9.2.2 Hierarchie-Denken: der heimliche Lehrplan des Wissenschaftssystems


Siegfried BÄR stellte im Rahmen seiner bitterbösen Abrechnung mit dem sozialen System der deutschen Naturwissenschaften fest:

„Es gibt zwei Klassen von Forschern: gewöhnliche und selbständige Forscher. Zu den gewöhnlichen gehören die Diplomanden, Doktoranden und Postdoks oder Assistenten (80-90% aller Wissenschaftler). Selbständige Forscher sind die Arbeitsgruppenleiter, C3- und C4-Professoren sowie die Max-Planck-Direktoren. Zwischen den Mitgliedern dieser zwei Klassen besteht ein Unterschied wie zwischen Regenwurm und Ringelnatter: Von außen haben sie eine gewisse Ähnlichkeit, aber ihr innerer Aufbau ist völlig verschieden. Die einen fressen sich im Dunkeln durch den Dreck, die anderen fangen Mäuse."

Auch wenn BÄRs scharfe Analyse, die er selbstverständlich - aus Karrieregründen - unter falschem Namen veröffentlichte, allein auf die Naturwissenschaften ausgerichtet war, sie gilt - vielleicht in etwas abgemilderter Form - auch für die anderen Wissenschaften: In den Genuß der viel beschworenen „Freiheit der Forschung und Lehre" bzw. der „Freiheit der Wissenschaften" kommen in der Regel - wenn überhaupt - nur die Lehrstuhlinhaber (oder die etwas seltener anzutreffenden Lehrstuhlinhaberinnen). Die Rede von der „Freiheit der Wissenschaften" ist daher eine unzulässige Verallgemeinerung. Gemeint ist hiermit vor allem die „Freiheit der C3- und C4-ProfessorInnen". Die gewöhnlichen ForscherInnen sind davon eher selten betroffen.  Vielmehr: Wenn sie ihre Freiheitsrechte allzu vorlaut einzuklagen versuchen, kann es leicht dazu kommen, daß sie ihre Freiheit auf besondere Weise, nämlich außerhalb des Forschungsbetriebes genießen können.
BÄR bemüht das Bild des Handwerksgesellen des 18. Jahrhunderts, um die Situation des „gewöhnlichen" Wissenschaftlers zu beschreiben:

„Die gewöhnlichen Forscher leben wie unbehauste Handwerksgesellen des 18. Jahrhunderts. Ihre Lehrzeit ist lang, ihr Verdienst gering, ihr Los die Wanderschaft. Die Arbeit, die sie leisten, wird dem Meister zugeschrieben und dieser bestimmt, welche Kämme diese modernen Kammacher zu sägen haben. Dagegen ist der Professor das Ideal eines Meisters des alten Handwerks. Er hat den zünftigen Gedanken vom bescheidenen, aber sicheren Brot verwirklicht, denn der Staat garantiert sein Einkommen - und was bescheiden ist, ist Ansichtssache. Wie im alten Handwerk gibt es abgeschlossene Zünfte, Fakultäten genannt, die von den Meistern beherrscht werden; und allein die Zunft bestimmt darüber, welcher Geselle Meister werden darf."

In der Tat ist das Wissenschaftssystem streng hierarchisch geordnet. Grob gesprochen handelt es sich um eine Dreiklassengesellschaft, an deren Spitze die ProfessorInnen (Meister) stehen, gefolgt von der grauen Schar des akademischen Mittelbaus (den Gesellen). Am bitteren Ende der Pyramide stehen die eigentlichen Lehrlinge und Stallburschen der Wissenschaft, die Studierenden.
 
