8. Wissenschaft: moderner Aufstieg - postmoderner Fall?

8.1 Die Entzauberung der Entzauberung: Von der Fortschrittsverheißung zur Wissenschaftskrise


„Wissenschaft" - kaum ein anderes Wort ist mit der Fortschrittsverheißung der Moderne so eng verknüpft wie dieses. Wissenschaftliche Erkenntnis galt bis in unser Jahrhundert hinein unangefochten als der Königsweg zur Steigerung des allgemeinen Lebensstandards, zur Befreiung von Aberglauben und Tradition, zur Lösung der großen Welt-rätsel.
Und die zahlreichen Erfolge der wissenschaftlichen, streng systematisierten Erkenntnissuche schienen diese Hoffnung nur zu bestätigen. Die Wissenschaft verhalf den Glücklichen, die über sie verfügen konnten, zu einem nie da gewesenen materiellen Wohlstand. Sie sprengte die Ketten der Tradition und löste viele Rätsel, von denen die Vorfahren nicht einmal geahnt hatten, daß sie überhaupt existierten.
Insofern war es nicht verwunderlich, daß man die wissenschaftliche Methode zunehmend auf alle Bereiche der Natur und des sozialen Lebens anwandte. Wissenschaft wurde zur zentralen Produktivkraft der modernen Industriegesellschaft und bis heute hat der Grad der Verwissenschaftlichung so sehr zugenommen, daß es nicht abwegig erscheint, die technologisch hochentwickelten Gesellschaften unter den Terminus „Wissenschaftsgesellschaften" (KREIBICH)  zu fassen.
Wissenschaft ist heute allgegenwärtig. Sie begegnet uns nicht nur in der Hochschule, der Bibliothek, dem Labor, sondern auch in der Kneipe, dem Fitneßstudio, dem Friseursalon, dem Kaffeklatsch, dem Kino, ja sogar der Fußballkommentator bombardiert uns mit sportmedizinischen Fakten und statistischen Korrelationen. Wo gibt es noch Partnerschaftskonflikte, die ohne Versatzstücke aus der psychologischen Theorie auskommen, wo Talk-Sendungen, die nicht mindestens einen diplomierten oder promovierten Experten aufbieten? Selbst die, die es darauf anlegen, Wissenschaft in den Boden zu kritisieren, auch sie verwenden in ihrer Kritik wissenschaftlich ausgefeilte Argumente. Ein Leben ohne Wissenschaft ist undenkbar geworden. BECK hat zweifellos recht, wenn er resümiert: „Wir sind [...] zur Wissenschaftlichkeit verdammt - selbst dort, wo die Wissenschaftlichkeit verdammt wird"

Dennoch: Trotz der unbestreitbaren Allgegenwart von Wissenschaft wäre es falsch, die Geschichte der Wissenschaft als eindimensionale Erfolgsstory im Sinne eines linearen Trends zu beschreiben, denn - ungeachtet ihrer aktuellen gesellschaftlichen, politischen wie wirtschaftlichen Bedeutung: Wissenschaft war in ihren Grundfesten niemals so bedroht wie heute.
Damit meine ich nicht nur die Tatsache, daß die Mitglieder der Risikogesellschaft zunehmend erkennen, daß Wissenschaft mindestens ebenso viele Probleme erzeugt wie sie löst.  (Dieses Argument ließe sich ja noch damit entkräften, daß wir - um die Risiken zu minimieren - eben eine bessere - den Zusammenhang erkennende und die Technologiefolgen einkalkulierende - Wissenschaft benötigen.) Bedrohlicher als die skeptische Beurteilung der Resultate wissenschaftlicher Arbeit ist der mit dem Postmodernisierungsprozeß einhergehende relativistische Generalangriff auf die zentrale interne Kommunikationsstruktur von Wissenschaft, nämlich der binären Unterscheidung von wahr und falsch. Eine scharfe Kritik ihrer Ergebnisse kann Wissenschaft verschmerzen, nicht jedoch den in der Postmoderne voranschreitenden Verlust der Wahrheit.
Genau damit ist Wissenschaft aber heute zunehmend konfrontiert. Die Zeiten, in denen die Wissenschaft als über den Dingen schwebende Richterin die vormodernen, antirationalistischen Traditionen ihres falschen Zaubers überführen konnte, sind vorbei. Heute wird die Wissenschaft zunehmend selbst entmystifiziert und in ihrem Wahrheitsanspruch relativiert. Bei FEYERABEND heißt es unmißverständlich:

