Siegfried BÄR stellte im Rahmen seiner bitterbösen Abrechnung mit dem sozialen System
der deutschen Naturwissenschaften fest:
Es gibt zwei Klassen von Forschern: gewöhnliche und selbständige Forscher. Zu den
gewöhnlichen gehören die Diplomanden, Doktoranden und Postdoks oder Assistenten (80-90%
aller Wissenschaftler). Selbständige Forscher sind die Arbeitsgruppenleiter, C3- und
C4-Professoren sowie die Max-Planck-Direktoren. Zwischen den Mitgliedern dieser zwei
Klassen besteht ein Unterschied wie zwischen Regenwurm und Ringelnatter: Von außen haben
sie eine gewisse Ähnlichkeit, aber ihr innerer Aufbau ist völlig verschieden. Die einen
fressen sich im Dunkeln durch den Dreck, die anderen fangen Mäuse."
Auch wenn BÄRs scharfe Analyse, die er selbstverständlich - aus Karrieregründen - unter
falschem Namen veröffentlichte, allein auf die Naturwissenschaften ausgerichtet war, sie
gilt - vielleicht in etwas abgemilderter Form - auch für die anderen Wissenschaften: In
den Genuß der viel beschworenen Freiheit der Forschung und Lehre" bzw. der
Freiheit der Wissenschaften" kommen in der Regel - wenn überhaupt - nur die
Lehrstuhlinhaber (oder die etwas seltener anzutreffenden Lehrstuhlinhaberinnen). Die Rede
von der Freiheit der Wissenschaften" ist daher eine unzulässige
Verallgemeinerung. Gemeint ist hiermit vor allem die Freiheit der C3- und
C4-ProfessorInnen". Die gewöhnlichen ForscherInnen sind davon eher selten
betroffen. Vielmehr: Wenn sie ihre Freiheitsrechte allzu vorlaut einzuklagen
versuchen, kann es leicht dazu kommen, daß sie ihre Freiheit auf besondere Weise,
nämlich außerhalb des Forschungsbetriebes genießen können.
BÄR bemüht das Bild des Handwerksgesellen des 18. Jahrhunderts, um die Situation des
gewöhnlichen" Wissenschaftlers zu beschreiben:
Die gewöhnlichen Forscher leben wie unbehauste Handwerksgesellen des 18.
Jahrhunderts. Ihre Lehrzeit ist lang, ihr Verdienst gering, ihr Los die Wanderschaft. Die
Arbeit, die sie leisten, wird dem Meister zugeschrieben und dieser bestimmt, welche Kämme
diese modernen Kammacher zu sägen haben. Dagegen ist der Professor das Ideal eines
Meisters des alten Handwerks. Er hat den zünftigen Gedanken vom bescheidenen, aber
sicheren Brot verwirklicht, denn der Staat garantiert sein Einkommen - und was bescheiden
ist, ist Ansichtssache. Wie im alten Handwerk gibt es abgeschlossene Zünfte, Fakultäten
genannt, die von den Meistern beherrscht werden; und allein die Zunft bestimmt darüber,
welcher Geselle Meister werden darf."
In der Tat ist das Wissenschaftssystem streng hierarchisch geordnet. Grob gesprochen
handelt es sich um eine Dreiklassengesellschaft, an deren Spitze die ProfessorInnen
(Meister) stehen, gefolgt von der grauen Schar des akademischen Mittelbaus (den Gesellen).
Am bitteren Ende der Pyramide stehen die eigentlichen Lehrlinge und Stallburschen der
Wissenschaft, die Studierenden.
Aus diesem dreigliedrigen Herrschaftssystem der Wissenschaft leitet sich ein heimlicher
Lehrplan ab, der allzu häufig den eigentlichen Sinn wissenschaftlicher Arbeit überdeckt:
Im real existierenden sozialen System der Wissenschaft geht es nämlich nicht primär um
das korrekte Codieren von Aussagen nach dem Wahr/Falsch-Muster, nicht um wissenschaftlich
fundierte Kritik und Aufklärung, nicht um die Ermöglichung wissenschaftlichen
Fortschritts. Ergo ist für die wissenschaftliche Karriere auch nicht primär das
logische, wissenschaftliche, experimentelle Geschick von Bedeutung. Entscheidend
ist" - so formuliert BÄR - die politische Begabung des Wissenschaftlers, die
ehrenwerte Gesellschaft der Professoren dazu zu bringen, ihn in ihre Reihen aufzunehmen.
