Wissenschaft" - kaum ein anderes Wort ist mit der Fortschrittsverheißung der
Moderne so eng verknüpft wie dieses. Wissenschaftliche Erkenntnis galt bis in unser
Jahrhundert hinein unangefochten als der Königsweg zur Steigerung des allgemeinen
Lebensstandards, zur Befreiung von Aberglauben und Tradition, zur Lösung der großen
Welt-rätsel.
Und die zahlreichen Erfolge der wissenschaftlichen, streng systematisierten
Erkenntnissuche schienen diese Hoffnung nur zu bestätigen. Die Wissenschaft verhalf den
Glücklichen, die über sie verfügen konnten, zu einem nie da gewesenen materiellen
Wohlstand. Sie sprengte die Ketten der Tradition und löste viele Rätsel, von denen die
Vorfahren nicht einmal geahnt hatten, daß sie überhaupt existierten.
Insofern war es nicht verwunderlich, daß man die wissenschaftliche Methode zunehmend auf
alle Bereiche der Natur und des sozialen Lebens anwandte. Wissenschaft wurde zur zentralen
Produktivkraft der modernen Industriegesellschaft und bis heute hat der Grad der
Verwissenschaftlichung so sehr zugenommen, daß es nicht abwegig erscheint, die
technologisch hochentwickelten Gesellschaften unter den Terminus
Wissenschaftsgesellschaften" (KREIBICH) zu fassen.
Wissenschaft ist heute allgegenwärtig. Sie begegnet uns nicht nur in der Hochschule, der
Bibliothek, dem Labor, sondern auch in der Kneipe, dem Fitneßstudio, dem Friseursalon,
dem Kaffeklatsch, dem Kino, ja sogar der Fußballkommentator bombardiert uns mit
sportmedizinischen Fakten und statistischen Korrelationen. Wo gibt es noch
Partnerschaftskonflikte, die ohne Versatzstücke aus der psychologischen Theorie
auskommen, wo Talk-Sendungen, die nicht mindestens einen diplomierten oder promovierten
Experten aufbieten? Selbst die, die es darauf anlegen, Wissenschaft in den Boden zu
kritisieren, auch sie verwenden in ihrer Kritik wissenschaftlich ausgefeilte Argumente.
Ein Leben ohne Wissenschaft ist undenkbar geworden. BECK hat zweifellos recht, wenn er
resümiert: Wir sind [...] zur Wissenschaftlichkeit verdammt - selbst dort, wo die
Wissenschaftlichkeit verdammt wird"
Dennoch: Trotz der unbestreitbaren Allgegenwart von Wissenschaft wäre es falsch, die
Geschichte der Wissenschaft als eindimensionale Erfolgsstory im Sinne eines linearen
Trends zu beschreiben, denn - ungeachtet ihrer aktuellen gesellschaftlichen, politischen
wie wirtschaftlichen Bedeutung: Wissenschaft war in ihren Grundfesten niemals so bedroht
wie heute.
Damit meine ich nicht nur die Tatsache, daß die Mitglieder der Risikogesellschaft
zunehmend erkennen, daß Wissenschaft mindestens ebenso viele Probleme erzeugt wie sie
löst. (Dieses Argument ließe sich ja noch damit entkräften, daß wir - um die
Risiken zu minimieren - eben eine bessere - den Zusammenhang erkennende und die
Technologiefolgen einkalkulierende - Wissenschaft benötigen.) Bedrohlicher als die
skeptische Beurteilung der Resultate wissenschaftlicher Arbeit ist der mit dem
Postmodernisierungsprozeß einhergehende relativistische Generalangriff auf die zentrale
interne Kommunikationsstruktur von Wissenschaft, nämlich der binären Unterscheidung von
wahr und falsch. Eine scharfe Kritik ihrer Ergebnisse kann Wissenschaft verschmerzen,
nicht jedoch den in der Postmoderne voranschreitenden Verlust der Wahrheit.
Genau damit ist Wissenschaft aber heute zunehmend konfrontiert. Die Zeiten, in denen die
Wissenschaft als über den Dingen schwebende Richterin die vormodernen,
antirationalistischen Traditionen ihres falschen Zaubers überführen konnte, sind vorbei.
