Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Ist das Christentum
"erledigt"? (1
)

Ist das Christentum erledigt? - Folgt man den sozialwissenschaftlichen Studien, die sich in den neunziger Jahren mit der gesellschaftlichen Akzeptanz christlicher Glaubensüberzeugungen beschäftigt haben, so kann man in der Tat davon sprechen, daß das Christentum über weite Strecken "erledigt" ist.(2) Allerdings gilt dieser Befund vorwiegend für Deutschland und die Niederlande. Völlig anders sieht dies aus in den meisten anderen Ländern der Welt, insbesondere auf der Südhalbkugel, wo vor allem der Katholizismus ungeheure Zuwachsraten hat.

Global gesehen wäre es daher vollkommen verkehrt, davon zu sprechen, daß das Christentum erledigt ist. Im Gegenteil! Zur Zeit rüstet sich das Christentum sehr erfolgreich für den großen ideologischen Zweifrontenkrieg, den es in Zukunft zunehmend führen wird - zum einen gegen den Islam und zum anderen gegen den säkularen Geist der Aufklärung.

Diese Feststellung mag merkwürdig erscheinen für all jene, die das Christentum nur aus der Perspektive der freundlichen, aufgeklärten (ein wenig zahnlosen) deutschen Nachkriegstheologie kennen. Aber - und darauf will ich hier mit Nachdruck hinweisen: In der humanistischen Theologie, wie sie u.a. von Hans Küng, Eugen Drewermann oder Dorothee Sölle vertreten wird, begegnet uns weder das weltpolitisch bedeutsame noch das eigentliche, ursprüngliche, authentische Christentum. (3)

So unangenehm diese Erkenntnis auch den freundlich-zotteligen Religionslehrer unserer Tage sein mag: 2000 Jahre Christentum waren kein Versehen. Man muß den religiösen FundamentalistInnen dieser Erde wohl zugestehen, daß sie - unter der Voraussetzung, daß in den "heiligen Schriften" tatsächlich das Wahre, Schöne, Gute offenbart ist - völlig im Recht sind, wenn sie in den neumodischen Schriften der sogenannten "humanistischen Theologen" Ketzerei, Abkehr vom Glauben, Verführung zum Unglauben sehen. Denn die jeweiligen "heiligen Schriften" und die Ausführungen der jeweiligen Religionsstifter sind längst nicht so human, wie Küng & Co. sich das erträumen. Dies gilt auch (und vielleicht ganz besonders!) für das Christentum. Weder der historische Jesus noch der davon zu unterscheidende geglaubte, retuschiert überlieferte, biblische Jesus Christus waren Propagandisten einer humanen, offen-pluralistischen Weltauffassung. Dies sei nachfolgend in aller Kürze aufgezeigt.

 

1. "Auch ich hätte Jesus gekreuzigt!" - Warum sich HumanistInnen nicht auf den historischen Jesus berufen können

Beginnen wir unsere Analyse mit der unbedeutenderen der beiden Jesusfiguren, also mit dem wirklichen Jesus, dem historischen Jesus, den die ChristInnen aus aller Welt entweder nicht kennen, weil sie den mythischen Jesus für den historischen halten, oder den sie meiden, eben weil sie ihn kennen und wissen, daß die kritische Wahrnehmung des historischen Jesus zum Ende der Dominanz des mythischen beitragen könnte.

Ich fasse im folgenden die Ergebnisse der historisch-kritischen Jesusforschung zusammen: (4)

