
“Willkommen im Paradiso!”, tönte es sanft aus den Lautsprechern. “In Gottes Wunderbarem Geschenke-Center erhältst du alles, was dein Herz begehrt! Gepriesen sei der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. In Ewigkeit. Amen!”
“Was ist das? Ein katholischer Supermarkt?”, fragte Jan entgeistert.
“Ja, so könnte man es bezeichnen!”, antwortete Görlitz “Für jeden Rosenkranz, den die Leute beten, und für jede Messe, die sie besuchen, bekommen sie Bonuspunkte auf ihrer Kreditkarte gutgeschrieben. Wenn sie genügend Punkte gesammelt haben, können sie hier einen Großeinkauf starten...”
“Und da soll man noch sagen, Beten lohnt sich nicht!”, murmelte Jan.
“Das ist Ansichtssache!”, meinte Elli. “Schau dir doch mal das Zeug an, das die hier verscherbeln!”
Sie zeigte auf einen Kleiderständer, an dem schwindelerregende Kombinationen von braunen Kordhosen und grün-gelb karierten Hemden hingen.
“Das erklärt vieles! Ich habe mich immer gefragt, woher Theologiestudenten ihre scheußlichen Outfits beziehen!”, scherzte Jan. “Unglaublich! Wer entwirft denn solchen Mist?”
“Gequälte Modedesigner aus dem vierten Ring”, erklärte Görlitz. “Unter Aufsicht strenger Nonnen erlernen sie die Feinheiten der katholischen Haute Couture...”
“Die Ärmsten!”, sagte Elli.
“Wohl wahr!”, erwiderte Görlitz. “Aber warum sollte es Ihnen besser ergehen als den Dichtern, Komponisten oder Malern? Schaut euch diese geschmacklosen Madonnenkitschbilder dort vorne an! Es würde mich nicht wundern, wenn sich darunter so mancher van Gogh, Picasso oder George Grosz befände...”
“Du machst Witze!”, sagte Jan. Er schüttelte ungläubig den Kopf.
Sie gingen einige Meter weiter. Jans Blick wanderte über die üppig ausgestattete Abteilung für Rosenkränze und allerheiligste Reliquien. Wie er amüsiert feststellte, kostete ein halber Liter “Tränen der heiligen Jungfrau Maria” 150 Bonuspunkte (Bopus), während die Fingerkuppen eines Heiligen aus dem Mittelalter für lächerliche 10 zu erwerben waren. Als “Angebot der Woche” wurde eine Familienpackung Kreuzessplitter angepriesen, die für schlappe 55 Bopus über den Ladentisch ging.
Ein gemischter Chor baute sich vor dem Stand mit den Kreuzessplittern auf. Die Sängerinnen und Sänger begannen, eine naive Melodie zu intonieren.
Der liebe Jesus liebt dich,
drum prei-ei-set den Herrn!
Jesus lässt dich nie im Stich!
Er hat dich wirklich gern!
“Um Himmels Willen!”, dachte Jan. “Sind die denn hoffnungslos verblödet?”
Jesus ist die Rose,
die in unserm Garten blüht!
Jesus ist der Große,
der uns zum Vater führt!
“Ich glaube, ich muss mich gleich übergeben!”, sagte Jan.
“Warte, das Beste kommt noch!”, meinte Görlitz und grinste.
In unbefleckten Herzen,
da brennen holde Kerzen,
Jesus, Jesus, Jesuslein,
möcht’ immer bei dir sein!
Ja, ja, ja!
Jesus, Jesus, Jesuslein
Möcht’ immer bei dir sein!
“Halleluja!”, rief ein schmalbrüstiger Tenor mit breitem Lächeln.
“Hallelu-u-u-u-jaaaaaaa!” retournierte der Chor.
Schluss. Jan atmete befreit auf. Die Tortur war zu Ende und das christliche Publikum völlig aus dem Häuschen. Der Applaus wollte nicht abnehmen. Die Sängerinnen und Sänger des Chores verneigten sich artig.
“Was für ein grauenvolles Machwerk!”, schimpfte Jan.