Heute wird die Wissenschaft zunehmend selbst entmystifiziert und in ihrem
Wahrheitsanspruch relativiert. Bei FEYERABEND heißt es unmißverständlich:
Die Anwendung auf die Wissenschaften sind klar. Wir haben hier eine besondere
Tradition, die gleichberechtigt an die Seite anderer Traditionen tritt [...]. Ihre
Ergebnisse sind großartig, fast göttlich für gewisse Traditionen, abscheulich für
andere, kaum ein Gähnen wert für wieder andere Traditionen. Unsere wohltrainierten
materialistischen Zeitgenossen bersten natürlich vor Begeisterung, wenn von Dingen wie
den Mondfahrten, der Doppelhelix, der Einsteinschen Raumzeitlehre die Rede ist. Aber sehen
wir die Sache von einem anderen Standpunkt aus an, und sie wird eine lächerliche Übung
in Nutzlosigkeit. Milliarden von Dollars, Tausende von wohltrainierten Assistenten, Jahre
harter Arbeit wurden eingesetzt, damit ein paar nicht zu intelligente und ziemlich
beschränkte Zeitgenossen unbeholfene Sprünge an einem Ort ausführen konnten, den nie
ein vernünftiger Mensch je würde besuchen wollen - auf einem ausgetrockneten, luftlosen,
heißen Stein. Aber Mystiker haben ohne Geld, ohne Assistenten, ohne einen Stab von
Wissenschaftlern mit Hilfe ihres Geistes allein das Universum durchkreuzt, bis sie
schließlich Gott selbst in all seiner Herrlichkeit sahen, und sie brachten zurück nicht
trockene Steine, sondern Trost für die Menschheit. Natürlich macht man heute solche
Behauptungen lächerlich und nennt sie abergläubisch - aber das zeigt nur die geistige
Unmündigkeit des allgemeinen Publikums und ihrer strengen Lehrer, der Intellektuellen.
Eine freie Gesellschaft schließt eine solche Unmündigkeit nicht aus, gestattet ihr aber
auch nicht, Erziehung, Geldmittel, Forschung allein zu beeinflussen [...]"
FEYERABEND betreibt hier nichts anderes als die Aufhebung der modernen Entzauberung der
Welt durch eine postmoderne Entzauberung der Entzauberung. Konsequenz: Wissenschaft
besitzt von nun an keine höhere Wahrheitsgewähr als zum Beispiel das Kartenlegen, die
Zahlenmystik oder die Schlagzeilen der Boulevardpresse. Sie gilt als eine Tradition unter
vielen, verliert ihren Anspruch auf privilegierten Zugang zur Wirklichkeit. Ob man sein
Wissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Kneipengesprächen oder Horoskopen zieht,
wird somit zu einer Frage des subjektiven Geschmacks bzw. der persönlichen traditionalen
Vorlieben. (Nicht umsonst ließ FEYERABEND in Erkenntnis für freie Menschen"
statt einer Erläuterung des eigenen wissenschaftlichen Werdegangs ein Abbild seines
Horoskops abdrucken.)
Die noch junge Geschichte der Wissenschaftstheorie spiegelt die tiefe Verunsicherung
wider, die mit dem supermodernen Selbstreflexivwerden der Wissenschaft unmittelbar
verbunden ist. Autoren wie WITTGENSTEIN, MANNHEIM, ADORNO, POPPER, LAKATOS, KUHN,
FEYERABEND oder RORTY suchten - jeder auf seine Weise - einen Ausweg aus dem Dilemma der
immer offensichtlicher werdenden Diskrepanz zwischen der Bodenlosigkeit der
wissenschaftlichen Argumentation einerseits und der wissenschaftlich notwendigen Einnahme
eines festen theoretischen Standpunkts andererseits.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieht es so aus, als wäre die Suche nach einem hinreichend
begründeten theoretischen Fixpunkt ergebnislos im Sande verlaufen bzw. im FEYERABENDschen
Anything Goes-Sumpf steckengeblieben - mit der Folge, daß eine übertraditional
begründete Unterscheidung von Wissenschaft und Ideologie, wahrer und falscher Erkenntnis
fortan kaum mehr möglich ist. Dies aber bedeutet letztlich nicht weniger, als daß das
Prinzip der Wissenschaftlichkeit selbst von Grund auf in Frage gestellt ist, denn eine
Wissenschaft ohne Wahrheitskriterium macht ebenso wenig Sinn wie eine Ökonomie ohne das
Wechselspiel von Produktion und Konsumtion.