Der historische Jesus, der wohl als eines von mehreren Kindern von einer Frau namens Maria irgendwo in Galiläa (möglicherweise in Nazareth?) geboren wurde und auf Anweisung des brutal herrschenden römischen Statthalters Pontius Pilatus als Aufwiegler gegen Rom auf abscheuliche Weise hingerichtet wurde, war - aller Wahrscheinlichkeit nach - nicht nur ein religiöser Rebell, der mutig, wenn auch ohne Erfolg, gegen die römische Besatzungsmacht aufbegehrte, sondern auch ein radikaler Ethnozentrist, der nur das Wohl seines, angeblich "auserwählten" Volkes im Auge hatte. Wenn dieser Jesus von "Menschen" sprach, dann meinte er ausschließlich Juden - und hier in der Regel auch meist nur die von männlichem Geschlecht. Römer waren für ihn überhaupt keine Menschen, sondern - dem damaligen Sprachgebrauch entsprechend - "Schweine" und "Säue" (das heißt, er verglich sie mit den aus jüdisch-orthodoxer Sicht unreinsten Tieren). (5) Die anderen Heiden bezeichnete er - auch hier ganz Kind seiner Zeit - durchweg als "Hunde". Insbesondere in den beiden frühen Evangelien Markus und Matthäus, die - trotz aller Verharmlosung der politischen Dimension Jesu - noch etwas weniger verfälscht sind als das Lukas- und vor allem das bereits stark antijüdisch ausgerichtete Johannesevangelium, ist dieser ethnozentristische Zug des jesuanischen Denkens an manchen Stellen noch relativ klar erkennbar. Ein recht gutes Beispiel dafür, wie wenig der historische Jesus an der Idee der universellen Gleichberechtigung aller Menschen interessiert war, ist der Bericht "Erhörung der Bitte einer heidnischen Frau" (Mt 15,21-28, vgl. auch Mk 7,24-30), eine der wenigen Stellen des Neuen Testamentes, die für den historischen Jesus als halbwegs authentisch gelten können: "Da kam eine kanaanäische Frau aus jener Gegend zu ihm und rief: Hab Erbarmen mit mir. Herr, du Sohn Davids! Meine Tochter wird von einem Dämon gequält. Jesus aber gab ihr keine Antwort. Da traten seine Jünger zu ihm und baten: Befrei sie (von ihrer Sorge), denn sie schreit hinter uns her. Er antwortete: Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Doch die Frau kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen. Da entgegnete sie: Ja, du hast recht, Herr! Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen. Darauf antwortete ihr Jesus: Frau, dein Glaube ist groß. Was du willst, soll geschehen. Und von dieser Stunde an war ihre Tochter geheilt." (6)

Das Verhalten, das Jesus hier zeigt, ist aus den damaligen sozioökonomischen Verhältnissen heraus verständlich (Jesus war Mitglied eines unterdrückten Volkes, das in vielerlei Hinsicht bedroht war), kann aber nach heutigem Maßstab selbstverständlich nicht mehr als ethisch vorbildlich angesehen werden. Man stelle sich zur Illustration z.B. einen Postbeamten vor, der - von einer türkischen Frau um Briefmarken gebeten - sagt, er sei nur für Deutsche zuständig und nicht für Hunde, und der, erst nachdem sich die Frau "hündisch" vor ihm auf den Boden geworfen und den Beamten mit "Herrenmensch" angeredet hat, sich bemüßigt fühlt, die erbetenen Postwertzeichen auszuhändigen. Einen Beamten, von dem solches Verhalten berichtet würde, würden wir wohl kaum im öffentlichen Dienst belassen, geschweige denn, daß wir eine Religion nach ihm benennen oder wie der Theologe Küng versuchen würden, das universelle Humanum aus seinen ethnozentristischen Reden abzuleiten.

Wie wir aus der obigen Stelle, die für den historischen Jesus durchaus exemplarisch sein dürfte, ersehen können, befand sich der Mensch, auf den sich das Christentum gläubig bezieht, in zentralen Punkten ethisch weit unter dem Niveau vieler heute lebender Menschen. Daher ist es kaum verwunderlich, daß es kaum etwas gibt, was ChristInnen stärker in ihrem Glauben erschüttern kann als die rationale Auseinandersetzung mit dem wahren Menschen, der sich hinter dem christlichen Mythos verbirgt. (Der ehemalige Dominikanermönch Hans-Conrad Zander kam am Ende seiner - leider etwas oberflächlich bleibenden - Recherche über Jesus von Nazareth gar zu dem Ergebnis: "Auch ich hätte Jesus gekreuzigt.") (7) (8)

 

 

2. Endlösung der Ungläubigenfrage - Ist Christus, der König der Könige?

 

Von dem historischen Jesus, dem rebellisch aufbegehrenden "König der Juden", ist - wie gesagt - der geglaubte, retuschiert überlieferte, mythische Jesus zu unterscheiden, der von Gott höchst daselbst gezeugt und von der Jungfrau Maria zu Bethlehem geboren wurde. (Der Geburtsort Bethlehem ist bekanntlich aus mythologischen Gründen wichtig, weil als prophezeit galt, daß der Heiland in Bethlehem geboren werde. Um dies zu ermöglichen, erfand man die phantasievolle, rührselige Geschichte vom herbergsuchenden Pärchen, das aufgrund einer - historisch nicht belegten - "Schätzung" nach Bethlehem reisen mußte, wo dann in einer armseligen Scheune die Prophezeiung erfüllt und der "König der Könige" geboren wurde.)

