zu machen und die
Konsequenzen der Einsteinschen Entdeckungen für unser Weltbild offen zu legen. Leider
ist auch dieses Buch derzeit nur noch antiquarisch erhältlich.
MSS