“Stimmt!”, sagte Görlitz. “Und doch ist der Song hier oben außergewöhnlich beliebt, was nicht zuletzt an den prominenten Verfassern liegt...”
“Bitte?”
“Die Melodie ist von Schubert, der Text von Goethe...”
“Was?!”
“Es ist leider so!”
“Du willst mich auf den Arm nehmen!”
Görlitz schüttelte den Kopf.
Jan blies sich die Backen auf. Er stellte sich vor, unter welchen psychischen Qualen der Dichterfürst dieses Machwerk geboren haben musste. Ob er sich selbst noch im Spiegel ansehen konnte? Jan tröstete sich mit dem Gedanken, dass Goethe sich vielleicht nur einen Spaß mit der Dummheit der Religiösen erlaubt hatte.
Albert klopfte Jan von hinten auf die Schulter: “Ist dir schon dieses zwanghafte Grinsen der Leute hier aufgefallen?”, fragte er.
“Natürlich, sie sehen aus wie...”, Jan lachte, “... wie geistig zurückgebliebene Zeugen Jehovas! Eigentlich kein Wunder, bei der Musik, die sie über sich ergehen lassen müssen...”
“Das Leben in diesem Ring ist ein ewiger Sonntagnachmittag, ein verkaufsoffener Sonntagnachmittag, versteht sich!”, erklärte Görlitz. “Die Leute hocken in klimatisierten Einfamilienhäusern, gehen zur Messe, beten den Rosenkranz, essen Streuselkuchen und polieren ihre Gartenzwerge. Hin und wieder besuchen sie die Kegelbahn oder den Kuschelzoo, wo sie zahme Löwen und Tiger streicheln. Selbst die Natur hat hier ihren Biss verloren...”
“Diesen elenden Dauergrinsern scheint das auch noch zu gefallen!”, erboste sich Nietzsche. “Unerträglich! Vegetarische Kuschellöwen – das ist der Höhepunkt der Dekadenz!”
Jan nickte: “Ich glaube, diese christlichen Schafe werden noch ‘Der Herr ist mein Hirte’ blöken, wenn sie zum Schlachter geführt werden...”
“Das ist gut vorstellbar!”, meinte Görlitz. “Möglicherweise aber – ich will es nicht beschwören – werden sie am Tag des Jüngsten Gerichts schweißgebadet aus ihrem Spießertraum erwachen und um Hilfe schreien... Aber dann wird es zu spät sein!”
Der Chor begann wieder, seine naive Weise anzustimmen: “Der liebe Jesus liebt dich, drum prei-ei-set den Herrn...”
“Kommt, lasst uns schnell hier verschwinden!”, sagte Elli. “Es kann auf Dauer nicht gesund sein, sich diesem Schwachsinn auszusetzen...”
Eilig durchschritten sie die Reliquienabteilung. Durch eine Glastür gelangten sie auf eine breite Terrasse. Jetzt erst erkannte Jan, in welcher Höhe sie sich befanden. Die Erde lag einige hundert Meter unter ihnen.
“Streckt eure Arme nach oben!”, befahl Görlitz. “Es wird gleich etwas ruppig werden, aber ihr braucht keine Angst zu haben! Es wird euch nichts geschehen!”
Görlitz hob seine Arme in die Höhe: “Veni creator spiritus!”, rief er mit lauter Stimme. “Da gaudiorum praemia! Komm, Schöpfer Geist! Schenk uns die Freuden des Himmels!”
Jan schaute nach oben. Die Wolken begannen, sich im Kreis zu bewegen. In ihrer Mitte erstrahlte ein helles Licht. Der kreiselnde Tanz der Wolken wurde wilder und wilder. Jan verlor die Orientierung. Er schwankte.
“Am besten, ihr schließt jetzt die Augen!”, empfahl Görlitz.
Jan folgte dem Rat. Er spürte, wie sein Körper langsam von der Terrasse abhob. Der Sog wurde stärker, sein Flug durch die Lüfte schneller. Jan hatte das Gefühl, die Beschleunigung würde seinen Körper zerreißen. Er konnte kaum noch atmen. Er rief nach Hilfe. Aber niemand antwortete. Wenige Sekunden später verlor er das Bewusstsein.