Der Glaube an den unter solch merkwürdigen Umständen empfangenen und geborenen mythischen Jesus ist die Grundlage des Christentums und der christlichen Kirchen. Es ist - und das ist entscheidend! - ein Jesus, der seine Herkunft als jüdischer Rebell und Patriot vollständig abgelegt hat, ein Jesus, der gerade für Nichtjuden zugänglich wurde, ein Kosmopolit, der zu allen Menschen gesandt war, einer, der alle erlösen, der seine vermeintlich "frohe Botschaft" allen verkünden wollte (gleichgültig, ob sie die Botschaft hören wollten oder nicht).

In vielerlei Hinsicht ist dieser überlieferte Christus die totale Negation des historischen Jesus. War der historische Jesus als patriotischer Jude erklärter Feind der Römer, so mutierte der retuschierte Jesus zum politisch indifferenten Römerfreund. Ja, die Verfälschung der historischen Wahrheit in den Evangelien (insbesondere im Johannesevangelium) geht soweit, daß aus Pilatus, der stets "kurzen Prozeß" mit Verurteilten machte, ein verständnisvoller Zuhörer wurde und für die Ermordung des Rebellen Jesus sein eigenes Volk, die Juden, verantwortlich gemacht wurde und nicht die - besonders unter Pilatus - äußerst brutale Besatzungspolitik der Römer. Mit anderen Worten: Aus der antirömischen Botschaft, für die der historische Jesus sterben mußte, wurde eine antijüdische (9) und - Ironie des Schicksals - die wohl wichtigste Agentur zur Verbreitung seines angeblichen Gedankenguts siedelte sich genau an dem Ort an, an dem der jüdische Rebell wohl nur die übelsten Dämonen vermutet hätte: in Rom.

Aber - wie gesagt - verlassen wir nun den historischen Jesus, über den wir bis auf einige wenige, aus dem historischen Kontext erschlossene Erkenntnisse nur sehr wenig wissen, und nehmen wir "Gott beim Wort", das heißt, tun wir so, als sei das, was in der Bibel steht, tatsächlich wahr, und nicht aus spezifischen Interessen (Anpassung des frühen Christentums an die römische Besatzungsmacht) heraus retuschiert, verfälscht worden.

Wir fragen also nun: Finden wir in der heiligen (= unantastbaren) Schrift des Christentums, die wir für den Moment einmal wirklich als wahren Ausdruck göttlichen Willens auffassen wollen, tatsächlich Grundlagen für ein dem Humanen verpflichtetes Weltethos?

Antwort: Selbstverständlich finden wir auch einige Stellen, die sich im Sinne eines humanen Weltethos interpretieren lassen (gewöhnlich muß hierfür insbesondere die sogenannte Bergpredigt herhalten), aber wir finden hier mindestens ebenso viele Stellen, die schlichtweg als inhuman zu bezeichnen sind.

Der Freiburger Entwicklungspsychologe Franz Buggle, der in einer bewundernswert klaren und detailreichen Studie (10) die Kernteile der christlichen Bibel (also die fünf Bücher Mose, die Psalmen, das Buch Jesaia sowie insbesondere das gesamte Neue Testament) auf ihren ethischen Wert hin untersucht hat, kam zu dem Ergebnis, daß die Bibel und damit die basale, ethisch/religiöse Quelle des Christentums, "zutiefst inhuman" sei, weil sie einen Gott als Vorbild propagiert, "der Eroberungskriege inklusive der ausdrücklichen Hinschlachtung von Kindern, Frauen und Greisen befiehlt, der eine inhuman grausame Blutjustiz immer wieder eindringlich fordert und die extrem grausame Hinrichtung seines eigenen Sohnes als Sühneopfer ausdrücklich wünscht, der [...] Frauen und Sklaven extrem diskriminiert, der die Ausrottung Andersgläubiger befiehlt, Geisteskrankheit auf Besessenheit zurückführt oder ewige (!) Höllenqualen androht..." (11)