Aus diesem dreigliedrigen Herrschaftssystem der Wissenschaft leitet sich ein heimlicher Lehrplan ab, der allzu häufig den eigentlichen Sinn wissenschaftlicher Arbeit überdeckt: Im real existierenden sozialen System der Wissenschaft geht es nämlich nicht primär um das korrekte Codieren von Aussagen nach dem Wahr/Falsch-Muster, nicht um wissenschaftlich fundierte Kritik und Aufklärung, nicht um die Ermöglichung wissenschaftlichen Fortschritts. Ergo ist für die wissenschaftliche Karriere auch nicht primär das logische, wissenschaftliche, experimentelle Geschick von Bedeutung. „Entscheidend ist" - so formuliert BÄR - „die politische Begabung des Wissenschaftlers, die ehrenwerte Gesellschaft der Professoren dazu zu bringen, ihn in ihre Reihen aufzunehmen. Die wirklich brennenden Fragen sind: [...] Wie werde ich ein selbständiger Wissenschaftler? Woher bekomme ich Geld für meine Forschung? Wie steige ich in der Forschungshierarchie auf?"
Folgerichtig konzentriert sich BÄR in seinem Buch auf die Beschreibung bzw. die Vermittlung all jener wichtigen Kulturtechniken, die persönlichen Fortschritt im Sozialsystem Wissenschaft ermöglichen können. So zynisch der dargebotene „Machiavelli für Forscher - und solche die es noch werden wollen" auch erscheinen mag, er zeichnet ein recht authentisches Bild des real existierenden Wissenschaftssystems, in dem bereits die Studierenden darauf geeicht werden, die schon in der Schule erworbenen Techniken der Gunstgewinnung und des unkritischen Opportunismus zu verfeinern, und in dem die besonders ehrgeizigen MittelbauerInnen mehr Zeit für das Umgarnen von ProfessorInnen und das Knüpfen von Seilschaften aufbringen müssen als für die notwendige Verbesserung ihrer Ergebnisse in Forschung und Lehre. Kurzum: Wer Wissenschaft nicht unter der berühmten Drei-D-Perspektive des Dienens, Dienerns und Dinierens betreibt, der hat in der Regel schlechte Karten.
Wehe dem Gesellen, der den Meister vergrätzt!, dies gilt heute im Sozialsystem der Wissenschaft nicht weniger als vor 40 Jahren. Daran haben auch die schüchternen Versuche einer „demokratischen Hochschulreform" dauerhaft nichts ändern können. BECKER/WEHLING berichten:

„In den vergangenen 15 Jahren sind die Versuche einer „demokratischen Hochschulreform" Zug um Zug zurückgenommen worden, haben die politischen Instanzen dem Druck konservativer Professoren und mächtiger Interessengruppen nachgegeben und Studenten, Assistenten und sonstige Mitarbeiter in den Entscheidungsgremien immer einflußloser werden lassen. Die inneruniversitäre Macht wurde eindeutig zugunsten der Professorenschaft zurückverschoben und festgeschrieben. Der Professor erscheint in der Hochschulplanung [...] als Grundeinheit von Lehre und Forschung, die über Mittel verfügt, Tutoren und Hilfskräfte einstellt, durch wissenschaftliche Mitarbeiter unterstützt wird. [...] Daß sich daraus eine neue, sozial und ökologisch verantwortbare Verbindung entwickelt, ist höchst unwahrscheinlich. Strukturell und von ihren Bewußtseins- und Interessenlagen her ist die Gruppe der Professoren am wenigsten geeignet, Reformprozesse zu initiieren und zu tragen. Die staatlich unterstützte Privilegienpolitik errichtet so Sperren gegen notwendige Umorientierungen, bindet das Schicksal der Hochschulen an die Interessen, Orientierungen und Verhaltensnormen der Professorenschaft."

Durch das im Herrschaftssystem Wissenschaft notwendige Taktieren wird die für wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt notwendige vorbehaltlose, inhaltliche Auseinandersetzung und Kritik verhindert. Dies gilt nicht nur für das Verhältnis der Untergebenen zu den Vorgesetzten bzw. PrüferInnen, sondern auch innerhalb der privilegierten Gruppe, der ProfessorInnenkaste. Nach dem Motto: Was Du nicht willst, was man Dir tu, das füg´ auch keinem anderem zu! hält sich der deutsche Professor aus dem Herrschaftsbereich der KollegInnen heraus. Inhaltliche Auseinandersetzungen werden als Einbruch in die Intimsphäre der KollegInnen empfunden und daher in der Regel peinlich umgangen. Diplomatisches Taktieren steht auf dem Tagesprogramm und nicht selten bleibt den ProfessorInnen bei all den notwendigen diplomatischen Verhandlungen nicht mehr genügend Zeit für eine qualitativ hochwertige Forschung und Lehre. Bei BÄR heißt es hierzu:

