Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Hoffnung jenseits der Illusionen?
Die Perspektive des evolutionären Humanismus
 Vortrag bei der Freien Akademie, Schloss Schney, Mai 2002

 

Vor einigen Jahren fand ich in einer deutschen Tageszeitung eine kurze, aber interessante Notiz. Sie handelte von der tragisch-komischen Geschichte eines Amerikaners, der sich und der Welt beweisen wollte, dass der Mensch von Grund auf „gut“ sei. Er hatte sich vorgenommen, Hunderte von Kilometern zu marschieren – nur mit dem Notwendigsten ausgerüstet, in der Hoffnung, dass er auf Artgenossen träfe, die ihm bereitwillig unter die Armen greifen würden. Da die lokalen Medien recht ausführlich über das hoffnungsvolle Anliegen des guten Mannes berichteten, wurde ihm beim Start ein fröhlich jubelndes Publikum beschert. Kaum aber hatte er die Stadtgrenze erreicht, erlebte er sein blaues Wunder. Es begann damit, dass ein Wagen neben ihm anhielt. Die beiden Insassen fragten ihn, ob er der Mann sei, der beweisen wolle, dass die Menschheit gut sei. Der ahnungslose Menschenfreund bejahte die Frage und womöglich hoffte er insgeheim, ein paar aufmunternde Worte oder vielleicht sogar eine kleine Weggabe zu erhalten. Doch weit gefehlt! Die beiden Männer sprangen aus dem Wagen, schlugen unseren Helden nach Leibeskräften zusammen, beraubten ihn all seiner Habseligkeiten und warfen ihn anschließend – als letzten Gipfel der Boshaftigkeit - über die Brücke in den mehrere Meter darunter liegenden Fluss. Glücklicherweise wurde er dort wenig später von Passanten gefunden und in ein Krankenhaus gebracht, wo er langsam wieder zu Kräften kam.

Ich weiß nicht, was der Mann dachte, als er schwer verletzt im Krankenhaus aufwachte, ob er seine ursprüngliche Idee, der Mensch sei gut, revidierte oder trotz allem weiter an seinem Vorhaben festhielt. Jedenfalls kennzeichnet seine leidvolle Geschichte trefflichst die Eckpfeiler meines Themas, nämlich den schmalen Grat zwischen Hoffnung und Illusion, bzw. zwischen einem allzu gutgläubigen Humanismus und einem allzu düsteren Zynismus.

Selbstverständlich: Man kann sich mit durchaus guten Argumenten auf den zynischen Standpunkt stellen und sagen, dass dieser im doppelten Sinne „blauäugige“ Humanist es kaum besser verdient hatte. Doch ist die Moral von der Geschicht’ wirklich, dass der Mensch im Kern eine Bestie ist, der man niemals ungestraft über den Weg trauen darf?

Ich möchte diese Frage verneinen und im Folgenden eine Position skizzieren, die zwar einerseits einige liebgewordene, humanistische Illusionen über das Menschsein verwirft, die aber andererseits mit den zentralen Anliegen des Humanismus behutsamer umgeht, als es die beiden Zyniker im Falle des unglücklichen amerikanischen Menschenfreundes getan haben.

Zur Vorgehensweise: Im ersten Schritt werde ich die Entwicklung des traditionellen Humanismus kurz skizzieren und dabei vor allem auf das humanistische Menschenbild eingehen, das für die Entwicklung des Abendlandes von großer Bedeutung war. In einem zweiten Schritt sollen dann einige zentrale Erkenntnisse der modernen Wissenschaft präsentiert werden, die – ob man das will oder nicht - auf eine radikale Entzauberung dieses humanistischen Menschenbildes hinauslaufen. Zum Abschluss werde ich eine Synthese dieser beiden Ansätze versuchen - in der hoffentlich nicht illusionären Erwartung, dass sich daraus ein halbwegs stimmiges Bild eines zeitgemäßen, evolutionären Humanismus ergibt.

 

 

1. Teil
Das Wahre, Schöne, Gute – oder:
warum die Humanisten sich als „Krönung der Schöpfung“ begriffen

 

Der Begriff „Humanis­mus“ wurde erstaunlich spät - nämlich 1808 von Immanuel Niethammer - in den deutschen Sprachgebrauch eingeführt(1), aber die dahinter stehende Kernidee ist beileibe keine Erfindung der Neuzeit. Der lateinische Begriff „humanitas“ beispielsweise  stammt aus der Mitte des vorletzten Jahr­hunderts vor unserer Zeitrechnung. Vor allem Cicero verlieh diesem Begriff Profil(2) und nicht umsonst ist sein Einfluss über die Jahrhunderte hinweg bis heute zu spüren.

Für Cicero und seine Nachfolger ist Gelehrsamkeit (doctrina) die zentrale Tugend, die man besitzen muss, um ein echter, das heißt: den Idealen des Humanismus entsprechender Mensch zu sein. Der durch „humanitas“ legitimierte Führungs­anspruch wird nicht mehr durch die Ahnengalerie bestimmt, sondern muss vom Indi­viduum selbst erworben werden. Deutlich zeigt sich bereits hier - bei Cicero, der als Mitglied der Partei der „Popularen“ den ererbten Herrschaftsanspruch des römischen Altadels in Frage stellte - das später noch deutlicher werdende Klas­seninteresse des aufstrebenden Bürgertums, das danach trachtete, die prämoderne Würde des Adelstitels durch die moderne Würde der Ge­lehrsamkeit zu ersetzen.(3)

Nachdem die an antike Autoren anknüpfenden Renaissance-Humanisten den Grundstein ge­legt hatten, waren es im 17., 18. und 19. Jahrhundert Theoretiker wie Locke, Spinoza, Leibniz, Rousseau, Voltaire, Lessing, Herder, Kant oder Humboldt, die die geistige Vorherrschaft des vormodernen Denkens mehr und mehr überwanden. Eine Leistung, die sicherlich kaum hoch genug geschätzt werden kann. Doch das Projekt der humanistischen Aufklärung war aufgrund der stark idealistischen Grundtendenz(4) von Anfang an auch mit Vorannahmen verbunden, die sich aus heutiger Perspektive als überaus problematisch erweisen. Ich will hier nur einige zentrale Aspekte herausgreifen:

 

1) Das Ideal des Menschen als einem freien, autonomen Subjekt der Geschichte

Dieses Ideal entstand gewissermaßen als Kontrapunkt zum vormodernen Leitbild eines durch Gott und Schicksal bestimmten Menschen.(5) Das moderne Freiheitsideal umfasste zwei zentrale Elemente, nämlich erstens den Begriff der Handlungsfreiheit, der politisch auf eine Reduzierung von staatlichen und gesellschaftlichen Handlungszwängen ausgerichtet war, zweitens den Begriff der Willensfreiheit, der zur Begründung einer echten Autonomie des Individuums notwendig erschien. Dummer Weise stand diese Idee der Willensfreiheit jedoch im Gegensatz zur fortschreitenden wissenschaftlichen Erhellung der Kausalitätsverhältnisse in der Natur. Die Kardinalsfrage war: Wie konnte es einen „freien Willen“ geben, wenn in der Natur doch das Kausalprinzip vorherrschte, Wirkungen also stets auf Ursachen zurückzuführen waren? Um dieses Problem zu lösen, musste man eine weitere Vorannahme einführen…