Wie gesagt, Buggle bezieht sich in seiner Analyse nicht nur auf das Alte Testament, dessen autoritär-gewaltverherrlichende Grundtendenz mittlerweile bekannt sein dürfte (auch wenn Scheppers kühner Vorschlag, die unkontrollierte Verbreitung des Alten Testaments als gewaltverherrlichender und jugendgefährdender Schrift gemäß § 131 StGB zu unterbinden (12), sicherlich auf große Entrüstung stoßen würde.) Nein, Buggle bezieht sich in seinem Urteil über die Grundlagen des Christentums ausdrücklich auch auf das Neue Testament, das einem hartnäckigen Vorurteil zum Trotz keineswegs nur ein Aufruf zu Friedfertigkeit und Feindesliebe ist.

So verkündet der wiederauferstandene Christus in der Offenbarung des Johannes (hier handelt es sich - den einleitenden Worten der Einheitsübersetzung zufolge - um "das große Trost- und Mahnbuch der Kirche" (13)): "Wer siegt und bis zum Ende an den Werken festhält, die ich gebiete, dem werde ich Macht über die Völker geben. Er wird über sie herrschen mit eisernem Zepter und sie zerschlagen wie Tongeschirr; (und ich werde ihm diese Macht geben) wie auch ich sie von meinem Vater empfangen habe [...]" (14)

Auch in den Evangelien zeigt der mythische Jesus als Erfüllungsgehilfe seines rachsüchtigen Vaters wenig Erbarmen mit Andersdenkenden, Andersgläubigen. So heißt es unmißverständlich im Markusevangelium: "Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden." (15) Die Brutalität dieser Drohung den Anders- oder Nichtgläubigen gegenüber ist erst dann zu ermessen, wenn man weiß, was es bedeutet, vom Menschensohn verdammt zu werden! Auf die Verdammten wartet nämlich eine Art himmlisches Auschwitz: "Der Menschensohn wird seine Engel aussenden, und sie werden aus seinem Reich alle zusammenholen, die andere verführt und Gottes Gesetz übertreten haben, und werden sie in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt. Dort werden sie heulen und mit den Zähnen knirschen." (16)

Nur ein Ausrutscher, eine singuläre, unglückliche Metapher? Nein: Nicht einmal zehn Verse später findet sich noch einmal die gleiche pyromanische Vorstellung von einer sauberen Endlösung der Ungläubigenfrage. In Mt 13,49-50 werden die Engel abermals mit der Selektion an der himmlischen Rampe beauftragt, wo sie "die Bösen von den Gerechten trennen und in den Ofen werfen, in dem das Feuer brennt", so daß sie "heulen und mit den Zähnen knirschen." Selbst in der Bergpredigt, der viel gerühmten, viel zitierten, aus der die humanistischen und ökologischen TheologInnen ihre wichtigsten Argumente beziehen, finden sich solche - auf infantiler Gewalt- und Machtphantasie beruhenden - radikal inhumanen Strafandrohungen, "deren unheilvolle, psychisch verheerende Wirkung in der Geschichte des Christentums auf unzählige Menschen gar nicht übertrieben werden kann." (17) So wird im Rahmen der ansonsten recht humanen, progressiven Bergpredigt, das eigentlich harmlose, versteckte, lüsterne Betrachten einer verheirateten Frau, auf eine Weise interpretiert, die jedes FundamentalistInnen-Herz vor Entzückung höher schlagen läßt: "Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, daß eines deiner Glieder verlorengeht, als daß dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird." (18) In der Parallelstelle im Markusevangelium werden die Rachegelüste des Gottessohnes noch deutlicher: "Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde. Wenn dich deine Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das nie erlöschende Feuer. Und wenn dich dein Fuß zum Bösen verführt, dann hau ihn ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Füßen in die Hölle geworfen zu werden. Und wenn dich dein Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus; es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes zu kommen, als mit zwei Augen in die Hölle geworfen zu werden, wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt." (19)