Die wirklich brennenden Fragen sind: [...] Wie werde ich ein selbständiger
Wissenschaftler? Woher bekomme ich Geld für meine Forschung? Wie steige ich in der
Forschungshierarchie auf?"
Folgerichtig konzentriert sich BÄR in seinem Buch auf die Beschreibung bzw. die
Vermittlung all jener wichtigen Kulturtechniken, die persönlichen Fortschritt im
Sozialsystem Wissenschaft ermöglichen können. So zynisch der dargebotene
Machiavelli für Forscher - und solche die es noch werden wollen" auch
erscheinen mag, er zeichnet ein recht authentisches Bild des real existierenden
Wissenschaftssystems, in dem bereits die Studierenden darauf geeicht werden, die schon in
der Schule erworbenen Techniken der Gunstgewinnung und des unkritischen Opportunismus zu
verfeinern, und in dem die besonders ehrgeizigen MittelbauerInnen mehr Zeit für das
Umgarnen von ProfessorInnen und das Knüpfen von Seilschaften aufbringen müssen als für
die notwendige Verbesserung ihrer Ergebnisse in Forschung und Lehre. Kurzum: Wer
Wissenschaft nicht unter der berühmten Drei-D-Perspektive des Dienens, Dienerns und
Dinierens betreibt, der hat in der Regel schlechte Karten.
Wehe dem Gesellen, der den Meister vergrätzt!, dies gilt heute im Sozialsystem der
Wissenschaft nicht weniger als vor 40 Jahren. Daran haben auch die schüchternen Versuche
einer demokratischen Hochschulreform" dauerhaft nichts ändern können.
BECKER/WEHLING berichten:
In den vergangenen 15 Jahren sind die Versuche einer demokratischen
Hochschulreform" Zug um Zug zurückgenommen worden, haben die politischen Instanzen
dem Druck konservativer Professoren und mächtiger Interessengruppen nachgegeben und
Studenten, Assistenten und sonstige Mitarbeiter in den Entscheidungsgremien immer
einflußloser werden lassen. Die inneruniversitäre Macht wurde eindeutig zugunsten der
Professorenschaft zurückverschoben und festgeschrieben. Der Professor erscheint in der
Hochschulplanung [...] als Grundeinheit von Lehre und Forschung, die über Mittel
verfügt, Tutoren und Hilfskräfte einstellt, durch wissenschaftliche Mitarbeiter
unterstützt wird. [...] Daß sich daraus eine neue, sozial und ökologisch verantwortbare
Verbindung entwickelt, ist höchst unwahrscheinlich. Strukturell und von ihren
Bewußtseins- und Interessenlagen her ist die Gruppe der Professoren am wenigsten
geeignet, Reformprozesse zu initiieren und zu tragen. Die staatlich unterstützte
Privilegienpolitik errichtet so Sperren gegen notwendige Umorientierungen, bindet das
Schicksal der Hochschulen an die Interessen, Orientierungen und Verhaltensnormen der
Professorenschaft."
Durch das im Herrschaftssystem Wissenschaft notwendige Taktieren wird die für
wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt notwendige vorbehaltlose, inhaltliche
Auseinandersetzung und Kritik verhindert. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis der
Untergebenen zu den Vorgesetzten bzw. PrüferInnen, sondern auch innerhalb der
privilegierten Gruppe, der ProfessorInnenkaste. Nach dem Motto: Was Du nicht willst, was
man Dir tu, das füg´ auch keinem anderem zu! hält sich der deutsche Professor aus dem
Herrschaftsbereich der KollegInnen heraus. Inhaltliche Auseinandersetzungen werden als
Einbruch in die Intimsphäre der KollegInnen empfunden und daher in der Regel peinlich
umgangen. Diplomatisches Taktieren steht auf dem Tagesprogramm und nicht selten bleibt den
ProfessorInnen bei all den notwendigen diplomatischen Verhandlungen nicht mehr genügend
Zeit für eine qualitativ hochwertige Forschung und Lehre. Bei BÄR heißt es hierzu:
Die Professoren widmen sich dem Management und verkaufen die von den gewöhnlichen
Forschern ihres Labors gewonnenen Ergebnisse anderen Wissenschaftlern und den Geldgebern.