„Die Professoren widmen sich dem Management und verkaufen die von den gewöhnlichen Forschern ihres Labors gewonnenen Ergebnisse anderen Wissenschaftlern und den Geldgebern. Den größten Teil ihrer Zeit widmen sie der Repräsentation, Verwaltungsaufgaben, der Lehre, endlosen Verhandlungen mit Universitäts- und sonstigen Bürokraten sowie dem Kampf um Geld und Einfluß. Ihre tägliche Arbeit besteht aus Gremiensitzungen, Kongressen, Rechnungsprüfung und Buchhaltung, dem Schreiben von Anträgen, dem Malen von Diapositiv-Vorlagen, der Kontrolle der Mitarbeiter, der Suche nach neuen Mitarbeitern."
„Der deutsche Professor verwaltet, repräsentiert, hält Reden, sitzt bei oder, im fortgeschrittenen Stadium, vor. Statt zu forschen, jongliert er mit Anträgen, jettet von einem Ausschuß zum anderen oder sucht in Gremien und Komitees überflüssige Einwände, die andere mit unnötigen Gründen bekämpfen."

Fairerweise muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß die ProfessorInnen - selbst, wenn sie es wollten - sich kaum anders verhalten könnten, denn auch sie sind letztlich nur Gefangene des sich selbst organisierenden, bürokratischen Herrschaftssystems der real existierenden Wissenschaft. Zwar müssen sie sich in der Regel nicht direkt einer anderen übergeordneten Instanz beugen, aber sie hängen - wie BÄR überaus treffend formuliert - „an Kommissionen, Ausschüssen und Komitees wie Jesus am Kreuz, festgenagelt mit Anträgen, Stellungnahmen, Sitzungen, Projektbeschreibungen, Zwischen- und Endberichten."

Insgesamt läßt sich feststellen, daß der heimliche Lehrplan des real existierenden Wissenschaftssystems mit folgenden schwerwiegenden Problemen verbunden ist:

1. Das wissenschaftliche Potential der Studierenden und insbesondere des sogenannten akademischen Mittelbaus wird gehemmt statt gefördert. BÄR schreibt hierzu: „Den Postdocs nimmt der fehlende Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Leistung und sozialem Erfolg den Ehrgeiz. Die Bevormundung und geistige Enteignung durch den Professor und die geringe Chance selbständig zu werden, treibt sie in die innere Kündigung oder in die Industrie. Auch die undurchsichtigen Habilitierungs- und Berufungsverfahren, die eher den sozialen Rang und geschicktes Auftreten belohnen als den wissenschaftlichen Erfolg, führen zu Verbitterung, Leistungsverweigerung oder Strebertum."
2. Auch das wissenschaftliche Potential der ProfessorInnen kommt kaum zur Geltung, weil ihr Berufsalltag stärker durch Fachpolitik und Verwaltungsaufgaben bestimmt wird als durch wissenschaftliche Problemstellungen.
3. Für alle Beteiligten gilt: Die hohe Schule des Opportunismus verhindert den wissenschaftlichen Fortschritt. Statt scharfer wissenschaftlicher Auseinandersetzung und klarer inhaltlicher Kritik werden nur solche Erkenntnisse entwickelt und verbreitet, die sozial erwünscht oder zumindest nicht unerwünscht sind. Ein Grund für dieses wissenschaftsfeindliche Verhalten ist die wohl von vielen WissenschaftlerInnen geteilte Angst vor Entlarvung , vor wissenschaftlicher Bloßstellung, eine Angst, die nicht unwesentlich aus dem Wissen resultieren dürfte, daß die eigene soziale Position innerhalb des Wissenschaftssystems nicht primär wegen besonderer wissenschaftlicher Leistungen, sondern aufgrund von diplomatischem Geschick oder schlichtem Glück errungen wurde.

Weil dieser letzte Punkt (Angst des Forschers vor wissenschaftlicher Bloßstellung) für den wissenschaftlichen Forschungsprozeß von geradezu entscheidender Bedeutung ist, werden wir ihn im folgenden Kapitel etwas genauer unter die Lupe nehmen.


9.2.3 Angst, Bluff und Entfremdung - oder: Warum die sogenannte ?wissenschaftliche Vorsicht" zur Stagnation der Wissenschaften beiträgt


Wolf WAGNER kam in seiner bemerkenswert klaren Darstellung der Dialektik von „Uni-Angst und Uni-Bluff" zu dem Ergebnis, daß die wissenschaftlichen Hochschulen in der Regel genau das verhindern, was sie eigentlich fördern sollten:

„Eigentlich sollte die Universität die Möglichkeit bieten, zusammen mit anderen interessante Fragen zu untersuchen und in neugierigem Lernen die Welt und die eigene Stellung in ihr besser zu verstehen. Das Problem besteht darin, daß solches Versprechen an der Universität kaum einzulösen ist, daß die universitäre Art, mit Problemen umzugehen, das Interesse vielmehr abtötet, die Neugier eintrocknet und das inhaltliche Gespräch verhindert. Sie produziert Angst, Einsamkeit und Langeweile. Sie entfremdet die Studierenden und Lehrenden vom Stoff, von sich selbst und voneinander.
Im Studienverlauf verschärft sich das Problem, statt sich - wie tendenziell in anderen Institutionen - abzumildern. Studentinnen und Studenten reagieren auf diese Situation jeweils unterschiedlich: manche mit Depressionen, andere mit Studienabbruch, wieder andere mit Rückzug in die Unauffälligkeit und manche [...] mit auftrumpfendem Bluff. Die Schwierigkeit, die sich mit solchen unterschiedlichen Reaktionsweisen zu bewältigen suchen, ist aber immer die gleiche: Angst vor der Abwertung als Nichtwissende."

Um der von WAGNER geschilderten Abwertung als Nichtwissende zu entgehen, lernen die Studierenden zahlreiche Ausweichtechniken, die sich alle dadurch auszeichnen, daß sie eine klare inhaltliche Auseinandersetzung verhindern. Dies hat eine massive Entfremdung von den Inhalten des Studiums zur Folge. Inhalte werden häufig nur noch als Mittel zum Zweck - nämlich als Mittel zum Erreichen individuell oder sozial erwünschter akademischer Grade verstanden. Das hieraus resultierende Schein-Studium (im doppelten Sinne) hat zur Folge, daß die - für Wissenschaft eigentlich notwendige - intellektuelle Neugier verödet, die aktive, interessierte Auseinandersetzung mit Inhalten immer seltener wird. Vor allem deshalb haben wir im wissenschaftlichen Alltag - insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften - in der Regel Langeweile statt Neugier, Isolierung statt Kommunikation, Stagnation statt Weiterentwicklung, tote Form statt lebendigem Inhalt.
Der folgende Erfahrungsbericht über den heimlichen Lehrplan der Universitäten dürfte die Problemlage der meisten, wissenschaftlich ambitionierteren StudentInnen widerspiegeln:

„In den meisten Seminaren schwieg ich und litt darunter. Sagte ich etwas - mit feuchten Händen, klopfendem Herzen und zitternder Stimme -, dann nur, wenn ich mir meiner Sache ganz sicher war. So stellte ich Fragen, die keine Antworten suchten, sondern zeigten, wieviel ich wußte. [...] ich fragte, ohne zu fragen. Mit einer echten Frage hätte ich gezeigt, daß ich tatsächlich etwas nicht wußte, was für meine Wahrnehmung das gleiche war, wie vor dem ganzen Orchester einen falschen Ton zu spielen."
„Ich lernte Floskeln und Techniken (z.B. „Klar, habe ich das jetzt überspitzt, und man kann das auch anders sehen, aber..."), mit deren Hilfe ich mich kritischen Nachfragen entziehen konnte. Ich beobachtete die Gesichter der anderen Redenden und dasjenige des Dozenten. Jedes Augenbrauenzucken oder bedenkliche Kopfwiegen ließ mich das eben Gesagte wieder zurücknehmen, einschränken oder als auf wenige Fälle beschränkt qualifizieren. Es war ein schwieriger Anpassungsprozeß, denn von der Bedeutung vieler Wörter, die ich nun selbst benutzte, hatte ich nur eine vage Ahnung. Oft kam ich mir wie ein Pilot im Blindflug vor, der nichts von der Wirklichkeit draußen sieht und das Flugzeug nur nach der Anzeige seiner Instrumente steuert, sogar landet. Ganz ähnlich hatte auch ich keine Möglichkeit, selbst zu entscheiden, ob ich etwas Richtiges sagte. Statt dessen richtete ich mich nach den Gesichtern der Dozenten und Vielredner, las an ihnen ab, ob akzeptabel war, was ich sagte. So steuerte ich meinen Redebeitrag wie in einem Sicherheitskorridor zwischen den mimischen Warnsignalen hindurch auf einen Kurs sprachlicher Anpassung. So lernte ich mit der Zeit die universitäre Sprache."