Buggle kommentiert sehr richtig: "Man versuche, sich von aller Gewöhnung durch religiöse Erziehung einmal frei und sich hier klar zu machen, was eine Drohung mit ewig dauernden extremen Qualen psychologisch bedeuten muß; dagegen verblassen alle sonst bekannten Folterungen und Strafen, weil diese immerhin zeitlich endlich sind. Bei aller Anerkennung der positiven Züge Jesu (und bei aller Schonung der Gefühle von Gläubigen): Kann ein ethischer und religiöser Lehrer, der solche Strafandrohungen wie selbstverständlich heranzieht und mit ihnen umgeht, der solche Strafphantasien offenbar unproblematisch akzeptiert oder entwickelt, kann ein solcher Mann heute noch als Verkörperung des absolut Guten, der absoluten Liebe, als Gott verkündet werden?" (20)

Diese Frage ist rhetorisch. In Anbetracht obiger Belege, die mühelos erweitert werden können, ist evident, daß beide Jesusfiguren (die historische wie die mythische Jesusfigur) - auch wenn beide neben den hier herausgestellten inhumanen Vorstellungen auch durchaus sympathische Züge aufweisen - in ihrer Ganzheit keine Vorbilder für ein humanistisches Weltethos sein können.(21) Sie sind beide, was ihre Grundgedanken und Grundhaltungen betrifft, ethisch nicht auf der Höhe unserer Zeit - weder der historische Jesus, der im Sinne eines ethnozentristischen Provinzialismus dachte und handelte, noch der mythische Jesus, der in größenwahnsinniger, narzißtisch-totalitärer Manier seine Lehre (die heute zum Teil recht lebensundienlich ist - Beispiel: sein rigoroses Scheidungsverbot) gegen jegliche Kritik immunisierte, wobei er soweit ging, daß er all jenen, die nicht seiner Meinung waren, ewige Höllenpein androhte.

 

 

3. Virtuosen der Unredlichkeit: Das Elend der humanistischen Theologie

 

Nach diesem notwendigen Exkurs zu den spezifischen religiösen Grundlagen des Christentums dürfte klar sein, daß der vielbesungene "Geist Jesu Christi" nicht unbedingt kompatibel ist mit der Idee des Humanen. Damit stellt sich allerdings die prinzipielle Frage, was denn nun im Streitfalle der zentrale Bezugspunkt sogenannter "humanistischer ChristInnen" ist: die Idee des Humanen oder der Geist Jesu Christi.

Vor dieses Grundproblem, das sich auch in der Frage fassen läßt: Wie kann ich Humanist sein und gleichzeitig dem Vorbild Jesu folgen?, sehen sich - auch wenn die meisten es selbstverständlich nicht wahrhaben wollen - sämtliche moderne, emanzipatorische TheologInnen gestellt. Für sie gibt es - sofern sie HumanistInnen und ChristInnen bleiben wollen - idealtypisch nur einen einzigen Ausweg aus dem hier dargestellten Dilemma, nämlich den Weg der intellektuellen Unredlichkeit.

Intellektuell unredlich ist dieser Weg, weil hier nicht mehr kritisch den Ursprüngen, Wegen und Irrwegen, Stärken und Schwächen des Christentums nachgeforscht wird, sondern diese Ursprünge schöngeredet, die Irrwege und Schwächen kaschiert und selbst das offensichtlich Inhumane auf eine Art und Weise umwolkt wird, daß es kaum noch in seiner eigentlichen, menschenfresserischen Substanz zu erkennen ist. Dank eines ungeheuren, rational nicht nachvollziehbaren, exegetischen Salto mortale gelingt es theologischen HumanismusakrobatInnen, christliche Humanität selbst da noch zu erkennen, wo gegen jegliches Mindestmaß an Humanität aufs Scheußlichste verstoßen wird. Hierfür muß die Bibel selbstverständlich - auf Teufel komm raus (im wahrsten Sinne des Wortes!) - so sehr gegen den Strich gebürstet werden, daß jedem unbefangenen Beobachter die Haare zu Berge stehen. Da wird aus Unsinn plötzlich Sinn und aus Leid plötzlich Freude, da verklärt sich das Verbrechen zur Heldentat und das Joch zum Siegessymbol. Kurzum: Da versetzt Glaube nicht nur Berge, sondern auch unbefangene Beobachter in fassungsloses Erstaunen angesichts einer solch virtuosen Unredlichkeit der Deutung.