 

2) Die Unterstellung eines fundamentalen Unterschiedes von Körper und Geist, Natur und Kultur

Mithilfe der Descartesschen Unterscheidung von Körper und Geist bzw. Leib und Seele versuchte man zu erklären, warum auf der Ebene des Körpers Naturkausalitäten wirkmächtig seien, der Geist des Menschen davon jedoch unberührt bliebe. Indem man den Menschen derart aus dem Naturzusammenhang riss, konnte man ihn auch außerhalb theologischer Zirkel noch als „Krone der Schöpfung“ begreifen. Allerdings wies man diese noble Rolle nicht dem Menschen als biologischem Lebewesen zu, sondern vielmehr dem gebildetem Kulturwesen, konkret: dem vernunftsgeleiteten Europäer, der sich dank seiner vermeintlich hoch entfalteten Geisteskräfte nicht nur über das Tierreich, sondern auch über die Mitglieder sog. „Naturvölker“ erhaben fühlen durfte.

 

3) Der Mythos einer vernunftsbestimmten Einheit des Wahren, Schönen und Guten

„Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, lautete der bekannte, von Immanuel Kant geprägte Wahlspruch der Aufklärung.(6) Der autonomen, über allen natürlichen Kausalitäten schwebenden Vernunft wurde die Fähigkeit zu erdacht, objektiv unterscheiden zu können, was richtig und falsch, schön und unschön, gut und böse sei. Mehr noch: Die derart auf die Erkenntnis des Wahren, Schönen, Guten ausgerichtete Vernunft sollte nicht nur präzise theoretische Urteile fällen können, sondern auch die Menschen prinzipiell in die Lage versetzen, entsprechend aufgeklärt zu handeln. Hierauf gründeten sich die freudigen Erwartungen eines „ewigen Weltfriedens“ oder eines „Reichs der Freiheit“, in dem aufgeklärte Menschen jenseits trennender Eigeninteressen ein Leben in Freiheit und Gleichberechtigung führen würden.

 

4) Der Glaube an eine inhärente Fortschrittsautomatik in Kultur und  Natur

Charakteristisches Merkmal aller modernen, aufklärerischen, humanistischen Philosophien war ein starker Fortschrittoptimismus, der besonders im Kontrast zu den „unzeitgemäßen Betrachtungen“ Schopenhauers oder Nietzsches deutlich wird. Schopenhauers philosophischer Erzfeind Hegel war es auch, der mithilfe des dialektischen Dreisprungs von These, Antithese und Synthese dem modernen Fortschrittsglauben eine folgenreiche Fassung gab. Deshalb verwundert es nicht, dass sich wohlgesittete Bildungsbürger ebenso gerne auf ihn beriefen wie marxistische Revolutionäre.  Beide übersahen seltsamerweise mit allzu erwartungsfrohem, hegelianischem Blick, dass nicht nur „das Bessere“ „Feind des Guten“ ist, sondern auch „das Schlechtere“, wie die katastrophalen Zivilisationseinbrüche des 20. Jahrhunderts wenig später eindrucksvoll beweisen sollten.

Wie stark der fortschrittsoptimistische Geist der Aufklärung war, erkennt man u.a. daran, dass selbst Darwin und seine Nachfolger anfangs keine Zweifel am linearen Entwicklungsmodell  hatten. Die Evolution wurde interpretiert im Sinne eines mehr oder weniger eindeutigen, gerichteten Trends vom Einfachen zum Komplexen. So konnte der Mensch auch in darwinistischen Kreisen als Krönung der Schöpfung verstanden und eine sinnvolle Zielperspektive der Evolution unterstellt werden.

Heute ist uns allerdings selbst dieser kleine Trost genommen, denn „Evolution“ muss nicht zwangsweise auch „Fortschritt“ bedeuten. Stephen J. Gould hat gezeigt(7), dass der Eindruck einer zielgerichteten Entwicklung auf einer statistischen Fehlwahrnehmung beruht, die fahrlässig übersieht, dass die primitiven Lebensformen, die zu Beginn der Evolution entstanden, prinzipiell nicht weiter vereinfacht werden konnten. Das Leben musste erst einmal ein gewisses Komplexitätsniveau erreichen, um sich überhaupt  zurückentwickeln zu können, was dann in vielen Fällen auch geschah. Insgesamt kann man feststellen, dass die Evolution kein gradliniger, auf Vervollkommnung ausgerichteter Wachstumsprozess ist, sondern vielmehr ein „Zickzackweg auf dem schmalen Grat des Lebens“, wie es Franz Wuketits einmal sehr treffend ausdrückte.(8) Dies gilt übrigens nicht nur für die biologische, sondern auch für die kulturelle Evolution, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden.

 

 

2. Teil
Die große Ent-täuschung - oder:
Wie die wissenschaftliche Entzauberung den Humanismus erschüttert(e)

 

Die Logik der Wissenschaft ist bekanntlich eine Logik des Zweifelns und als solche prinzipiell unersättlich. Einmal in Fahrt gekommen, kann der Zug der wissenschaftlichen Entzauberung nirgends Halt machen, nicht einmal vor der eigenen Tradition.(9) Das bekam auch der Humanismus zu spüren, der zweifellos an der Entstehung der modernen Wissenschaft mitbeteiligt war. Im Folgenden möchte ich kurz anreißen, wie die skizzierten Ideale des Humanismus unter die Räder der wissenschaftlichen Forschung gerieten und was von ihnen nach diesem mehr oder weniger heftigen Zusammenstoß übrig geblieben ist. Dabei werde ich in umgekehrter Reihenfolge vorgehen, also zunächst mit dem ins Wanken gekommenen Glauben an eine Fortschrittsautomatik beginnen und mich dann bis zur humanistischen Unterstellung der Willensfreiheit vorarbeiten. Dies hat vor allem dramaturgische Gründe, denn die Bestreitung der These, dass der Mensch ein wahrhaft autonomes Subjekt sei, dürfte sicherlich die größte Provokation sein, mit der der Humanismus gegenwärtig zu kämpfen hat.

 

2.1 Fortschreiten ohne Fortschritt

Wie gesagt: Der naive Fortschrittsoptimismus des 19. Jahrhunderts konnte im katastrophalen 20. Jahrhundert schwerlich aufrechterhalten werden. Die unzähligen Toten der beiden Weltkriege, die Barbarei des Nationalsozialis­mus, die von der Sowjetunion ausgehende Perversion der sozialistischen Idee, die Verelendung der sog. Dritten Welt und die schier unaufhaltsame Zerstörung der Natur - all diese Fakten mussten den humanistischen Fortschrittsglauben nachhaltig erschüttern. Symptomatisch in diesem Zusammenhang der Werdegang von Max Horkheimer, der einst fortschrittsgläubig mit Hegel und Marx das Projekt der Kritischen Theorie gestartet hatte. Am Ende seines Lebens, nachdem ihm die verheerende „Dialektik der Aufklärung“ klar geworden war, hatte er den großen Traum von einer besseren, menschlicheren Zukunft fast gänzlich abgeschrieben und fand sich mehr und mehr in den pessimistischen Schriften Arthur Schopenhauers wieder.