Wie verträgt sich dieses Eingeständnis einer fundamentalen Wissenschaftskrise mit der
gleichsam festgestellten Allgegenwart von Wissenschaft? Wie kann ein gesellschaftliches
Subsystem, das innerlich so zerrüttet ist wie das wissenschaftliche, eine derartig
gewaltige, gesellschaftliche Macht auf sich vereinigen?
Um die hier angesprochene Diskrepanz zu verstehen, muß man sich dreierlei
vergegenwärtigen:
1. Die Rede vom Ende der Wissenschaftlichkeit bezieht sich allein auf das Aussagensystem
der Wissenschaft, also die wissenschaftliche Methode, nicht aber auf das Sozialsystem der
Wissenschaft. Es ist von großer Bedeutung, daß man zwischen diesen beiden Bereichen
streng unterscheidet. Wir werden insbesondere in Kapitel 9.2 sehen, daß das Sozialsystem
der Wissenschaft die Grundregeln der wissenschaftlichen Methode allzu oft ignoriert. Daher
steckt auch kein Widerspruch (sondern vielleicht sogar eher eine Art innere Logik!) in der
Aussage, daß die Anzahl der professionellen WissenschaftlerInnen ausgerechnet zum
Zeitpunkt der großen Wissenschaftskrise in immensem Ausmaße ansteigt. (KREIBICH zufolge
umfaßt die heute lebende Generation etwa 80 Prozent (!!) aller Wissenschaftler, die je
auf der Erde gelebt haben. )
2. Wenn man den gefährdeten Grundzusammenhang der Wissenschaft ignoriert, ist es durchaus
möglich, die wissenschaftliche Methode konsequenter Wahr-Falsch-Codierung weiter
durchzuführen, als wäre nichts passiert. Allerdings ist hierfür ein Forschen auf eng
umrissenen Gebieten notwendig. Der Blick über den Tellerrand der eigenen Subdisziplin
birgt bereits große Gefahren in sich, denn die Frage nach der eigenen metatheoretischen
Verordnung, dem eigentlichen Sinn der Forschung und der gesellschaftlichen Legitimation
der Wissenschaft muß strengstens ausgeblendet werden. (Dies wird zweifellos dadurch
begünstigt, daß ein Großteil der WissenschaftlerInnen niemals dazu angeregt wurde, die
metatheoretischen und ethischen Grundlagen ihrer Arbeit zu reflektieren, was freilich
unter den gegebenen Bedingungen einen gewissen Vorteil bedeutet, weil sie damit -
zumindest im beruflichen Umfeld - der postmodernen Verunsicherung einigermaßen entgehen
können.)
3. Für eine nicht unbedeutende Anzahl von WissenschaftlerInnen wird der für die
wissenschaftliche Methode zentrale Begriff Wahrheit" zunehmend bedeutungslos.
Für sie geht es im Wissenschaftsbetrieb vornehmlich um Macht, Geld, Renommee - nicht um
die altmodische Suche nach Wahrheit. Mit dieser unter den gegenwärtigen Bedingungen sich
stark vermehrenden WissenschaftlerInnen-Spezies (ich bezeichne sie als
dienstleistungsorientierte WissenschaftlerInnen) werden wir uns nachfolgend etwas genauer
beschäftigen, denn an ihrem Beispiel zeigt sich in besonders drastischer Weise, in welch
existentieller Krise sich Wissenschaft gegenwärtig befindet.
Trau keiner Statistik,
es sei denn,
Du hast sie selbst gefälscht!