Sprachlich äußert sich dieser von progressiven TheologInnen immer wieder unternommene Versuch, die zum Teil eklatanten Widersprüche zwischen Humanität und Treue gegenüber den Grundinhalten des Christentums zu kaschieren, notwendigerweise in der häufigen Verwendung von Leerformeln, die rein sprachlich, also formal, noch den Kontakt zu einer religiösen Tradition aufrecht erhalten, deren Boden sie inhaltlich längst verlassen haben. (Hierauf verwies übrigens bereits Jean Améry, der hinter der von progressiven TheologInnen betriebenen Theologie der Lehrformeln wohl zu recht eine nicht eingestandene Selbstsäkularisierung des Christentums vermutete. (22))

Hier stellt sich die Frage: Warum können sich die progressiven TheologInnen nicht endgültig von jenen religiösen Traditionen lösen, die sie von ihrem Denkansatz her in vielen Punkten bereits überwunden haben? Warum versuchen sie weiterhin, dem religiösen Ursprung oder Kanon treu zu bleiben, warum beziehen sie sich weiterhin gläubig auf das angeblich authentische "Wesen" ihrer Religion, auf die Bibel und auf Jesus, das heißt: auf die maßgebliche Schrift und Gestalt des Christentums? Warum erkennen sie nicht den radikalen Widerspruch, der da besteht zwischen dem, was sie als HumanistInnen heute vertreten, und dem, was ureigentlicher Kern des Christentums ist?

Daß intellektuell hochrangige Menschen wie Dorothee Sölle, Eugen Drewermann und Hans Küng diese Widersprüche rein logisch nicht erkennen können, ist kaum anzunehmen. Vielmehr ist davon auszugehen, daß sie die Widersprüche in ihrer ganzen Schärfe nicht erkennen wollen, weil sie in ihrer Kindheit allzu sehr in Richtung einer bedingungslosen Akzeptanz des Christentums indoktriniert wurden. (Deshalb bezieht sich ihre Kritik nur auf die Institution Kirche, niemals aber auf den ideologischen Hintergrund, der diese Herrschaftsinstitution begründete und auch heute noch - zumindest im Grundkern - begründen kann.)

Den Piaget-Spezialisten Franz Buggle erinnert die intellektuelle Unredlichkeit human engagierter ChristInnen daher wohl auch nicht zu Unrecht an eine "Denk- und Entwicklungshemmung [...], wie sie neben möglicherweise hohen Intelligenzleistungen auf unbetroffenen Gebieten im Bereich des Weltanschaulich-Religiösen offensichtlich immer wieder zu einem Stehenbleiben auf der ?voroperationalen? Denkstufe (sensu Piaget) führt, mit ihrer typischen Unsensibilität für Widersprüche, ihrer Zentriertheit auf partielle Aspekte bzw. Unverbundenheit einzelner kognitiver Bereiche untereinander und ihrem partiellen Egozentrismus." (23)

 

 

4. Schwachstelle Vernunft: Theoretisch widerlegt heißt nicht praktisch erledigt

 

Kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Ist das Christentum erledigt? Für Menschen, die sowohl human als auch rational denken, kann die Antwort nur "ja" lauten. Doch es wäre ein verhängnisvoller Fehler, würde man davon ausgehen, daß eine Idee allein schon deshalb erledigt sei, weil sie sich in der kritischen Betrachtung als inhuman und/oder unlogisch erwiesen hat. Die Menschheitsgeschichte folgt weder den Gesetzen der Logik noch den Maßstäben der Humanität. Wenn sich Ideen im Laufe der Geschichte durchsetzten, dann nicht weil sie irgendwie logischer oder humaner waren als Alternativideen, sondern schlicht, weil sie besser in das sozioökonomische Korsett ihrer Zeit passten.