Auch wenn man diesen letzten Schritt Horkheimers nicht unbedingt nachvollziehen muss, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass die humanistische Unterstellung eines permanenten Fortschritts auf sandigem Boden errichtet wurde. Denn die kulturelle Evolution der Menschheit ist nicht per se auf eine wie auch immer geartete Höherentwicklung ausgerichtet – weder in ethischer noch in technischer Hinsicht. Zwar leben wir, die Mitglieder der reichen Industrienationen, in erstaunlich freien und gesicherten Verhältnissen, Zustände, die in der Menschheitsgeschichte durchaus einmalig sind. Aber abgesehen davon, dass wir nur eine kleine, beneidenswerte Minderheit auf diesem Globus repräsentieren und es vielen Menschen gegenwärtig schlechter ergeht, als es ihnen Jahrhunderte zuvor in ihren Regionen ergangen wäre, - abgesehen davon, kann niemand ausschließen, dass sich die Verhältnisse nicht auch für uns irgendwann ins Katastrophale verkehren. (Der menschenfreundliche griechische Philosoph Epikur hatte sich in seinem Garten der Lüste sicherlich auch nicht die Qualen der Spanischen Inquisition vorstellen können.)

Eine zwangsläufige ethische Höherentwicklung unserer Spezies sollten wir deshalb nicht erwarten. Aber wie steht es um den technischen Fortschritt? Die technische Weiterentwicklung vom Faustkeil hin zur Atombombe wird man doch wohl nicht leugnen können. Oder vielleicht doch? Nun, wie wir wissen, sind einige bahnbrechende technische Erfindungen im Laufe der kulturellen Entwicklung doch wieder in Vergessenheit geraten. So etwas könnte zweifelsohne auch in Zukunft geschehen, ausgelöst beispielsweise durch einen atomaren Krieg oder – wie dies häufig beim Zusammenbruch großer antiker Kulturen der Fall war – durch eine folgenschwere ökologische  Katastrophe.

Die Erkenntnis übrigens, dass eine Katastrophe – und zwar eine schleichende ökologische Katastrophe kosmischen Ausmaßes - das letzte Wort im Drama des Lebens haben wird, sorgte schon im 19. Jahrhundert für starke Risse in der Fassade des modernen Fortschrittsglaubens. Ausgehend vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik prognostizierten Physiker den Wärme- bzw. den Kältetod des Weltalls, einen Zustand gleichmäßiger Temperaturverteilung, der keine Energieumwandlung, also folglich auch kein Leben mehr erlaube. Auch wenn die Erkenntnisse der Quantenmechanik und der Relativitätstheorie einige Modifikationen dieses traditionellen kosmologischen Modells notwendig machten, an der grundlegenden Feststellung, dass das Leben ein zeitlich begrenztes Phänomen im Universum ist, hat sich selbstverständlich nichts geändert.(10)

Alle menschlichen Errungenschaften, alle Philosophien, Künste, Techniken, alle Hoffnungen, Träume, Sehnsüchte – nichts wird von nachhaltiger Dauer sein. Der sinnentleerte Kosmos richtet sich nicht nach dem bewährten Muster erfolgreicher Hollywoodfilme, sondern verwehrt uns das Happy End. Am Ende der Zivilisation steht nicht der dauergrinsende Mr. Fortschritt, sondern das heillose, trostlose Nichts.

 

2.2 Pluralität und Eigennutz: Die doppelte Bedrohung des Wahren, Schönen und Guten

Die heile Welt des Humanismus, in der die Vernunft einheitsstiftend das Wahre, Schöne und Gute gebären sollte, geriet unter den Druck zweier Erkenntnisse, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten, nämlich erstens der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis der kulturellen Pluralität bzw. Relativität von Bewertungen und zweitens der naturwissenschaftlichen Erkenntnis eines durchgreifend gültigen biologischen Monismus. Was ist darunter verstehen?

Beginnen wir mit der Erkenntnis kultureller Pluralität: Systematische Vergleiche verschiedener Kulturen zeigten auf, dass ethische oder ästhetische Bewertungen sehr unterschiedlich ausfallen können und dass sie stets abhängig sind von den ökonomischen, ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen einer Kultur. Wie wir wissen, können die Unterschiede in den Bewertungsmustern dramatische Ausmaße annehmen. Osama bin Laden beispielsweise erscheint vielen westlichen Beobachtern heute als der Schurke schlechthin, die Bildzeitung fragte sogar allen Ernstes, ob der Mann der prophezeite Anti-Christ sei. Innerhalb bestimmter Teile der muslimischen Welt hingegen, gilt der Mann selbstverständlich als Heiliger, als gottgesandter Kämpfer gegen den Terror der Ungläubigen.

Wohl gemerkt: Es handelt sich hier nicht allein um eine Differenz in der ethischen Bewertung. Zweifellos würde ein gläubiger Taliban auch unsere ästhetischen Urteile z.B. im Bereich der Musik nicht teilen, genauso wenig wie er eine wissenschaftliche Aussage als Wahrheit akzeptieren würde, wenn sie dem Koran widerspräche.  Mit dem quantitativen Maß an Bildung scheint all dies wenig zu tun zu haben. Bekanntlich waren die Attentäter des 11. September vergleichsweise hoch gebildet, was zeigt, dass die humanistische Formel „Je gelehrter, umso menschlicher!“ kaum in dieser einfachen Ausprägung auf die Wirklichkeit anwendbar ist.

Halten wir fest: Wie es scheint, gibt es nicht EINE Vernunft, die das EINE Wahre, Schöne und Gute gebiert, sondern allenfalls viele Vernünfte, die von Kultur zu Kultur, von Subkultur zu Subkultur unterschiedliche Wahrheiten, Schönheiten und Gerechtigkeitsvorstellungen hervorbringen und damit genau jenes Wert-Chaos erzeugen, das wir mit einiger Sorge in der Welt beobachten können.

Kommen wir zum biologischen Monismus: Evolutionstheoretiker sammelten überzeugende Indizien, die nahe legen, dass hinter diesen vielfältigen kulturellen Unterschieden doch ein allgemeines Prinzip zu wirken scheint – freilich nicht das Prinzip der Vernunft, sondern das Prinzip des Eigennutzes. Lebewesen sind Systeme, die von eigennützigen Interessen gesteuert werden. Dabei ist das Reproduktionsinteresse bekanntlich von besonderer Bedeutung, was sich u.a. darin zeigt, dass Lebewesen oftmals hohe Kosten und Risiken in Kauf nehmen, um sich fortzupflanzen zu können.