Volksmund
Es ist - so hatten wir bereits in Kapitel 6.5.3 am Beispiel der Pädagogik festgestellt -
ein ungeschriebenes Gesetz dienstleistungsorientierter Theorie, daß ihre Ergebnisse nicht
vorrangig der Wahrheitsfindung, sondern dem Interesse des Kunden dienen sollen. Daß
WissenschaftlerInnen unter dem Einfluß dieses Denkens zunehmend zu mietbaren Knechten
werden, deren wissenschaftliche Erkenntnis parteilich verzerrt ist und als Ware gehandelt
zur Stützung der Marktanteile der jeweiligen Auftraggeber mißbraucht wird, ist
einsichtig und gilt selbstverständlich nicht nur für die Pädagogik, sondern für jede
wissenschaftliche Disziplin, die ökonomisch und/oder politisch verwertbare Erkenntnisse
produziert.
Mit anderen Worten: Unter dem Banner der Dienstleistungsorientierung wird Wissenschaft zur
Ware und wissenschaftlich verbriefte Wahrheit käuflich, denn wissenschaftliche
Wahrheitsproduktion unterliegt hier letzten Endes dem gleichen Wechselspiel von Angebot
und Nachfrage wie die Produktion von Teetassen, Semmelknödeln oder Fleischwürstchen.
Insofern ist es nicht verwunderlich, daß WissenschaftlerInnen in der Regel nur noch
solche Wahrheiten" produzieren, die unter den gegebenen Marktbedingungen einen
hinreichenden Absatz versprechen. Daß dies dem Wahrheitsprinzip selbst abträglich ist,
ist einsichtig, doch wen stört das? Dienstleistungsorientierte WissenschaftlerInnen
leiden hierunter weit weniger als der BRECHTsche GALILEI, der noch mit Abscheu von dem
Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können",
sprach. Das pathetische Eintreten für die Wahrheit (Und sie dreht sich doch!")
ist ihnen fremd, denn es geht ihnen ja prinzipiell nicht mehr vorrangig um das
Weiterentwickeln der Erkenntnisfähigkeit, sondern um standardisierte Rezepte zum
Bestehen des Konkurrenzkampfes in der wissenschaftlichen Gesellschaft."
Für den Sieg in diesem Konkurrenzkampf tun sie alles, was sie können. Koste es, was es
wolle - und (wie gesagt ) je mehr es die anderen kostet, um so besser. Unter diesen
Umständen ist es nicht verwunderlich, daß zahlreiche Wahrheitsanbieter ihre Marktchancen
dadurch verbessern, daß sie den freien wissenschaftlichen Wettbewerb umgehen
zugunsten vorteilhafter Arrangements mit den Trägern der finanziellen
Forschungsförderung (Staat und Industrie)" :
Hat etwa die chemische Industrie in ein Produkt investiert und will nicht durch
Forschung Gefahr laufen, es vom Markt nehmen zu müssen, so ist es die Aufgabe des
beauftragten wissenschaftlichen Experten, die im Sinne des Auftraggebers manipulierten
wissenschaftlichen" Aussagen zu liefern, die das Produkt verkaufsfähig machen.
Konkret bedeutet dies, Ansprüche Geschädigter im Namen der
Wissenschaft" abzuwehren - auch wenn in Gutachten Flüsse bergauf fließen und
hochkarätige Gifte zum unentbehrlichen Lebenselixier werden müssen. Ferner bedeutet
dies, Einfluß auf die herrschende Lehrmeinung zu nehmen. Solcherart angekaufte Experten
sind vorzugsweise Hochschulprofessoren oder andere Mitglieder des wissenschaftlichen
Establishments, denen das Kommunikationssystem der wissenschaftlichen Gesellschaften
offensteht (Herausgeber von Fachzeitschriften, Einberufer und Ausrichter von
Kongressen)."
In den Büchern von BULTMANN/SCHMITHALS und ZITTLAU finden sich zahlreiche Belege, die die
These von der Käuflichkeit der Wissenschaft eindrucksvoll belegen.