„Die Anwendung auf die Wissenschaften sind klar. Wir haben hier eine besondere Tradition, die gleichberechtigt an die Seite anderer Traditionen tritt [...]. Ihre Ergebnisse sind großartig, fast göttlich für gewisse Traditionen, abscheulich für andere, kaum ein Gähnen wert für wieder andere Traditionen. Unsere wohltrainierten materialistischen Zeitgenossen bersten natürlich vor Begeisterung, wenn von Dingen wie den Mondfahrten, der Doppelhelix, der Einsteinschen Raumzeitlehre die Rede ist. Aber sehen wir die Sache von einem anderen Standpunkt aus an, und sie wird eine lächerliche Übung in Nutzlosigkeit. Milliarden von Dollars, Tausende von wohltrainierten Assistenten, Jahre harter Arbeit wurden eingesetzt, damit ein paar nicht zu intelligente und ziemlich beschränkte Zeitgenossen unbeholfene Sprünge an einem Ort ausführen konnten, den nie ein vernünftiger Mensch je würde besuchen wollen - auf einem ausgetrockneten, luftlosen, heißen Stein. Aber Mystiker haben ohne Geld, ohne Assistenten, ohne einen Stab von Wissenschaftlern mit Hilfe ihres Geistes allein das Universum durchkreuzt, bis sie schließlich Gott selbst in all seiner Herrlichkeit sahen, und sie brachten zurück nicht trockene Steine, sondern Trost für die Menschheit. Natürlich macht man heute solche Behauptungen lächerlich und nennt sie abergläubisch - aber das zeigt nur die geistige Unmündigkeit des allgemeinen Publikums und ihrer strengen Lehrer, der Intellektuellen. Eine freie Gesellschaft schließt eine solche Unmündigkeit nicht aus, gestattet ihr aber auch nicht, Erziehung, Geldmittel, Forschung allein zu beeinflussen [...]"