Richard Dawkins entwickelte in diesem Zusammenhang die Theorie des egoistischen Gens, eine Idee, die sich in der Forschungsarbeit als überaus fruchtbar erwiesen hat.(11) In der Tat lassen sich auf der Basis der Annahme, dass egoistische Gene das Verhalten der Organismen steuern, um dadurch den eigenen Fortpflanzungserfolg zu garantieren, erstaunlich präzise Aussagen über das tatsächliche Verhalten von Lebewesen machen. Und das gilt nicht nur für Ameisen, Ratten oder Pandabären, sondern auch für Menschen.

Allerdings: Wie das Beispiel der Attentäter vom 11. September zeigt,  scheint der Egoismus der Gene das Verhalten von Menschen nicht hinreichend beschreiben zu können, denn schließlich opferten diese jungen Männer ihr Leben, lange bevor sie das Ende ihrer biologischen Reproduktionsfähigkeit erreicht hatten. Gleichermaßen lässt sich auch der mehr oder weniger freiwillige Zölibat katholischer Geistlicher schwerlich mit dem Egoismus der Gene erklären. Dawkins war das wohl von Anfang an bewusst und deshalb stellte er dem Egoismus der Gene einen Egoismus der Meme gegenüber. Was aber ist ein “Mem”? Dawkins fasste hierunter jegliche Idee, Verhaltensweise  oder Fertigkeit, die anderen durch Imitation übertragen werden kann. Meme (beispielsweise Geschichten, religiöse Dogmen, Moden, Rezepte, Lieder) sollen wie Viren von Gehirn zu Gehirn springen und die Gedanken, Vorstellungen und Wünsche der Menschen infizieren können.(12)

Selbstverständlich fällt es uns schwer, Meme als selbständig agierende Replikatoren vorzustellen. Geschichten und Melodien mögen ja vielleicht lebendig wirken, aber natürlich sind sie es nicht. Schon die Dawkinssche Vorstellung von Genen, die sich Körper schaffen, um sich fortpflanzen zu können, ist schwer nachvollziehbar. Umso grotesker mutet die Idee an, Meme würden eigenmächtig Gehirne, Bücher, Cds oder das Internet als “Vehikel” benutzen, um sich ausbreiten zu können.

Dennoch macht es Sinn, die Mem-Metapher heuristisch zu gebrauchen, also davon auszugehen, dass Menschen sich so verhalten, als ob Meme selbstreplizierende Informationseinheiten wären. Unsere Gehirne konsumieren und erschaffen täglich unzählige Meme, an deren Verbreitung und Untergang wir via Kommunikation teilhaben. Ihr Einfluss auf unser Verhalten ist so stark, dass der Egoismus der Meme den Egoismus der Gene durchaus dominieren kann, was u.a. am Beispiel religiöser Selbstmordattentäter leicht veranschaulicht werden kann.

Es spricht also Einiges dafür, dass das Wahre, Schöne, Gute weder im Singular existiert noch dass er von einer freischwebenden, autonomen Vernunft erzeugt wird.  Die zahlreichen, miteinander konkurrierenden Vorstellungen von Wahrheit, Ethik und Ästhetik scheinen vielmehr das Ergebnis eines scharfen Wettbewerbs zu sein, den egoistische Gene und Meme untereinander austragen.

 

2.3 Descartes’ Irrtum

Die von Rene Descartes prägnant formulierte These eines Dualismus von Körper und Geist  bzw. von res extensa und res cognitans erwies sich zwar im Rahmen der abendländischen Kulturentwicklung als außerordentlich fruchtbares Mem, aber die Erkenntnisse der modernen Neurobiologie legen nahe, dass es sich dabei um einen Irrtum handelte. Die so genannten höchsten Geistestätigkeiten lassen sich nämlich nicht vom Aufbau und der Arbeitsweise des biologischen Organismus trennen.(13) Jeder Gedanke, jede Empfindung, jedes Urteil, beruht auf körperlichen Prozessen. Wenn bestimmte Teile des Gehirns elektrisch gereizt werden, erleben wir einen Geschmack auf der Zunge oder vielleicht sogar das Gefühl, uns dem sexuellen Höhepunkt zu nähern.(14) Werden bestimmte Hirnregionen verletzt, führt dies dazu, dass wir die Fähigkeit verlieren, Entscheidungen zu treffen oder unser eigenes Spiegelbild zu erkennen. Mehr noch: Während Rene Descartes noch davon ausging, dass das autonome, denkende Ich in begrenztem Umfang über seinen Körper bestimmen könne, müssen wir heute akzeptieren, dass das denkende Ich nichts weiter ist als ein Artefakt des körperbewussten Gehirns.(15) Will heißen: Das für unser Selbstverständnis zentrale und intuitiv überzeugende Gefühl, dass wir autonom handelnde Subjekte sind, ist das Resultat einer geschickten Selbsttäuschung unseres Organismus. Das bewusste Ich wird erzeugt und gesteuert von neuronalen Prozessen, die selbst unmittelbar nicht erfahrbar sind.

 

 

2.4 Die Entzauberung der Willensfreiheit

Mit dem Dualismus von Körper und Geist fällt das Hauptargument, das die Vertreter der Willensfreiheitshypothese für sich in Anspruch nehmen konnten. Wenn wir Menschen wie alle anderen Lebewesen der Naturkausalität, dem Wechselspiel von Ursache und Wirkung, unterworfen sind, kann es selbstverständlich keinen freien Willen im eigentlichen Sinne des Wortes geben.(16) Das belegen auch zahlreiche neurobiologische Untersuchungen, die erstmals empirisch nachgewiesen haben, dass wir nicht wollen können, was wir wollen, sondern vielmehr wollen müssen, was uns unser Gehirn auf der Basis unbewusster, neuronaler Prozesse zu wollen vorgibt.(17)

Diese ernüchternde Erkenntnis hat gravierende Konsequenzen – auch für die Philosophie des Humanismus, die durch die Entzauberung der Willensfreiheitsidee den Adressaten ihrer Botschaft zu verlieren scheint, nämlich den Menschen als freiem, autonomem Gestalter der Geschichte.

Denn: Welchen Sinn haben humanistische Appelle überhaupt noch, wenn Menschen nichts weiter sind als Marionetten unbewusst ablaufender Neuronenfeuer? Mit welchem Recht sollten wir einen Menschen  (beispielsweise einen Massenmörder) moralisch verurteilen können, wenn nie die Möglichkeit bestanden hat, dass er sich anders hätte entscheiden können, als er es getan hat?  Ist der Humanismus bei Licht betrachtet nicht ein völlig absurde Veranstaltung, die die Rechnung ohne den Wirt macht, eine bloße Illusion, die die hirngesteuerten, von genetischem und memetischem Eigennutz getriebenen Organismen der Gattung homo sapiens hoffnungslos überfordert?