Und hier kann man gerade der authentischen (= fundamentalistischen) Spielart des Christentums strategische Vorteile wahrlich nicht absprechen: Sie verfügt (vor allem dank ihrer Vormachtstellung im Vatikan) über einen ausgefeilten Propagandaapparat, üppige Geldressourcen, ein Millionenheer von gläubigen Analphabeten und einen absolut privilegierten Zugang zu den Machtzentralen der Welt. Gerade die Antiquiertheit seiner Botschaft macht das fundamentalistische Christentum für viele Menschen erschreckend zeitgemäß: es bietet einfache Rezepte für schwierige Situationen, setzt die Illusion umfassender Liebe gegen das vermeintliche Diktat des innerweltlichen Egoismus, verspricht ewigen Halt in einer Welt des steten Wandels. Und es baut seine Macht auf eben jener Emotion auf, die gerade in unserer Zeit des sozioökonomischen Umbruchs zunehmend an Bedeutung gewinnt: der Angst vor dem sozialen Absturz. Wie wir aus empirischen Studien zu katholischem Fundamentalismus in Frankreich wissen, erhält der Fundamentalismus besonderen Zulauf gerade aus solchen sozialen Schichten, die "vom ökonomischen und sozialen Wandel bedroht sind und denen die Instabilität der religiösen Formen zum Symbol ihrer beängstigenden sozialen Unsicherheit wird." (24)

Fazit: Das Christentum mag theoretisch widerlegt sein, praktisch erledigt ist es noch lange nicht. Insbesondere die Fraktion der christlichen FundamentalistInnen wird an Attraktivität gewinnen, sobald sich - was viele befürchten - die ökonomische Lage weiter zuspitzen sollte. Und - hier sollte man sich keiner Illusion hingeben: Sollten "authentische Christen" in solchen Krisenzeiten tatsächlich an die Macht kommen, würden sie nicht zögern, ihre heilige Drohbotschaft "Du wirst dran glauben oder: dran glauben!" tödlich wahr zu machen. Erbarmungslos militant wie Jahrhunderte zuvor. Sie würden fortfahren mit der "Endlösung der Ungläubigenfrage", würden die "Guten" von den "Bösen" trennen und die Ausselektierten "in den Ofen schieben". "Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns - zu verbrennen," schrieb Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse". Wohl wahr. Hoffen wir, daß wir das Feuer christlicher Menschenliebe niemals am eigenen Leib erfahren müssen...

 

Anmerkungen:

1) Manuskript eines Vortrags anlässlich der Diskussionsveranstaltung "Ist das Christentum erledigt?" an der Universität Trier.

2) siehe z.B. Barz: Jugend und Religion. Opladen 1992. oder Höllinger: Volksreligion und Herrschaftskirche. 1996.

3) vgl. hierzu Schmidt-Salomon: Erkenntnis aus Engagement. Aschaffenburg 1999.

4) Da der historische Jesus "geschichtlich und theologisch ins Judentum [gehört]" (Theißen/Merz: Der historische Jesus. Göttingen 1996, S. 495) und sich "in seiner geschichtlichen Wirklichkeit nur als Jude begreifen läßt" (Heiligenthal: Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder. Darmstadt 1997, S. 40), ist es nicht verwunderlich, daß jüdische Autoren wie Pinchas Lapide und Hyam Maccoby den realen Menschen hinter dem Mythos am klarsten zu schildern vermögen. Den oftmals stark im Trüben fischenden christlichen AutorInnen sei daher die Lektüre jüdischer ForscherInnen nachdrücklich empfohlen.

5) "Wenn also Jesus die Seinen davor warnt, ‘ihre Perlen nicht vor die Säue zu werfen’ (Mt 7,6), so sind damit die Heiden, vornehmlich aber die Römer - gemeint, auf die man keine Torah-Weisheit vergeuden sollte." (Lapide: Ist die Bibel richtig übersetzt? Gütersloh 1989, S. 116)

6) Mt 15, 22-28, zitiert nach der ökumenischen "Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift" (Katholische Bibelanstalt/Deutsche Bibelstiftung 1980)

7) Zander: Ecce Jesus. Ein Anschlag gegen den neuen religiösen Kitsch. Reinbek 1992, S. 136.