Den größten Teil ihrer Zeit widmen sie der Repräsentation, Verwaltungsaufgaben, der
Lehre, endlosen Verhandlungen mit Universitäts- und sonstigen Bürokraten sowie dem Kampf
um Geld und Einfluß. Ihre tägliche Arbeit besteht aus Gremiensitzungen, Kongressen,
Rechnungsprüfung und Buchhaltung, dem Schreiben von Anträgen, dem Malen von
Diapositiv-Vorlagen, der Kontrolle der Mitarbeiter, der Suche nach neuen
Mitarbeitern."
Der deutsche Professor verwaltet, repräsentiert, hält Reden, sitzt bei oder, im
fortgeschrittenen Stadium, vor. Statt zu forschen, jongliert er mit Anträgen, jettet von
einem Ausschuß zum anderen oder sucht in Gremien und Komitees überflüssige Einwände,
die andere mit unnötigen Gründen bekämpfen."
Fairerweise muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß die ProfessorInnen -
selbst, wenn sie es wollten - sich kaum anders verhalten könnten, denn auch sie sind
letztlich nur Gefangene des sich selbst organisierenden, bürokratischen
Herrschaftssystems der real existierenden Wissenschaft. Zwar müssen sie sich in der Regel
nicht direkt einer anderen übergeordneten Instanz beugen, aber sie hängen - wie BÄR
überaus treffend formuliert - an Kommissionen, Ausschüssen und Komitees wie Jesus
am Kreuz, festgenagelt mit Anträgen, Stellungnahmen, Sitzungen, Projektbeschreibungen,
Zwischen- und Endberichten."
Insgesamt läßt sich feststellen, daß der heimliche Lehrplan des real existierenden
Wissenschaftssystems mit folgenden schwerwiegenden Problemen verbunden ist:
1. Das wissenschaftliche Potential der Studierenden und insbesondere des sogenannten
akademischen Mittelbaus wird gehemmt statt gefördert. BÄR schreibt hierzu: Den
Postdocs nimmt der fehlende Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Leistung und sozialem
Erfolg den Ehrgeiz. Die Bevormundung und geistige Enteignung durch den Professor und die
geringe Chance selbständig zu werden, treibt sie in die innere Kündigung oder in die
Industrie. Auch die undurchsichtigen Habilitierungs- und Berufungsverfahren, die eher den
sozialen Rang und geschicktes Auftreten belohnen als den wissenschaftlichen Erfolg,
führen zu Verbitterung, Leistungsverweigerung oder Strebertum."
2. Auch das wissenschaftliche Potential der ProfessorInnen kommt kaum zur Geltung, weil
ihr Berufsalltag stärker durch Fachpolitik und Verwaltungsaufgaben bestimmt wird als
durch wissenschaftliche Problemstellungen.
3. Für alle Beteiligten gilt: Die hohe Schule des Opportunismus verhindert den
wissenschaftlichen Fortschritt. Statt scharfer wissenschaftlicher Auseinandersetzung und
klarer inhaltlicher Kritik werden nur solche Erkenntnisse entwickelt und verbreitet, die
sozial erwünscht oder zumindest nicht unerwünscht sind. Ein Grund für dieses
wissenschaftsfeindliche Verhalten ist die wohl von vielen WissenschaftlerInnen geteilte
Angst vor Entlarvung , vor wissenschaftlicher Bloßstellung, eine Angst, die nicht
unwesentlich aus dem Wissen resultieren dürfte, daß die eigene soziale Position
innerhalb des Wissenschaftssystems nicht primär wegen besonderer wissenschaftlicher
Leistungen, sondern aufgrund von diplomatischem Geschick oder schlichtem Glück errungen
wurde.
Weil dieser letzte Punkt (Angst des Forschers vor wissenschaftlicher Bloßstellung) für
den wissenschaftlichen Forschungsprozeß von geradezu entscheidender Bedeutung ist, werden
wir ihn im folgenden Kapitel etwas genauer unter die Lupe nehmen.
Wolf WAGNER kam in seiner bemerkenswert klaren Darstellung der Dialektik von
Uni-Angst und Uni-Bluff" zu dem Ergebnis, daß die wissenschaftlichen
Hochschulen in der Regel genau das verhindern, was sie eigentlich fördern sollten:
Eigentlich sollte die Universität die Möglichkeit bieten, zusammen mit anderen
interessante Fragen zu untersuchen und in neugierigem Lernen die Welt und die eigene
Stellung in ihr besser zu verstehen. Das Problem besteht darin, daß solches Versprechen
an der Universität kaum einzulösen ist, daß die universitäre Art, mit Problemen
umzugehen, das Interesse vielmehr abtötet, die Neugier eintrocknet und das inhaltliche
Gespräch verhindert. Sie produziert Angst, Einsamkeit und Langeweile. Sie entfremdet die
Studierenden und Lehrenden vom Stoff, von sich selbst und voneinander.