Mit diesen brennenden Fragen werden wir uns nun im abschließenden 3. Teil beschäftigen müssen.

 

 

3. Teil
Vom blauäugigen zum evolutionären Humanismus oder:
wie man es vermeidet, Zyniker zu werden

 

Julian Huxley prägte Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts den Begriff des evolutionären Humanismus.(18) Darunter verstand er eine philosophische Sichtweise, die einerseits auf das Wohl aller Menschen ausgerichtet ist, andererseits aber nicht den Fehler macht, sich den traditionellen Illusionen über das Menschsein hinzugeben. Er riet seinen Zeitgenossen, damit aufzuhören, sich in intellektueller wie ethischer Hinsicht wie Austern zu verhalten und den Kopf in gewollter Blindheit in den Sand zu stecken.(19)

Freilich: Heute, vierzig Jahre später,  sind die Gefahren, die Huxley aufzeigte (u.a. Überbevölkerung, Kriege, Umweltzerstörung und die verheerende Kluft zwischen Arm und Reich), längst nicht beseitigt, einige Probleme haben sich eher zugespitzt. Auch der illusionäre, „supranaturalistische“ Blick auf den Menschen ist längst nicht überwunden, denn immer noch haben viele Menschen starke innere Widerstände, die ernüchternden, wissenschaftlichen Erkenntnisse anzunehmen und sich selbst als Naturwesen zu begreifen. Dies scheint auf den ersten Blick nur allzu verständlich zu sein, ist doch die wissenschaftliche Entzauberung des Menschen mit einer empfindlichen, narzisstischen Kränkung unseres Selbstbildes verbunden. Allerdings wird dabei leicht übersehen, dass der illusionslose Blick auf homo sapiens durchaus auch Hoffnungen wecken kann. Um dies begründen zu können, müssen wir uns ein letztes Mal den entzauberten humanistischen Idealen zuwenden.

 

3.1 Wenn Fortschritt möglich, aber nicht unvermeidlich ist

Wir hatten festgestellt, dass weder die biologische noch die kulturelle Evolution per se auf Fortschritt ausgerichtet ist, ja dass - im kosmischen Maßstab betrachtet - der endgültige Untergang unserer Spezies fest vorprogrammiert ist. Die Frage ist allerdings, ob das wirklich so schlimm ist, wie es im ersten Moment erscheinen mag, oder ob daraus nicht vielleicht sogar eine Chance erwächst. Denn immerhin messen wir dem Leben gerade deshalb einen besonderen Wert bei, weil es endlich ist. Genauso könnte die Erkenntnis der Endlichkeit der menschlichen Zivilisation sowie der Fragilität des Fortschritts dem Leben im Hier und Jetzt eine größere Bedeutung geben.

Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass die moderne Fortschrittsgläubigkeit stets auch mit großen Gefahren verbunden war. Bekanntlich legitimierte der real existiert habende Sozialismus die Entsagungen der Gegenwart über die Verheißung eines vermeintlich sicheren Fortschritts in der Zukunft. Wenn wir die bittere Pille der Fortschrittsungewissheit erst einmal geschluckt haben, dürften wir gegen derlei ideologische Manöver nicht mehr so anfällig sein. Stattdessen könnten wir dem alten Ratschlag der epikureischen Philosophie folgen und den Tag nutzen (Carpe diem). Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass wir in irgendeiner Weise zukunftsblind agieren müssten. Natürlich werden wir weiterhin für möglichst gute Bedingungen  in der Zukunft sorgen müssen. Allerdings wird auch diese Aufgabe besser zu erfüllen sein, wenn wir uns zuvor von der naiven Fortschrittserwartung befreit haben.

 

3.2 Das egoistische Humanismus-Mem oder: die Einheit in der Vielfalt

So schrecklich es auch klingt: Die Anschläge des 11. Septembers waren vom genetischen Standpunkt aus betrachtet erstaunlich uneigennützige Taten. Die Attentäter opferten ihr Leben, allein um den von ihnen vertretenen Ideen in der Welt mit einem Donnerschlag Gehör zu verschaffen. Zweifellos birgt dieser Triumph des memetischen über den genetischen Eigennutz ein großes Gefahrenpotential, aber prinzipiell zeigt es auch die Möglichkeit auf, dass sich das egoistische Humanismus-Mem ähnlich machtvoll im Kampf um Fortpflanzungserfolg behaupten könnte.

Selbstverständlich muss man an dieser Stelle einräumen, dass das Humanismus-Mem mit schweren Handicaps belastet ist, die seine Fortpflanzungs-Chancen im Vergleich mit religiösen Heilserzählungen mindern. So kann der Humanismus nicht mit Belohnungen im Jenseits locken oder sich auf den Willen eines vermeintlich allmächtigen Gottes berufen und sich dadurch unangreifbar machen. Zudem stützt er nicht die allseits beliebte gruppennarzisstische Ausgrenzung der so genannten „Fremden“  und last but not least kann er zur Durchsetzung seiner Ziele auch nicht rücksichtslos über Leichen gehen, da dies den Kern der humanistischen Idee selbst beschädigen würde.

Dennoch: Auch das Humanismus-Mem hat seine Stärken: Dazu zählt ganz sicherlich, dass es hervorragend Allianzen mit dem mächtigen Memplex der Wissenschaft eingehen kann. Die wissenschaftliche Entzauberung der Welt muss den Humanismus im Unterschied zu den Religionen nicht in den Grundfesten erschüttern. Im Gegenteil: Je entzauberter die Welt, desto deutlicher präsentiert sich der Humanismus als beste Alternative zu haltlos gewordenen religiösen Mythen.

Ein weiterer Vorteil des Humanismus-Mems ist sicherlich in seiner prinzipiellen Offenheit zu sehen. Eine humane Gesellschaft ist eine liberale, eine offene Gesellschaft, deren Toleranzgrenzen nur da enden, wo ganz offensichtlich Inhumanes gefordert oder praktiziert wird. Darüber hinaus muss der Humanismus keine Riten, Schönheitsideale oder Sittlichkeitsmerkmale vorschreiben. Deshalb kann er der Vielfältigkeit der kulturellen Erscheinungsformen mit größerer Gelassenheit, ja mit freudiger Akzeptanz begegnen, denn schließlich ist es sein erklärtes Ziel, dass die Menschen frei nach ihrer eigenen Fasson glücklich werden können. Dies ist deshalb von so großer Bedeutung, da das genetisch und memetisch bestimmte Glückstreben der Menschen der eigentliche Motor unserer Geschichte ist. Wenn es dem Humanismus-Mem gelingen sollte, sich als jene memetische Einheit zu präsentieren, die es ermöglicht, die Vielfalt der menschlichen Glückskonzepte zu realisieren, dürfte es auch gute Karten besitzen, sich im memetischen Fortpflanzungswettbewerb gegen die weltanschauliche Konkurrenz durchzusetzen.