FEYERABEND betreibt hier nichts anderes als die Aufhebung der modernen Entzauberung der Welt durch eine postmoderne Entzauberung der Entzauberung. Konsequenz: Wissenschaft besitzt von nun an keine höhere Wahrheitsgewähr als zum Beispiel das Kartenlegen, die Zahlenmystik oder die Schlagzeilen der Boulevardpresse. Sie gilt als eine Tradition unter vielen, verliert ihren Anspruch auf privilegierten Zugang zur Wirklichkeit. Ob man sein Wissen aus wissenschaftlichen Untersuchungen, Kneipengesprächen oder Horoskopen zieht, wird somit zu einer Frage des subjektiven Geschmacks bzw. der persönlichen traditionalen Vorlieben. (Nicht umsonst ließ FEYERABEND in „Erkenntnis für freie Menschen" statt einer Erläuterung des eigenen wissenschaftlichen Werdegangs ein Abbild seines Horoskops abdrucken.)
Die noch junge Geschichte der Wissenschaftstheorie spiegelt die tiefe Verunsicherung wider, die mit dem supermodernen Selbstreflexivwerden der Wissenschaft unmittelbar verbunden ist. Autoren wie WITTGENSTEIN, MANNHEIM, ADORNO, POPPER, LAKATOS, KUHN, FEYERABEND oder RORTY suchten - jeder auf seine Weise - einen Ausweg aus dem Dilemma der immer offensichtlicher werdenden Diskrepanz zwischen der Bodenlosigkeit der wissenschaftlichen Argumentation einerseits und der wissenschaftlich notwendigen Einnahme eines festen theoretischen Standpunkts andererseits.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieht es so aus, als wäre die Suche nach einem hinreichend begründeten theoretischen Fixpunkt ergebnislos im Sande verlaufen bzw. im FEYERABENDschen Anything Goes-Sumpf steckengeblieben - mit der Folge, daß eine übertraditional begründete Unterscheidung von Wissenschaft und Ideologie, wahrer und falscher Erkenntnis fortan kaum mehr möglich ist. Dies aber bedeutet letztlich nicht weniger, als daß das Prinzip der Wissenschaftlichkeit selbst von Grund auf in Frage gestellt ist, denn eine Wissenschaft ohne Wahrheitskriterium macht ebenso wenig Sinn wie eine Ökonomie ohne das Wechselspiel von Produktion und Konsumtion.
Wie verträgt sich dieses Eingeständnis einer fundamentalen Wissenschaftskrise mit der gleichsam festgestellten Allgegenwart von Wissenschaft? Wie kann ein gesellschaftliches Subsystem, das innerlich so zerrüttet ist wie das wissenschaftliche, eine derartig gewaltige, gesellschaftliche Macht auf sich vereinigen?
Um die hier angesprochene Diskrepanz zu verstehen, muß man sich dreierlei vergegenwärtigen:
1. Die Rede vom Ende der Wissenschaftlichkeit bezieht sich allein auf das Aussagensystem der Wissenschaft, also die wissenschaftliche Methode, nicht aber auf das Sozialsystem der Wissenschaft. Es ist von großer Bedeutung, daß man zwischen diesen beiden Bereichen streng unterscheidet. Wir werden insbesondere in Kapitel 9.2 sehen, daß das Sozialsystem der Wissenschaft die Grundregeln der wissenschaftlichen Methode allzu oft ignoriert. Daher steckt auch kein Widerspruch (sondern vielleicht sogar eher eine Art innere Logik!) in der Aussage, daß die Anzahl der professionellen WissenschaftlerInnen ausgerechnet zum Zeitpunkt der großen Wissenschaftskrise in immensem Ausmaße ansteigt. (KREIBICH zufolge umfaßt die heute lebende Generation etwa 80 Prozent (!!) aller Wissenschaftler, die je auf der Erde gelebt haben. )
2. Wenn man den gefährdeten Grundzusammenhang der Wissenschaft ignoriert, ist es durchaus möglich, die wissenschaftliche Methode konsequenter Wahr-Falsch-Codierung weiter durchzuführen, als wäre nichts passiert. Allerdings ist hierfür ein Forschen auf eng umrissenen Gebieten notwendig. Der Blick über den Tellerrand der eigenen Subdisziplin birgt bereits große Gefahren in sich, denn die Frage nach der eigenen metatheoretischen Verordnung, dem eigentlichen Sinn der Forschung und der gesellschaftlichen Legitimation der Wissenschaft muß strengstens ausgeblendet werden. (Dies wird zweifellos dadurch begünstigt, daß ein Großteil der WissenschaftlerInnen niemals dazu angeregt wurde, die metatheoretischen und ethischen Grundlagen ihrer Arbeit zu reflektieren, was freilich unter den gegebenen Bedingungen einen gewissen Vorteil bedeutet, weil sie damit - zumindest im beruflichen Umfeld - der postmodernen Verunsicherung einigermaßen entgehen können.)
3. Für eine nicht unbedeutende Anzahl von WissenschaftlerInnen wird der für die wissenschaftliche Methode zentrale Begriff „Wahrheit" zunehmend bedeutungslos. Für sie geht es im Wissenschaftsbetrieb vornehmlich um Macht, Geld, Renommee - nicht um die altmodische Suche nach Wahrheit. Mit dieser unter den gegenwärtigen Bedingungen sich stark vermehrenden WissenschaftlerInnen-Spezies (ich bezeichne sie als dienstleistungsorientierte WissenschaftlerInnen) werden wir uns nachfolgend etwas genauer beschäftigen, denn an ihrem Beispiel zeigt sich in besonders drastischer Weise, in welch existentieller Krise sich Wissenschaft gegenwärtig befindet.