Im Studienverlauf verschärft sich das Problem, statt sich - wie tendenziell in anderen
Institutionen - abzumildern. Studentinnen und Studenten reagieren auf diese Situation
jeweils unterschiedlich: manche mit Depressionen, andere mit Studienabbruch, wieder andere
mit Rückzug in die Unauffälligkeit und manche [...] mit auftrumpfendem Bluff. Die
Schwierigkeit, die sich mit solchen unterschiedlichen Reaktionsweisen zu bewältigen
suchen, ist aber immer die gleiche: Angst vor der Abwertung als Nichtwissende."
Um der von WAGNER geschilderten Abwertung als Nichtwissende zu entgehen, lernen die
Studierenden zahlreiche Ausweichtechniken, die sich alle dadurch auszeichnen, daß sie
eine klare inhaltliche Auseinandersetzung verhindern. Dies hat eine massive Entfremdung
von den Inhalten des Studiums zur Folge. Inhalte werden häufig nur noch als Mittel zum
Zweck - nämlich als Mittel zum Erreichen individuell oder sozial erwünschter
akademischer Grade verstanden. Das hieraus resultierende Schein-Studium (im doppelten
Sinne) hat zur Folge, daß die - für Wissenschaft eigentlich notwendige - intellektuelle
Neugier verödet, die aktive, interessierte Auseinandersetzung mit Inhalten immer seltener
wird. Vor allem deshalb haben wir im wissenschaftlichen Alltag - insbesondere in den
Sozial- und Geisteswissenschaften - in der Regel Langeweile statt Neugier, Isolierung
statt Kommunikation, Stagnation statt Weiterentwicklung, tote Form statt lebendigem
Inhalt.
Der folgende Erfahrungsbericht über den heimlichen Lehrplan der Universitäten dürfte
die Problemlage der meisten, wissenschaftlich ambitionierteren StudentInnen widerspiegeln:
In den meisten Seminaren schwieg ich und litt darunter. Sagte ich etwas - mit
feuchten Händen, klopfendem Herzen und zitternder Stimme -, dann nur, wenn ich mir meiner
Sache ganz sicher war. So stellte ich Fragen, die keine Antworten suchten, sondern
zeigten, wieviel ich wußte. [...] ich fragte, ohne zu fragen. Mit einer echten Frage
hätte ich gezeigt, daß ich tatsächlich etwas nicht wußte, was für meine Wahrnehmung
das gleiche war, wie vor dem ganzen Orchester einen falschen Ton zu spielen."
Ich lernte Floskeln und Techniken (z.B. Klar, habe ich das jetzt überspitzt,
und man kann das auch anders sehen, aber..."), mit deren Hilfe ich mich kritischen
Nachfragen entziehen konnte. Ich beobachtete die Gesichter der anderen Redenden und
dasjenige des Dozenten. Jedes Augenbrauenzucken oder bedenkliche Kopfwiegen ließ mich das
eben Gesagte wieder zurücknehmen, einschränken oder als auf wenige Fälle beschränkt
qualifizieren. Es war ein schwieriger Anpassungsprozeß, denn von der Bedeutung vieler
Wörter, die ich nun selbst benutzte, hatte ich nur eine vage Ahnung. Oft kam ich mir wie
ein Pilot im Blindflug vor, der nichts von der Wirklichkeit draußen sieht und das
Flugzeug nur nach der Anzeige seiner Instrumente steuert, sogar landet. Ganz ähnlich
hatte auch ich keine Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob ich etwas Richtiges sagte.
Statt dessen richtete ich mich nach den Gesichtern der Dozenten und Vielredner, las an
ihnen ab, ob akzeptabel war, was ich sagte. So steuerte ich meinen Redebeitrag wie in
einem Sicherheitskorridor zwischen den mimischen Warnsignalen hindurch auf einen Kurs
sprachlicher Anpassung. So lernte ich mit der Zeit die universitäre Sprache."