 

 

3.3 Der Genuss, nicht mehr Krone der Schöpfung sein zu müssen

Der Dualismus von Körper und Geist führte in der Vergangenheit dazu, dass die so genannten animalischen Anteile der menschlichen Existenz als peinliche Rudimente einer unfeinen Herkunft angesehen und zugunsten der vermeintlich höher gestellten Geistesfunktionen abgewertet wurden. Mittlerweile aber wissen wir, dass es keinen körperlosen Geist gibt und unsere Gefühle und Leidenschaften eine weit größere Rolle für den kognitiven Entscheidungsprozess spielen, als dies zuvor angenommen wurde.  Studien haben ergeben, dass Menschen mit Störungen in den emotionalen Zentren des Gehirns nicht mehr in der Lage sind, rationale Entscheidungen zu treffen.(20) Das ist eigentlich auch alles andere als verwunderlich, denn die für uns wie für alle anderen Lebewesen konstitutive Fähigkeit, zwischen angenehmen und unangenehmen Reizen  zu unterscheiden, ist die Basis für jede Entscheidung und für jede Bedeutungszuschreibung. Ohne sie wären wir nichts weiter als komplizierte Maschinen, die (ähnlich unseren Computern) Informationen verarbeiten, aber nichts mit ihnen anfangen können.

Wir können also formulieren: Sinn erwächst aus Sinnlichkeit. Wer dies erkannt hat, wird der rationalistischen Triebfeindlichkeit wenig abgewinnen können. Wir sind also gut beraten, unsere animalische Existenz freudig zu akzeptieren und die Fülle an Empfindungen, die uns unsere Natur erlaubt, ohne jede Prüderie zu genießen. So legt uns der evolutionäre Humanismus nahe, aufgeklärte Hedonisten zu sein.(21) Mehr noch: Indem er uns auf unserer Naturhaftigkeit zurückverweist, verstärkt er auch unser Mitgefühl für die uns umgebenden Lebewesen, denn diese haben im Kern keine anderen Ziele als wir. Jedes Lebewesen wird mit der tief verankerten Veranlagung geboren, Lust zu steigern und Leid zu minimieren. Hierin unterscheiden sich die stolzen Mitglieder der Gattung homo sapiens nicht von der gemeinen Spitzmaus.

 

 

3.4 Jenseits von Schuld und Sühne oder: Die Befreiung von der Moral

Die meisten Menschen dürften auf die mittlerweile gut begründete Entzauberung der Willensfreiheitshypothese mit Unverständnis, Widerwillen und starkem Unbehagen reagieren. Zu sehr haben wir uns an die Vorstellung gewöhnt, wahrhaft freie Individuen zu sein, denen jederzeit beliebige Wahloptionen offen stehen. Würde man an dieser Vorstellung rütteln, müssten wir unser Selbstverständnis als Personen von Grund auf revidieren, unsere tradierten Auffassungen von Moral, Verantwortung, Würde und Anstand würden zusammenbrechen.

So schlimm das auch klingt, es kann durchaus sein, dass ein solcher tief greifender Wandel aus humanistischer Perspektive das Beste wäre, was uns passieren könnte.  Denn die Befreiung von der Idee der Willensfreiheit könnte uns den Weg zu einer Kultur des echten Verständnisses ebnen - und das wäre ein entscheidender Schritt, um die verheerende Gewaltspirale zu überwinden, die die menschliche Geschichte im Großen wie im Kleinen geprägt hat. Man bedenke: Jede Schandtat wird noch um einiges schändlicher, jedes Grauen um einiges grauenhafter, wenn wir unterstellen, dass die Täter sich frei dazu entschlossen haben. Erst wenn wir einsehen, dass sich jeder Mensch – ob Opfer oder Täter - nur so verhalten kann, wie er sich zum gegebenen Zeitpunkt verhalten muss, haben wir eine reale Chance, aus dem von Rachegedanken geprägten, moralischen Automatismus von Schuld und Sühne auszubrechen. Echtes Verständnis macht moralische Verurteilung unmöglich. Je genauer wir hinsehen, desto klarer erkennen wir, dass die Täter stets auch Opfer der Geschichte sind.

Unfassbar!, wird da wohl so mancher einwenden wollen, soll das etwa heißen, dass menschenverachtende Diktatoren wie Adolf Hitler oder Josef Stalin im Grunde moralisch unschuldig waren? Sollen wir uns wirklich damit abfinden, dass diese Halunken in Wahrheit arme Kerle waren, die einfach nicht anders konnten, als sie konnten? Auch wenn sich das Herz jedes eifrigen Moralisten darüber böse empören mag, die Antwort lautet: Ja! Und das ist noch nicht alles: Auch die gefeierten, altruistischen Helden unserer Spezies machen in diesem Punkt keine Ausnahme. Auch sie konnten unter Beachtung der Naturgesetze nicht anders können, als sie konnten. So sehr die Moralisten darunter leiden werden: Unter der Perspektive der Willensbedingtheit mutiert nicht nur das so genannte „Böse“, sondern  auch das so genannte „Gute“ zu einem banalen, inhaltsleeren Begriff.

Aber - so wird man hier wahrscheinlich einwenden - läuft eine derartige Entschuldigung schlimmster Verbrechen, ein derartiger Abgesang auf die Moral, nicht auf eine Relativierung aller ethischen Maßstäbe hinaus? Hier lautet die Antwort entschieden: Nein! Denn die moralische Entschuldigung der Täter impliziert nicht notwendigerweise die ethische Rechtfertigung ihrer Handlungen. Im Gegenteil! Massenmord bleibt Massenmord und ist als solcher unter humanistischer Perspektive ethisch nicht zu rechtfertigen. Das aber bedeutet: Wir müssen lernen, die ethische Frage nach der objektiven Verantwortbarkeit einer Tat von der moralischen Scheinfrage nach der subjektiven Verantwortung des Täters zu trennen, denn diese Scheinfrage beruht – wie gesagt - auf einer falschen Denkvoraussetzung, nämlich der Unterstellung, dass ein Mensch zum Zeitpunkt X sich wundersamer Weise hätte anders entschieden können, als er es tat.(22)

Hieran schließt sich die nächste Frage an: Vorausgesetzt dass wir das Prinzip der Schuldfähigkeit nicht mehr für uns in Anspruch nehmen können, wie soll die Gesellschaft unter diesen Bedingungen mit Straftätern umgehen? Wird sie überhaupt noch Haftstrafen aussprechen können? Antwort: Wahrscheinlich schon, allerdings würden die Strafen nicht mehr verhängt werden, um eine vermeintliche moralische Schuld zu sühnen, sondern um durch die Ankündigung von Kosten die Auftrittswahrscheinlichkeit unerwünschten Verhaltens zu reduzieren. Nebenbei: Es ist zu vermuten, dass Verbrechen in einer solchen ethisch – nicht moralisch - argumentierenden Gesellschaft ohnehin seltener auftreten würden, da in ihr der für unsere heutige Gesellschaft typische moralische Nährboden fehlen würde, der zur Ausprägung  von Minderwertigkeits-, Schuld- und Rachegefühlen, aber auch von Stolz und Arroganz, notwendig ist.