 8.2 Wahrheit ist käuflich: Die neue Geschäftigkeit der dienstleistungsorientierten Wissenschaft


Trau keiner Statistik,
es sei denn,
Du hast sie selbst gefälscht!
Volksmund

Es ist - so hatten wir bereits in Kapitel 6.5.3 am Beispiel der Pädagogik festgestellt - ein ungeschriebenes Gesetz dienstleistungsorientierter Theorie, daß ihre Ergebnisse nicht vorrangig der Wahrheitsfindung, sondern dem Interesse des Kunden dienen sollen. Daß WissenschaftlerInnen unter dem Einfluß dieses Denkens zunehmend zu mietbaren Knechten werden, deren wissenschaftliche Erkenntnis parteilich verzerrt ist und als Ware gehandelt zur Stützung der Marktanteile der jeweiligen Auftraggeber mißbraucht wird, ist einsichtig und gilt selbstverständlich nicht nur für die Pädagogik, sondern für jede wissenschaftliche Disziplin, die ökonomisch und/oder politisch verwertbare Erkenntnisse produziert.
Mit anderen Worten: Unter dem Banner der Dienstleistungsorientierung wird Wissenschaft zur Ware und wissenschaftlich verbriefte Wahrheit käuflich, denn wissenschaftliche Wahrheitsproduktion unterliegt hier letzten Endes dem gleichen Wechselspiel von Angebot und Nachfrage wie die Produktion von Teetassen, Semmelknödeln oder Fleischwürstchen. Insofern ist es nicht verwunderlich, daß WissenschaftlerInnen in der Regel nur noch solche „Wahrheiten" produzieren, die unter den gegebenen Marktbedingungen einen hinreichenden Absatz versprechen. Daß dies dem Wahrheitsprinzip selbst abträglich ist, ist einsichtig, doch wen stört das? Dienstleistungsorientierte WissenschaftlerInnen leiden hierunter weit weniger als der BRECHTsche GALILEI, der noch mit Abscheu von dem „Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für alles gemietet werden können", sprach. Das pathetische Eintreten für die Wahrheit („Und sie dreht sich doch!") ist ihnen fremd, denn es geht ihnen ja prinzipiell nicht mehr vorrangig um das Weiterentwickeln der Erkenntnisfähigkeit, sondern um „standardisierte Rezepte zum Bestehen des Konkurrenzkampfes in der wissenschaftlichen Gesellschaft."
Für den Sieg in diesem Konkurrenzkampf tun sie alles, was sie können. Koste es, was es wolle - und (wie gesagt ) je mehr es die anderen kostet, um so besser. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß zahlreiche Wahrheitsanbieter ihre Marktchancen dadurch verbessern, daß sie „den freien wissenschaftlichen Wettbewerb umgehen zugunsten vorteilhafter Arrangements mit den Trägern der finanziellen Forschungsförderung (Staat und Industrie)" :

„Hat etwa die chemische Industrie in ein Produkt investiert und will nicht durch Forschung Gefahr laufen, es vom Markt nehmen zu müssen, so ist es die Aufgabe des beauftragten wissenschaftlichen Experten, die im Sinne des Auftraggebers manipulierten „wissenschaftlichen" Aussagen zu liefern, die das Produkt verkaufsfähig machen. Konkret bedeutet dies, Ansprüche Geschädigter „im Namen der Wissenschaft"  abzuwehren - auch wenn in Gutachten Flüsse bergauf fließen und hochkarätige Gifte zum unentbehrlichen Lebenselixier werden müssen. Ferner bedeutet dies, Einfluß auf die herrschende Lehrmeinung zu nehmen. Solcherart angekaufte Experten sind vorzugsweise Hochschulprofessoren oder andere Mitglieder des wissenschaftlichen Establishments, denen das Kommunikationssystem der wissenschaftlichen Gesellschaften offensteht (Herausgeber von Fachzeitschriften, Einberufer und Ausrichter von Kongressen)."