Dabei ist die wissenschaftliche Anbiederung an den Markt kein Einzelfall, sondern eine
strukturell bedingte Massenerscheinung, weil in einem Land [...], in dem der
Forschungsetat, entgegen allen gesellschaftlichen Notwendigkeiten, von 112 Mark pro Kopf
der Bevölkerung (1983) auf 97 Mark (1992) heruntergeprügelt wurde, ein Wissenschaftler
[...] nur noch etwas ausrichten [kann], wenn er neben staatlichen Geldgebern auch andere
Töpfe zu finden vermag."
Vor allem das Erstellen von Gefälligkeitsgutachten ist hierbei in höchstem Maße
lukrativ, sind doch mit Gutachten oft immense finanzielle Interessen verbunden, so daß
für die jeweiligen ExpertInnen, die sich in den Augen von Industrie und Politik
bewähren, entsprechend hohe Geldsummen bereit[liegen]." (BULTMANN
berichtet in diesem Zusammenhang von einem Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums, der
auf die Frage: Wie sichert man am besten eine Sondermülldeponie nach unten
ab?" die zynische, aber nicht unrealistische Antwort gab: Mit einem Gutachten
von einer Viertelmillion" )
Unter diesen Rahmenbedingungen haben WissenschaftlerInnen, die nicht mit den Wölfen
heulen, also das Kundeninteresse nicht über das Wahrheitsprinzip stellen wollen bzw.
können, schlechte Karten, denn ein Experte, der sich zu weit aus dem Fenster lehnt
und eine Meinung vertritt, die dem Geldgeber nicht paßt, muß fürchten, daß ihm die
Gelder entzogen werden." Hierzu ein Beispiel:
Dem Ulmer Toxikologen Professor Dr. Hans-Uwe Wolf wurde 1988 eine vom Stuttgarter
Landwirtschaftsministerium bereits zugesagte finanzielle Förderung seiner Arbeiten
plötzlich gestrichen. Die Vermutung liegt nahe, daß seine Versuche, Pestizide im Blut
nachzuweisen, ihn in bestimmten Kreisen unbeliebt machten. Just in dieser Zeit zeigten
sich nämlich im Raum Tübingen bei über 100 Menschen Vergiftungssymptome, die auf
Pestizide hinwiesen. Sogar zwei Todesfälle wurden hiermit in Zusammenhang gebracht. Wolf
war nach Absage des Ministeriums gezwungen, seine Forschungen einzustellen. Anzeigen von
Betroffenen wurden vom Staatsanwalt niedergeschlagen. Das Tübinger Gesundheitsamt zeigte
kein sonderliches Interesse, sich mit dieser Sache zu beschäftigen. [...] Hätte Wolf den
Nachweis erbringen können, daß sich Pestizide im Blut angereichert hatten und hier die
Ursache der Vergiftungen lag, wäre das alles nicht möglich gewesen."
MÜLLER-MOHNSSEN kommentiert:
Mit der Produktion unverkäuflicher oder sogar gegen das Interesse des
Zeitgeistes gerichteter Leistungen würde der Wissenschaftler Waffen an die
falsche" Seite liefern und seine sowie die Existenz seiner Familie aufs Spiel
setzen, zum Beispiel mit der Aufdeckung von Vergiftungsfällen, die es nicht geben darf,
mit der Aufdeckung von Gesundheitsrisiken, deren Auswirkungen die Eltern und Vorgesetzten
nicht mehr erleben werden, mit der Entwicklung von Verfahren der Vorsorge, die aber den
Wohlstand der gegenwärtig bestimmenden Elterngeneration angeblich umso mehr schmälern,
je effektiver sie sind. Ein wissenschaftliches Ergebnis, das im Gegensatz steht zu
vordergründigen ökonomischen Interessen der Industrie und der sie unterstützenden
politischen Klasse - wie der Nachweis der Gesundheitsschädlichkeit vielverkaufter Biozide
- birgt heute nicht nur einfach das Risiko des Unterliegens in einem wissenschaftlichen
Wettstreit, sondern führt vielmehr zur Kriminalisierung und Ausgrenzung des
Wissenschaftlers aus der Gesellschaft."