Die hier geschilderten Ausweichmanöver haben fatale Auswirkungen nicht nur auf das Verhältnis der Studierenden zu ihren KommilitonInnen und DozentInnen, sondern auch auf das Verhältnis der DozentInnen untereinander. WAGNERs Bericht aus seiner eigenen Zeit als Hochschullehrer dürfte die angespannte Situation der Lehrenden (nicht nur!) an deutschen Hochschulen treffend beschreiben:

„Die Dozentinnen und Dozenten um mich her[um] - mich eingeschlossen - hatten [...] den inhaltlichen Kontakt zueinander verloren: Weder redeten sie miteinander über das, was sie als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler taten, noch lasen sie gegenseitig ihre Aufsätze und Bücher. Es gab nirgendwo das Bemühen, ein wirkliches und wichtiges inhaltliches Problem gemeinsam zu lösen. Statt dessen schotteten sie sich voneinander ab, lauerten auf die Schwächen der anderen, lästerten vom Hörensagen, [...] und stritten sich um Mittel und Stellen."

Es ist meines Erachtens kaum zu bestreiten, daß die für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt notwendige inhaltliche Kommunikation der Forschenden untereinander in der Regel nicht im ausreichenden Maße stattfindet. Dies gilt nicht nur für die face-to-face-Kommunikation unter KollegInnen, sondern für den wissenschaftlichen Forschungsbetrieb allgemein. Selbst wissenschaftliche Veröffentlichungen dienen in der Regel nicht primär der wissenschaftlichen Kommunikation, sondern vor allem der eigenen Karriere. Wissenschaftliche Aufsätze zum Beispiel werden in der Regel nicht geschrieben, damit sie gelesen werden, sondern „[...] damit sie geschrieben sind, nämlich für die Veröffentlichungsliste. Denn bei Bewerbungen sind die Titel und die Länge dieser Liste wichtiger als der Inhalt irgendeines der aufgeführten Aufsätze."
Schlimmer noch:

„[...] in der Regel wird größte Sorgfalt darauf verwandt, Aufsätze und Bücher gegen jedwede Kritik abzusichern, selbst um den Preis der Langeweile und Aussagelosigkeit. Eigene Aussagen werden nur über Unwiderlegbares gewagt, über eindeutig kontrollierbare Details eines Spezialgebietes. Der Blick auf das Ganze eines Faches, um von dort her den Stellenwert des Themas und seiner Details zu bestimmen, wird systematisch unterlassen, obwohl erst eines solche Zugangsweise den Details Bedeutung geben würde. Da eine Kritik oder Widerlegung nicht als Lerneffekt und erfreulicher Fortschritt, sondern als grauenhafte Niederlage, als öffentliche Hinrichtung empfunden wird, hat sich dies Verfahren eingespielt und durchgesetzt. Und insofern wird die Behauptung der Wissenschaftstheoretiker, in den Veröffentlichungen stelle sich die neue Erkenntnis der öffentlichen Kritik, durch die institutionelle Praxis tagtäglich zum schönen Mythos herabgesetzt."

Hier sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt der Argumentation angelangt, denn:
Man wird das real existierende Wissenschaftssystem nicht richtig verstehen können, wenn man nicht erkannt hat, daß die aus der Angst vor Kritik entstehende wissenschaftliche Pseudokommunikation ein wesentlicher Grund für das Ausbleiben eines echten wissenschaftlichen Fortschritts ist. Wird inhaltliche Kommunikation nämlich umgangen und damit die Möglichkeit zu Kritik verhindert, so ist der wissenschaftliche Forschungsprozeß selbst fundamental gefährdet, denn - wie POPPER zu recht ausführt -:

„[...] die Objektivität der Wissenschaft ist nicht eine individuelle Angelegenheit der verschiedenen Wissenschaftler, sondern eine soziale Angelegenheit ihrer gegenseitigen Kritik, der freundlich-feindlichen Arbeitsteilung der Wissenschaftler, ihres Zusammenarbeitens und ihres Gegeneinanderarbeitens."

Das bedeutet: Wenn WissenschaftlerInnen unter dem Deckmantel der sogenannten „wissenschaftlichen Vorsicht" sich gegen Kritik immunisieren, das heißt: gegen POPPERs Aufforderung, „den Kopf zu riskieren" verstoßen, so kommt es mit großer Wahrscheinlichkeit zu Einbußen wissenschaftlicher Objektivität, zumindest aber zu einer qualitativen Stagnation der Wissenschaft - und dies, obwohl der quantitative Forschungsoutput im gleichen Moment vielleicht sogar zunimmt.

[...]

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