In den Büchern von BULTMANN/SCHMITHALS und ZITTLAU finden sich zahlreiche Belege, die die These von der Käuflichkeit der Wissenschaft eindrucksvoll belegen.
Dabei ist die wissenschaftliche Anbiederung an den Markt kein Einzelfall, sondern eine strukturell bedingte Massenerscheinung, weil in „einem Land [...], in dem der Forschungsetat, entgegen allen gesellschaftlichen Notwendigkeiten, von 112 Mark pro Kopf der Bevölkerung (1983) auf 97 Mark (1992) heruntergeprügelt wurde, ein Wissenschaftler [...] nur noch etwas ausrichten [kann], wenn er neben staatlichen Geldgebern auch andere Töpfe zu finden vermag."
Vor allem das Erstellen von Gefälligkeitsgutachten ist hierbei in höchstem Maße lukrativ, sind doch mit Gutachten oft immense finanzielle Interessen verbunden, so daß für die jeweiligen ExpertInnen, die „sich in den Augen von Industrie und Politik bewähren, entsprechend hohe Geldsummen bereit[liegen]."   (BULTMANN berichtet in diesem Zusammenhang von einem Mitarbeiter des Bundesumweltministeriums, der auf die Frage: „Wie sichert man am besten eine Sondermülldeponie nach unten ab?" die zynische, aber nicht unrealistische Antwort gab: „Mit einem Gutachten von einer Viertelmillion" )
Unter diesen Rahmenbedingungen haben WissenschaftlerInnen, die nicht mit den Wölfen heulen, also das Kundeninteresse nicht über das Wahrheitsprinzip stellen wollen bzw. können, schlechte Karten, denn ein „Experte, der sich zu weit aus dem Fenster lehnt und eine Meinung vertritt, die dem Geldgeber nicht paßt, muß fürchten, daß ihm die Gelder entzogen werden."  Hierzu ein Beispiel:

„Dem Ulmer Toxikologen Professor Dr. Hans-Uwe Wolf wurde 1988 eine vom Stuttgarter Landwirtschaftsministerium bereits zugesagte finanzielle Förderung seiner Arbeiten plötzlich gestrichen. Die Vermutung liegt nahe, daß seine Versuche, Pestizide im Blut nachzuweisen, ihn in bestimmten Kreisen unbeliebt machten. Just in dieser Zeit zeigten sich nämlich im Raum Tübingen bei über 100 Menschen Vergiftungssymptome, die auf Pestizide hinwiesen. Sogar zwei Todesfälle wurden hiermit in Zusammenhang gebracht. Wolf war nach Absage des Ministeriums gezwungen, seine Forschungen einzustellen. Anzeigen von Betroffenen wurden vom Staatsanwalt niedergeschlagen. Das Tübinger Gesundheitsamt zeigte kein sonderliches Interesse, sich mit dieser Sache zu beschäftigen. [...] Hätte Wolf den Nachweis erbringen können, daß sich Pestizide im Blut angereichert hatten und hier die Ursache der Vergiftungen lag, wäre das alles nicht möglich gewesen."

MÜLLER-MOHNSSEN kommentiert:

 „Mit der Produktion unverkäuflicher oder sogar gegen das Interesse des Zeitgeistes gerichteter Leistungen würde der Wissenschaftler Waffen an die „falsche" Seite liefern und seine sowie die Existenz seiner Familie aufs Spiel setzen, zum Beispiel mit der Aufdeckung von Vergiftungsfällen, die es nicht geben darf, mit der Aufdeckung von Gesundheitsrisiken, deren Auswirkungen die Eltern und Vorgesetzten nicht mehr erleben werden, mit der Entwicklung von Verfahren der Vorsorge, die aber den Wohlstand der gegenwärtig bestimmenden Elterngeneration angeblich umso mehr schmälern, je effektiver sie sind. Ein wissenschaftliches Ergebnis, das im Gegensatz steht zu vordergründigen ökonomischen Interessen der Industrie und der sie unterstützenden politischen Klasse - wie der Nachweis der Gesundheitsschädlichkeit vielverkaufter Biozide - birgt heute nicht nur einfach das Risiko des Unterliegens in einem wissenschaftlichen Wettstreit, sondern führt vielmehr zur Kriminalisierung und Ausgrenzung des Wissenschaftlers aus der Gesellschaft."