Sein ernüchterndes Fazit:
Eine wissenschaftliche Gesellschaft, in der nicht wissenschaftliche Ergebnisse,
sondern die richtige" Meinung zu haben für jeden einzelnen zur Existenzfrage
wird, kann sich keine wissenschaftliche Wahrheitsfindung mehr leisten."
Nun gibt es aber - wie wir bereits in Kapitel 6.5.4 festgestellt haben - jenseits der
geschäftigen, dienstleistungsorientierten Front - eine nicht unbeträchtliche Anzahl von
ForscherInnen, die den Verwertungsinteressen des Marktes nicht direkt unterworfen sind.
Einen Großteil von ihnen können wir zum sogenannten unproduktiven Rest"
zählen, also zum erlauchten Kreis derer, die sich mit der Nutzlosigkeit der eigenen
Forschung abgefunden und ihr akademisches Leben mehr oder weniger komfortabel in den
Elfenbeintürmen der Wissenschaft eingerichtet haben.
Nach einigen modernistisch bedingten Wehen und Anpassungsschwierigkeiten hat sich dieser
unproduktive Rest - wie es scheint - leidlich mit der Postmodernisierung der Verhältnisse
abgefunden. Dies geschah umso leichter, als man feststellen konnte, daß die
liebgewonnenen Privilegien durch die Postmoderne kaum ernsthaft in Gefahr geraten.
Vielmehr: Die Postmoderne gibt den freien" WissenschaftlerInnen des
unproduktiven Rests noch größere Freiheit zu erforschen, was sie wollen, - selbst wenn
es die Systemische Soziologie der Türklinke in der oberfränkischen Backstube der
Jahre 1775-1779" ist. (Ich hoffe inständig, daß es diese Arbeit nicht gibt, aber
man muß wohl mit allem rechnen, denn - wie gesagt - die Forschung des unproduktiven
Rests" wird nicht bestimmt durch praktische Probleme, die es zu lösen gilt, sondern
durch die individuellen Interessen und Vorlieben der jeweils Forschenden, die im Ghetto
ihrer eigenen Nutzlosigkeit so etwas wie Narrenfreiheit haben. Von daher ist es nicht
verwunderlich, daß der unproduktive Rest" die Neue
Unübersichtlichkeit" eigentlich begrüßen mußte, denn in ihr fällt die eigene
Nutzlosigkeit kaum noch auf.)
Ich hatte bereits im oben erwähnten Kapitel darauf hingewiesen, daß man zwischen
unproduktivem und kritischem Rest unterscheiden müsse. Unter das Stichwort
kritischer Rest" hatte ich all jene ForscherInnen subsumiert, die aus
kritischer Distanz, befreit von kurzfristig-ökonomischen Vermarktungsinteressen,
exoterische Forschung betreiben, d.h. eine Forschung, die nicht nur Eingeweihten (wie im
Falle des unproduktiven Rests) oder bestimmten Individuen bzw. Gruppen (wie in der
dienstleistungsorientierten Forschung) dienen soll, sondern prinzipiell den Interessen
aller Menschen (also auch den Interessen der Zukünftigen, die in marktorientierten
Konzepten nur sehr schlecht repräsentiert sind.)
Wir hatten daraus abgeleitet, daß der Elfenbeinturm erhalten werden müsse, weil es eines
Ortes der Besinnung bedarf, an dem die schwächliche Stimme der Vernunft ausnahmsweise
nicht von Marktgeschrei übertönt wird. (Welch gravierende Veränderungen die Befreiung
vom Marktdiktat bzw. vom politischen Systemzwang hervorrufen kann, hat Carl AMERY einmal
am Beispiel der berühmten Ruhestands-Konversionen" dieses Jahrhunderts
ausgeführt. )
Es ist evident, daß eine Stärkung des kritischen Rests angesichts der zunehmenden
Bedrohungen ökologischer wie sozialer Art dringend erforderlich wäre. Allerdings ist
ausgerechnet diese Gruppe unter den gegenwärtigen Bedingungen am stärksten bedroht, denn
sie befindet sich in einem auf die Dauer recht aufreibenden Zweifrontenkrieg mit
Dienstleistungsorientierung und unproduktivem Rest. Während die einen die fehlende
praktische Verwertbarkeit kritischer Erzeugnisse reklamieren, vermissen die anderen die
sie auszeichnende vornehme Praxisdistanz und empören sich über die eindeutige
Engagiertheit kritischer Forschung. Mit anderen Worten: Kritische Forschung scheint unter
den gegebenen Deutungsmustern gleich doppelt - nämlich theoretisch und praktisch - zu
scheitern. Der Grund hierfür ist, daß a) unter Praxisrelevanz zur Zeit nur das gefaßt
wird, was unter den real existierenden Marktbedingungen möglichst gut verwertet werden
kann, und daß b) Theorie nur dann als wahre, reine Theorie gilt, wenn sie in einem
möglichst wertfreien, von Praxisinteressen gereinigten Gewand erscheint.