8) Dieses Urteil ist natürlich polemisch überspitzt: Selbstverständlich hat kein Mensch eine so furchtbare Strafe wie den Kreuzestod verdient. Außerdem dürfen wir - wie gesagt - bei der notwendigen Kritik an den Überzeugungen der historischen Person Jesus die inhumanen Verhältnisse nicht übersehen, die dafür verantwortlich waren, daß Jesus so dachte, wie er dachte, und so handelte, wie er handelte. Jesus war eben auch nur ein Kind seiner Zeit. Ihn nach heutigen Wertmaßstäben zu bewerten, ist eigentlich historisch unsinnig, muß aber dennoch unternommen werden, weil fast zwei Milliarden Menschen unsinnigerweise auch heute noch in ihm ein unantastbares ethisches Vorbild sehen (wollen).

9) Diese Botschaft wurde u.a. gewürzt durch die Erfindung der Geschichte des sogenannten Passahvorrechts, das den Juden angeblich die Freilassung eines Gefangenen zum Passahfest gewährte. Dieser Geschichte nach soll sich das Volk gegen Jesus von Nazareth und für den Banditen Jesus Barabbas entschieden haben, woraus später die historisch verheerend wirkende Mär von den "jüdischen Gottesmördern" abgeleitet wurde. In Wahrheit aber gab es ein solches Passahvorrecht nie! (Eine solche Nachgiebigkeit hätte auch dem Geist der römischen Politik im allgemeinen und der des Statthalters Pilatus im besonderen sehr widersprochen.) Darüber hinaus spricht sogar einiges dafür, daß Jesus und Barabbas möglicherweise ein und dieselbe Person gewesen sind, denn der Name "Barabbas", der vielleicht tatsächlich nach der Verhaftung Jesu von der Volksmenge gerufen wurde, kann u.a. auch als "Sohn des Vaters" (Jesus sprach Gott bekanntlich mit Vater (="abba") an) oder als Abwandlung von "Berabbi" (ein Ehrentitel, der dem Namen der bedeutendsten Rabbis nachgestellt wurde) verstanden werden. (vgl. hierzu Maccoby: König Jesus. Die Geschichte eines jüdischen Rebellen. Tübingen 1982, S. 184)

10) Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Reinbek 1992

11). Buggle 1992, S. 33

12) "[...] die Verbreitung der inhumanen, gewaltverherrlichenden Schriften des Alten Testamentes stellt ohne Frage einen Strafrechtsbestand gemäß § 131 StGB dar; denn der besagt: ‘Wer Schriften, die Gewalttätigkeiten gegen Menschen in grausamer oder sonst unmenschlicher Weise schildern und dadurch eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrücken oder die zum Rassenhaß aufstacheln, 1. verbreitet, 2. öffentlich ausstellt ... oder sonst zugänglich macht, 3. einer Person unter achtzehn Jahren anbietet, überläßt oder zugänglich macht oder 4. herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält, anbietet, ankündigt, anpreist, ... wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.’ [...] Warum hat in der Bundesrepublik Deutschland bis heute niemand Anklage gegen die Verbreitung und Anpreisung dieses unmenschlichen, gewaltverherrlichenden Buches erhoben und damit den Versuch gemacht, es durch die ordentlichen Gerichte verbieten zu lassen? Wird das nicht irgendwann geschehen müssen, zumal die Bibel bei feierlichen Anlässen, wie Erstkommunion und Konfirmation, an Jugendliche verschenkt zu werden pflegt?" (Schepper: Gott beim Wort genommen. Das alte Testament auf dem ethischen Prüfstand. Argenbühl-Christazhofen 1993, 386f.)

13) Katholische Bibelanstalt/Deutsche Bibelstiftung 1980, S. 590

14) Offb, 2, 26-28

15) Mk 16, 16

16) Mt 13, 41-43

17) Buggle 1992, S. 98

18) Mt 5, 29

19) Mk 9, 42-48

20) Buggle 1992, S. 98

21) Ein unvoreingenommener Blick in die Bibel dürfte zur Bestätigung des Urteils genügen.

22) vgl. Améry: Widersprüche. Frankfurt/M. 1980, S. 23ff.

23) Buggle 1992, S. 202.

24) Isambert zitiert nach: Ebertz: Treue zur einzigen Wahrheit. Religionsinterner Fundamentalismus im Katholizismus. In: Kochanek (Hrsg.): Die verdrängte Freiheit. Fundamentalismus in den Kirchen. Freiburg 1991, S. 46.

 

Ort der Erstveröffentlichung: MIZ 3/99

 

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