Ein letzter Einwand: Widerspricht die dargestellte Idee der Willensbedingtheit bzw. -unfreiheit nicht dem zuvor dargelegten Argument, dass der Humanismus eine offene Gesellschaft anstrebe, in der jeder frei nach seiner Fasson glücklich werden könne? Nun, diese Frage beruht auf einer Verwechslung von Handlungs- und Willensfreiheit. Die offene Gesellschaft verlangt zwar größtmögliche Handlungsfreiheiten der Individuen, mit Willensfreiheit hat dies aber nichts zu tun. Selbstverständlich sollten die Menschen die Chance haben, weitgehend das tun zu können, was sie tun wollen. Dies ist bekanntlich das erklärte politische Ziel jedes humanistischen Liberalismus, zweifellos ein Ziel, für das es sich zu kämpfen lohnt. Für Willensfreiheit einzutreten, ist hingegen eine Don Quichotterie, da wir – wie dargelegt – unter Voraussetzung der Naturgesetze nicht wollen können, was wir wollen. Selbst die beste aller denkbaren Gesellschaftsformen wird daran nichts ändern können.

 

3.5 Nach der Entzauberung: Humanismus oder Zynismus?

Ziehen wir Bilanz: Wir haben gesehen, dass einige traditionelle Ideale des Humanismus der wissenschaftlichen Entzauberung nicht standhalten konnten. Glücklicherweise wird durch die fällige Preisgabe von Illusionen die eigentliche Grundsubstanz des Humanismus nicht angegriffen. Um für gerechtere humane Verhältnisse streiten zu können, muss man weder an garantierten Fortschritt glauben, noch daran, dass homo sapiens als vermeintliche Krönung der Schöpfung die exklusive Eigenschaft besitzt, Naturgesetze zu überschreiten.

Nun mag es beruhigend sein, dass der Humanismus - im Unterschied zu religiösen Weltanschauungssystemen! - den Prozess der wissenschaftlichen Entzauberung heil überstehen kann, aber – Hand aufs Herz - kann beispielsweise der Zynismus nicht das Gleiche für sich beanspruchen? Auf den ersten Blick scheint der Zyniker sogar bessere Karten zu haben als der Humanist. Denn schließlich hat er überhaupt keine Veranlassung, an Fortschritt oder eine metaphysische Seele zu glauben. Der Mensch ist für ihn auch nicht die Krönung der Schöpfung, sondern ein fataler Irrläufer der Evolution. Für den Zyniker steht fest, dass Homo sapiens seine Intelligenz vorwiegend dazu nutzt, um andere effizienter ausbeuten oder ermorden zu können, woran sich seiner Ansicht nach auch in Zukunft nichts ändern wird. Aus diesem Grunde hält er Humanisten entweder für Schwächlinge, die die nüchterne Wahrheit nicht ertragen können, oder aber für Heuchler, die öffentlich das Wasser der Gerechtigkeit predigen, aber heimlich den Wein der Macht genießen, sobald sich ihnen die Gelegenheit dazu bietet.

So gut der Zyniker seine Thesen auch mit den allseits bekannten schrecklichen Fakten der Menschheitsgeschichte belegen kann (niemand wagt zu bestreiten, dass die Geschichte der Menschheit über weite Teile eine Geschichte der Unmenschlichkeit ist!), seine Argumentation ist bei genauerer Betrachtung alles andere als solide. Denn wenn wir sagen, dass es keinen Fortschrittsautomatismus in der biologischen oder kulturellen Evolution gibt, so heißt das natürlich nicht, dass es innerhalb eines begrenzten Zeitfensters keinen Fortschritt geben kann. In der Tat wäre es beispielsweise absurd zu behaupten, dass es seit den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland keine positiven Veränderungen gegeben habe.

Die zynische Übergeneralisierung menschlicher Grausamkeit und Fortschrittsunfähigkeit ist meines Ermessens zu erklären als Reaktionsbildung auf einen allzu starken Idealismus. Zyniker sind häufig enttäuschte Humanisten, die einst besonders hohe Anforderungen an das Menschsein gestellt haben und dann nach einer Reihe ernüchternder Erfahrungen die Flucht nach vorne in den sicheren Hafen des Zynismus angetreten haben. Dieser verwahrt sie davor, wieder enttäuscht oder verletzt zu werden. Wer wie Frank Zappa jeden Menschen bis zum Beweis des Gegenteils für ein Arschloch hält, der wird kaum je einen Marsch antreten, der belegen soll, dass die Menschen gut sind, denn er rechnet von vornherein mit der Möglichkeit, dass er am nächsten Morgen schwer misshandelt auf der Intensivstation des örtlichen Krankenhauses aufwachen könnte. 

Daran sehen wir, dass der Humanismus ein Wagnis ist und auch in Zukunft ein Wagnis bleiben wird. Wir wissen nicht, ob das humanistische Mem sich jemals im memetischen Fortpflanzungswettbewerb wird durchsetzen können. Zwar besitzt der Mensch das Potential, ein außerordentlich kluges, einfühlsames und freundliches Tier zu sein. Doch bislang wütete in unseren Köpfen meist eine Übermacht blutrünstiger Meme, die zuverlässig das bittere Gegenteil davon zu Tage förderten.  Dass  sich an diesem bedauerlichen Zustand etwas wesentlich ändern wird, ist zwar nicht völlig ausgeschlossen, allerdings auch nicht sonderlich wahrscheinlich.

Es ist sicherlich eine der härtesten Anforderungen an den evolutionären Humanismus, dieses Spannungsverhältnis von realistischer Prognose und utopischer Zukunftsvision richtig auszubalancieren. Selbstverständlich dürfen wir dabei weder die zerstörerischen noch die biophilen Potentiale von Homo sapiens unterschätzen. Wenn evolutionäre Humanisten den schmalen Grat zwischen Blauäugigkeit und Zynismus meistern wollen, müssen sie sich illusionslos, aber unverzagt,  den Fakten stellen - und das heißt, dass sie das alles andere als unwahrscheinliche Scheitern ihrer Bemühungen von vornherein einkalkulieren müssen.

Insofern ist Humanismus – wie ich meine - heute nur noch als eine Philosophie des Trotzdem denkbar. Wir dürfen die kulturellen wie biologischen Widerstände, die das humanistische Projekt bedrohen, weder ignorieren noch zum Anlass nehmen, den Kampf für bessere Lebensverhältnisse aufzugeben. Deshalb sollten wir uns möglichst bald mit der unbequemen, paradoxen Leitmaxime anfreunden, die der evolutionäre Humanismus uns abverlangt, nämlich: mit dem Schlimmsten zu rechnen und auf das Beste zu hoffen…

 

 

Anmerkungen:

 

(1) Eigentlich begann der Siegeszug des „Humanismus“ erst 1859, als Georg Voigt den Begriff verwendete, um die Frühzeit der italienischen Renaissance-Epoche zu kennzeichnen. Voigts Arbeit („Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder Das erste Jahrhundert des Humanismus“) war die Initialzündung für die Entstehung des bürgerlichen „Neuhumanismus“-Begriffs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Von da an boomte der Begriff „Humanismus“ nicht nur in Deutschland, sondern ab den 1920er Jahren weltweit.