Die hier geschilderten Ausweichmanöver haben fatale Auswirkungen nicht nur auf das
Verhältnis der Studierenden zu ihren KommilitonInnen und DozentInnen, sondern auch auf
das Verhältnis der DozentInnen untereinander. WAGNERs Bericht aus seiner eigenen Zeit als
Hochschullehrer dürfte die angespannte Situation der Lehrenden (nicht nur!) an deutschen
Hochschulen treffend beschreiben:
Die Dozentinnen und Dozenten um mich her[um] - mich eingeschlossen - hatten [...]
den inhaltlichen Kontakt zueinander verloren: Weder redeten sie miteinander über das, was
sie als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler taten, noch lasen sie gegenseitig ihre
Aufsätze und Bücher. Es gab nirgendwo das Bemühen, ein wirkliches und wichtiges
inhaltliches Problem gemeinsam zu lösen. Statt dessen schotteten sie sich voneinander ab,
lauerten auf die Schwächen der anderen, lästerten vom Hörensagen, [...] und stritten
sich um Mittel und Stellen."
Es ist meines Erachtens kaum zu bestreiten, daß die für den wissenschaftlichen
Erkenntnisfortschritt notwendige inhaltliche Kommunikation der Forschenden untereinander
in der Regel nicht im ausreichenden Maße stattfindet. Dies gilt nicht nur für die
face-to-face-Kommunikation unter KollegInnen, sondern für den wissenschaftlichen
Forschungsbetrieb allgemein. Selbst wissenschaftliche Veröffentlichungen dienen in der
Regel nicht primär der wissenschaftlichen Kommunikation, sondern vor allem der eigenen
Karriere. Wissenschaftliche Aufsätze zum Beispiel werden in der Regel nicht geschrieben,
damit sie gelesen werden, sondern [...] damit sie geschrieben sind, nämlich für
die Veröffentlichungsliste. Denn bei Bewerbungen sind die Titel und die Länge dieser
Liste wichtiger als der Inhalt irgendeines der aufgeführten Aufsätze."
Schlimmer noch:
[...] in der Regel wird größte Sorgfalt darauf verwandt, Aufsätze und Bücher
gegen jedwede Kritik abzusichern, selbst um den Preis der Langeweile und Aussagelosigkeit.
Eigene Aussagen werden nur über Unwiderlegbares gewagt, über eindeutig kontrollierbare
Details eines Spezialgebietes. Der Blick auf das Ganze eines Faches, um von dort her den
Stellenwert des Themas und seiner Details zu bestimmen, wird systematisch unterlassen,
obwohl erst eines solche Zugangsweise den Details Bedeutung geben würde. Da eine Kritik
oder Widerlegung nicht als Lerneffekt und erfreulicher Fortschritt, sondern als
grauenhafte Niederlage, als öffentliche Hinrichtung empfunden wird, hat sich dies
Verfahren eingespielt und durchgesetzt. Und insofern wird die Behauptung der
Wissenschaftstheoretiker, in den Veröffentlichungen stelle sich die neue Erkenntnis der
öffentlichen Kritik, durch die institutionelle Praxis tagtäglich zum schönen Mythos
herabgesetzt."
Hier sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt der Argumentation angelangt, denn:
Man wird das real existierende Wissenschaftssystem nicht richtig verstehen können, wenn
man nicht erkannt hat, daß die aus der Angst vor Kritik entstehende wissenschaftliche
Pseudokommunikation ein wesentlicher Grund für das Ausbleiben eines echten
wissenschaftlichen Fortschritts ist. Wird inhaltliche Kommunikation nämlich umgangen und
damit die Möglichkeit zu Kritik verhindert, so ist der wissenschaftliche
Forschungsprozeß selbst fundamental gefährdet, denn - wie POPPER zu recht ausführt -:
[...] die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit
der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen
Kritik, der freundlich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres
Zusammenarbeitens und ihres Gegeneinanderarbeitens."
Das bedeutet: Wenn WissenschaftlerInnen unter dem Deckmantel der sogenannten
wissenschaftlichen Vorsicht" sich gegen Kritik immunisieren, das heißt: gegen
POPPERs Aufforderung, den Kopf zu riskieren" verstoßen, so kommt es mit
großer Wahrscheinlichkeit zu Einbußen wissenschaftlicher Objektivität, zumindest aber
zu einer qualitativen Stagnation der Wissenschaft - und dies, obwohl der quantitative
Forschungsoutput im gleichen Moment vielleicht sogar zunimmt.
[...]