Sein ernüchterndes Fazit:

„Eine wissenschaftliche Gesellschaft, in der nicht wissenschaftliche Ergebnisse, sondern die „richtige" Meinung zu haben für jeden einzelnen zur Existenzfrage wird, kann sich keine wissenschaftliche Wahrheitsfindung mehr leisten."


 8.3 Vom ?unproduktiven" zum ?kritischen Rest"?


Nun gibt es aber - wie wir bereits in Kapitel 6.5.4 festgestellt haben - jenseits der geschäftigen, dienstleistungsorientierten Front - eine nicht unbeträchtliche Anzahl von ForscherInnen, die den Verwertungsinteressen des Marktes nicht direkt unterworfen sind. Einen Großteil von ihnen können wir zum sogenannten „unproduktiven Rest" zählen, also zum erlauchten Kreis derer, die sich mit der Nutzlosigkeit der eigenen Forschung abgefunden und ihr akademisches Leben mehr oder weniger komfortabel in den Elfenbeintürmen der Wissenschaft eingerichtet haben.
Nach einigen modernistisch bedingten Wehen und Anpassungsschwierigkeiten hat sich dieser unproduktive Rest - wie es scheint - leidlich mit der Postmodernisierung der Verhältnisse abgefunden. Dies geschah umso leichter, als man feststellen konnte, daß die liebgewonnenen Privilegien durch die Postmoderne kaum ernsthaft in Gefahr geraten. Vielmehr: Die Postmoderne gibt den „freien" WissenschaftlerInnen des unproduktiven Rests noch größere Freiheit zu erforschen, was sie wollen, - selbst wenn es die „Systemische Soziologie der Türklinke in der oberfränkischen Backstube der Jahre 1775-1779" ist. (Ich hoffe inständig, daß es diese Arbeit nicht gibt, aber man muß wohl mit allem rechnen, denn - wie gesagt - die Forschung des „unproduktiven Rests" wird nicht bestimmt durch praktische Probleme, die es zu lösen gilt, sondern durch die individuellen Interessen und Vorlieben der jeweils Forschenden, die im Ghetto ihrer eigenen Nutzlosigkeit so etwas wie Narrenfreiheit haben. Von daher ist es nicht verwunderlich, daß der „unproduktive Rest" die „Neue Unübersichtlichkeit" eigentlich begrüßen mußte, denn in ihr fällt die eigene Nutzlosigkeit kaum noch auf.)
Ich hatte bereits im oben erwähnten Kapitel darauf hingewiesen, daß man zwischen unproduktivem und kritischem Rest unterscheiden müsse. Unter das Stichwort „kritischer Rest" hatte ich all jene ForscherInnen subsumiert, die aus kritischer Distanz, befreit von kurzfristig-ökonomischen Vermarktungsinteressen, exoterische Forschung betreiben, d.h. eine Forschung, die nicht nur Eingeweihten (wie im Falle des unproduktiven Rests) oder bestimmten Individuen bzw. Gruppen (wie in der dienstleistungsorientierten Forschung) dienen soll, sondern prinzipiell den Interessen aller Menschen (also auch den Interessen der Zukünftigen, die in marktorientierten Konzepten nur sehr schlecht repräsentiert sind.)
Wir hatten daraus abgeleitet, daß der Elfenbeinturm erhalten werden müsse, weil es eines Ortes der Besinnung bedarf, an dem die schwächliche Stimme der Vernunft ausnahmsweise nicht von Marktgeschrei übertönt wird. (Welch gravierende Veränderungen die Befreiung vom Marktdiktat bzw. vom politischen Systemzwang hervorrufen kann, hat Carl AMERY einmal am Beispiel der berühmten „Ruhestands-Konversionen" dieses Jahrhunderts ausgeführt. )