Darüber hinaus - und damit komme ich auf die anfänglichen Ausführungen dieses Kapitels
zurück - wird der kritische Rest, der - im Unterschied zu unproduktivem Rest und
Dienstleistungsorientierung - notwendigerweise den univeralistischen Emanzipationsanspruch
der Moderne noch in sich trägt, fundamental bedroht durch die postmoderne Entzauberung
der Entzauberung, denn die Dekonstruktion des modernen Emanzipationsmythos entzieht dem
kritischen Rest sozusagen die Arbeitsgrundlage. Folge: Einige VertreterInnen des
kritischen Rests flüchten sich in das Narrenghetto des unproduktiven Rests, andere
wiederum entdecken ihre Kaufmannsqualitäten, designen ihre Erkenntnisse nach
marktgängigem Muster und verhökern sie an die Meistbietenden. (Etwas anderes bleibt
ihnen auch kaum übrig in einer Zeit, in der das kritische Insistieren auf die
Notwendigkeit und Möglichkeit einer von Marktbedürfnissen unabhängigen und dennoch
praxisrelevanten Unterscheidung von wahr und falsch nicht nur monetär und sozial
bestraft, sondern auch als ein Standpunkt unter vielen zurückgewiesen und damit letztlich
entwertet wird.)
Die Folgen der so voranschreitenden marktorientierten Pluralisierung von Wahrheit sind
natürlich nicht nur verheerend für die Wissenschaft: Wenn nämlich die Möglichkeit
universell legitimierter Wahr-Falsch-Codierung entfällt, dann können sich die
VertreterInnen des Establishment aus dem gigantischen Arsenal von Wahrheiten noch
unbefangener diejenigen herausgreifen, die allein ihren eigenen Interessen dienen. Mit
großer Wahrscheinlichkeit werden ForscherInnen unter dem so entstehenden besonderen
Nachfragedruck in Zukunft noch häufiger Falschgutachten erstellen als dies heute der Fall
ist. Das muß nicht heißen, daß sie hierfür in Zukunft noch häufiger bewußt fälschen
müßten. In vielen Fällen wird dies automatisch, ohne bösen Vorsatz, geschehen, denn es
ist zu befürchten, daß WissenschaftlerInnen die Sensibilität für die Unterscheidung
von Wahrheit und interessensgeleiteter Täuschung zunehmend verlieren werden, wenn die
Selektion von Wahrheitskonstruktionen noch stärker den Verwertungsinteressen jener
ökonomischen und politischen Systeme überantwortet wird, die aufgrund von Geld/Macht die
Forschungsförderung bestimmen.
Aus all dem können wir schließen, daß es heute entscheidend ist, den Wahrheitsbegriff
im wissenschaftlichen Kontext möglichst stabil vor dem Verfallsprozeß radikaler
Pluralisierung zu schützen. Dies allerdings kann nur unter veränderten metatheoretischen
wie soziologischen Voraussetzungen glücken, nämlich nur dann, wenn WissenschaftlerInnen
sich aufgrund logisch zwingender theoretischer Vorgaben sowie sozialem Druck dazu
gezwungen fühlen, all jene Prämissen und Kontexte anzugeben, die sich bestimmend auf
ihre jeweilige wissenschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen auswirken. Die folgenden
Kapitel sollen hierfür die notwendigen wissenschaftstheoretischen und -soziologischen
Grundlagen liefern.