(2) siehe beispielsweise Ciceros berühmte Abhandlung De re publica („Vom Staat“), die während der Bürgerkriegswirren zwischen 54 und 51 vor Christus entstand:

(3) vgl. Raith, Werner (1985): Humanismus und Unterdrückung. Streitschrift gegen die Wiederkehr einer Gefahr. Frankfurt/M.

(4) Auch die Schriften Feuerbachs oder des frühen Marx änderten wenig am Übergewicht des Idealismus innerhalb der humanistischen Denktradition. Symptomatisch in diesem Zusammenhang die so genannte „Humanistische Psychologie“, die sich in den 1960er Jahren in Amerika zu etablieren begann und die die vermeintliche „Wahlfreiheit des Menschen“ zu ihrem zentralen Leitmotiv erhob. 

(5) vgl. Schmidt-Salomon, Michael (1999): Erkenntnis aus Engagement. Grundlegungen zu einer Theorie der Neomoderne. Aschaffenburg, S.55ff.

(6) Kant, Immanuel (1983): Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel. Darmstadt, Bd. IX, S.53

(7) siehe Gould, Stephen Jay (1998): Illusion Fortschritt. Die vielfältigen Wege der Evolution. Frankfurt/M.

(8) siehe Wuketits, Franz M. (1998): Naturkatastrophe Mensch. Evolution ohne Fortschritt. Düsseldorf. Im Unterschied zu Gould bestreitet Wuketits die Fortschrittautomatik nicht nur in der biologischen, sondern auch in der kulturellen Evolution. Nicht nur in diesem Punkt möchte ich dem Wiener Evolutionstheoretiker zustimmen (siehe die Darlegungen in Punkt 2.1) Ohnehin war Wuketits an der Entstehung dieses Aufsatzes nicht gänzlich unbeteiligt, denn 1. zwangen mich seine zahlreichen Bücher dazu, Stück für Stück jene Biologie-Scheu abzuwerfen, die  für Geistes- und Sozialwissenschaftler auch heute noch typisch ist; 2. wurden mir gerade dadurch einige verdeckte, idealistische Illusionen des Humanismus schmerzlich bewusst; 3. lieferte sein gemeinsam mit Maria Wuketits verfasstes Buch „Humanität zwischen Hoffnung und Illusion“ (erschienen im Kreuz-Verlag, Stuttgart, 2001)  gewissermaßen den Titel für den vorliegenden Aufsatz; und 4. nötigte er mich durch die Einladung zur Tagung der Freien Akademie (Mai 2002 auf Schloss Schney), dazu, diesen Aufsatz/Vortrag überhaupt niederzuschreiben, eine Nötigung, für die ich mich auch an dieser Stelle noch einmal herzlich bedanken möchte.

(9) So folgte auf die moderne Entzauberung der Welt die postmoderne Entzauberung der Entzauberung, die selbstverständlich ihrerseits der wissenschaftlichen Entzauberung bedarf (vgl. Schmidt-Salomon 1999, S. 345ff.).

(10) vgl. Kanitscheider, Bernulf (1995): Auf der Suche nach dem Sinn. Frankfurt/Main, S.58ff.

(11) vgl. beispielsweise Dawkins, Richard (1976/1994): Das egoistische Gen. Heidelberg.

(12) Die bislang beste Darstellung der Mem-Theorie verfasste die englische Psychologin Susan Blackmore (siehe Blackmore, Susan (2000): Die Macht der Meme oder: Die Evolution von Kultur und Geist. Heidelberg.)

(13) siehe Damasio,  Antonio (1994): Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn. München.

(14) vgl. Pöppel, Ernst (2000): Grenzen des Bewusstseins. Wie kommen wir zur Zeit und wie entsteht Wirklichkeit? Frankfurt/Main., S. 156

(15)  vgl. Roth, Gerhard (2001): Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt/Main.

(16) In jüngster Zeit hat Peter Bieri in einer insgesamt bemerkenswert klaren Arbeit den Versuch unternommen, auch den ursächlich bedingten Willen als freien Willen zu begreifen (siehe Bieri, Peter (2001): Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. Darmstadt.) So sehr ich Bieris Arbeit schätze, diese spezielle Begriffsbelegung scheint mir überaus problematisch zu sein. Zwar ist es richtig, dass es sehr wohl einen Unterschied macht, ob man sich in seinen Denkhandlungen frei fühlt oder ob man von bewussten, inneren Zwängen (beispielsweise Waschzwang, Klaustrophobie etc.) getrieben wird. Um Begriffsverwirrungen zu vermeiden, sollte man in solchen Fällen aber nicht von einem Problem der „Willensfreiheit“ sprechen.  Stattdessen schlage ich vor, die Begriffe „innere Handlungsfreiheit“ bzw. „innere Handlungsunfreiheit“ zu gebrauchen. Innere Handlungsunfreiheit (d.h. die Unfähigkeit, das denken oder empfinden zu können, was man eigentlich denken oder empfinden will) kann von Personen zweifellos empfunden und im Idealfall auch behoben werden. Für Willensunfreiheit gilt dies jedoch nicht. Wir verfügen hierfür nicht einmal über das notwendige sensorische Instrumentarium.

(17) siehe beispielsweise Roth 2001, S.427ff.

(18) siehe Huxley, Julian (Hrsg.) (1964): Der evolutionäre Humanismus. München.

(19) Huxley, Julian (1964): Die Grundgedanken des evolutionären Humanismus. In: Huxley, Julian (Hrsg.): Der evolutionäre Humanismus. München, S.26

(20) Hierauf hat vor allem der Neurobiologe Antonio Damasio immer wieder hingewiesen (vgl. hierzu u.a. Damasio 1994)

(21) Zur Philosophie des „aufgeklärten Hedonismus“ siehe Dessau, Bettina/Kanitscheider, Bernulf (2000): Von Lust und Freude. Gedanken zu einer hedonistischen Lebensorientierung. Frankfurt/Main.

(22) Ich schlage daher vor, moralische Argumentationsweisen zugunsten ethischer aufzugeben. Zum (oft übersehenen) Unterschied der Begriffe: Während Moral letztlich auf eine im Metaphysischen verankerte Differenz von Gut und Böse ausgerichtet ist (und sich daher in der Regel auch religiöser „Begründungsmuster“ bedient), versucht Ethik, rational nachvollziehbare, diesseitige Lösungskonzepte für Interessenskonflikte zu ermitteln. Ethik kann somit zur Deeskalation von Konflikten beitragen, die durch scheinbar unverrückbare Moralvorstellungen („Achse des Bösen“) in der Regel erst geschaffen oder zusätzlich zementiert werden. 

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