Es ist evident, daß eine Stärkung des kritischen Rests angesichts der zunehmenden Bedrohungen ökologischer wie sozialer Art dringend erforderlich wäre. Allerdings ist ausgerechnet diese Gruppe unter den gegenwärtigen Bedingungen am stärksten bedroht, denn sie befindet sich in einem auf die Dauer recht aufreibenden Zweifrontenkrieg mit Dienstleistungsorientierung und unproduktivem Rest. Während die einen die fehlende praktische Verwertbarkeit kritischer Erzeugnisse reklamieren, vermissen die anderen die sie auszeichnende vornehme Praxisdistanz und empören sich über die eindeutige Engagiertheit kritischer Forschung. Mit anderen Worten: Kritische Forschung scheint unter den gegebenen Deutungsmustern gleich doppelt - nämlich theoretisch und praktisch - zu scheitern. Der Grund hierfür ist, daß a) unter Praxisrelevanz zur Zeit nur das gefaßt wird, was unter den real existierenden Marktbedingungen möglichst gut verwertet werden kann, und daß b) Theorie nur dann als wahre, reine Theorie gilt, wenn sie in einem möglichst wertfreien, von Praxisinteressen gereinigten Gewand erscheint.
Darüber hinaus - und damit komme ich auf die anfänglichen Ausführungen dieses Kapitels zurück - wird der kritische Rest, der - im Unterschied zu unproduktivem Rest und Dienstleistungsorientierung - notwendigerweise den univeralistischen Emanzipationsanspruch der Moderne noch in sich trägt, fundamental bedroht durch die postmoderne Entzauberung der Entzauberung, denn die Dekonstruktion des modernen Emanzipationsmythos entzieht dem kritischen Rest sozusagen die Arbeitsgrundlage. Folge: Einige VertreterInnen des kritischen Rests flüchten sich in das Narrenghetto des unproduktiven Rests, andere wiederum entdecken ihre Kaufmannsqualitäten, designen ihre Erkenntnisse nach marktgängigem Muster und verhökern sie an die Meistbietenden. (Etwas anderes bleibt ihnen auch kaum übrig in einer Zeit, in der das kritische Insistieren auf die Notwendigkeit und Möglichkeit einer von Marktbedürfnissen unabhängigen und dennoch praxisrelevanten Unterscheidung von wahr und falsch nicht nur monetär und sozial bestraft, sondern auch als ein Standpunkt unter vielen zurückgewiesen und damit letztlich entwertet wird.)
Die Folgen der so voranschreitenden marktorientierten Pluralisierung von Wahrheit sind natürlich nicht nur verheerend für die Wissenschaft: Wenn nämlich die Möglichkeit universell legitimierter Wahr-Falsch-Codierung entfällt, dann können sich die VertreterInnen des Establishment aus dem gigantischen Arsenal von Wahrheiten noch unbefangener diejenigen herausgreifen, die allein ihren eigenen Interessen dienen. Mit großer Wahrscheinlichkeit werden ForscherInnen unter dem so entstehenden besonderen Nachfragedruck in Zukunft noch häufiger Falschgutachten erstellen als dies heute der Fall ist. Das muß nicht heißen, daß sie hierfür in Zukunft noch häufiger bewußt fälschen müßten. In vielen Fällen wird dies automatisch, ohne bösen Vorsatz, geschehen, denn es ist zu befürchten, daß WissenschaftlerInnen die Sensibilität für die Unterscheidung von Wahrheit und interessensgeleiteter Täuschung zunehmend verlieren werden, wenn die Selektion von Wahrheitskonstruktionen noch stärker den Verwertungsinteressen jener ökonomischen und politischen Systeme überantwortet wird, die aufgrund von Geld/Macht die Forschungsförderung bestimmen.

Aus all dem können wir schließen, daß es heute entscheidend ist, den Wahrheitsbegriff im wissenschaftlichen Kontext möglichst stabil vor dem Verfallsprozeß radikaler Pluralisierung zu schützen. Dies allerdings kann nur unter veränderten metatheoretischen wie soziologischen Voraussetzungen glücken, nämlich nur dann, wenn WissenschaftlerInnen sich aufgrund logisch zwingender theoretischer Vorgaben sowie sozialem Druck dazu gezwungen fühlen, all jene Prämissen und Kontexte anzugeben, die sich bestimmend auf ihre jeweilige wissenschaftlichen Wirklichkeitskonstruktionen auswirken. Die folgenden Kapitel sollen hierfür die notwendigen wissenschaftstheoretischen und -soziologischen Grundlagen liefern.

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