6.4 Reflexe (III):

Der Traum vom Reich der Freiheit: Moderne (emanzipatorische) Pädagogik

6.4.1 Die Pädagogik der Neuen Linken


Daß die emanzipatorisch ausgerichtete „Pädagogik der Neuen Linken" große Gemeinsamkeiten mit der eben verhandelten neokonservativen Pädagogik haben soll, klingt zunächst einmal recht merkwürdig, denn das Verhältnis von Neokonservatismus und Neuer Linke ist zweifellos von radikaler Gegensätzlichkeit geprägt: Während die emanzipatorischen PädagogInnen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und deren ethische und kulturelle Traditionen scharf kritisierten, die Rechte, Selbstentfaltungsbedürfnisse, Glücksansprüche von Kindern betonten, zu Ungehorsam und Hinterfragung tradierter Werte und Normen erzogen und damit letztlich Erziehung auf Gesellschaftsveränderung hin instrumentalisierten, identifizier(t)en sich die Neokonservativen positiv mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und Traditionen, sie beton(t)en die Pflichten, deren Befolgung erst Glück garantiere, verlang(t)en eine Erziehung zu Gehorsam und Akzeptanz tradierter Werte und Normen und instrumentalisier(t)en Erziehung damit letztlich im Hinblick auf die Stabilisierung der bestehenden Gesellschaft. Könnte es größere Gegensätze geben?
Und doch: Hinter all dieser Gegensätzlichkeit steht eine große Gemeinsamkeit: Beide Pädagogiken sind moderne Reflexe auf Postmodernisierung, beide glauben an die Möglichkeit konsensueller Aufhebung von Disparität, glauben an die Existenz einer allumfassenden Wahrheit, die die Möglichkeit einer prinzipiell klaren und gültigen Unterscheidung von wahr und falsch (Urteilskraft), gut und böse (Moral), schön und unschön (Ästhetik) garantiert.
Die Unterschiedlichkeit beider Pädagogiken resultiert - wie gesagt - daraus, daß sie die beiden gegensätzlichen Pole des ambivalent angelegten Projekts der Moderne weiterführen, d.h. sie beantworten die von KANT aufgeworfene, zentrale Frage der modernen Pädagogik „Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange" auf höchst unterschiedliche Weise. Während die Neokonservativen den sozialdisziplinatorischen Aspekt („kultiviere ... bei dem Zwange") fokussieren, stützen sich die VertreterInnen der sog. „Neuen Linken" auf das moderne Versprechen der „Freiheit" und klagen das Recht auf Autonomie und Mündigkeit gegenüber Herrschaftsinteressen ein, deren Ursprünge meist in der spätkapitalistischen Organisation der Gesellschaft gesehen werden.
Wichtigster theoretischer Bezugsrahmen emanzipatorischer Pädagogik in Deutschland war die sog. „Kritische Theorie", die - wie HORKHEIMER einst programmatisch schrieb - nicht irgendeine Forschungshypothese sei, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen erweise. Kritische Theorie sei vielmehr „ein unablösbares Moment der historischen Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen genügt":

„Bei aller Wechselwirkung zwischen der kritischen Theorie und den Fachwissenschaften, an deren Fortschritt sie sich ständig zu orientieren hat und auf die sie seit Jahrzehnten einen befreienden und anspornenden Einfluß ausübt, zielt sie nirgends bloß auf Vermehrung des Wissens als solchen ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen."

Abgesehen von dieser prinzipiellen Ausrichtung auf die „Emanzipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen", der daraus resultierenden Kritik an sog. „wertfreier Forschung" und einer mehr oder weniger positiven Rezeption MARXscher, HEGELscher und häufig auch FREUDscher Theorie, lassen sich allerdings nur wenige eindeutige Gemeinsamkeiten in den Konzeptionen jener Wissenschaftler aufzeigen, die im weitesten Sinne der Kritischen Theorie bzw. der „Frankfurter Schule" zugeordnet werden dürfen (u.a. Max HORKHEIMER, Theodor W. ADORNO, Herbert MARCUSE, Erich FROMM, Walter BENJAMIN und Jürgen HABERMAS).
Insbesondere der Unterschied von MARCUSE und FROMM auf der einen, HORKHEIMER und ADORNO auf der anderen Seite ist in unserem Zusammenhang aufschlußreich. Während FROMM und MARCUSE von der ungebrochenen Strahlkraft des modernen Mythos der Emanzipation ausgingen und praktische Konzepte zur Revolutionierung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums in Richtung des „neuen Menschen" propagierten, entdeckten HORKHEIMER und ADORNO, deren Arbeiten einen ungleich höheren abstrakten Reflexionsgrad aufweisen, die „Dialektik des Fortschritts", die Zweifel aufkommen ließ am Gelingen des „Projekts der Moderne". ADORNOs „Negative Dialektik", die die Möglichkeiten positiver utopischer Einheitserzählungen radikal in Frage stellte, war dann auch schon fast eine Art postmoderne Dekonstruktion der Moderne, freilich mit dem Unterschied, daß ADORNOs „supermoderne" Kritik der Moderne von pessimistischer Verzweiflung und nicht von postmoderner Fröhlichkeit geprägt war.
Von daher betrachtet, ist es kaum verwunderlich, daß FROMM und MARCUSE zu führenden Gestalten der internationalen StudentInnenbewegung avancierten und ihre Theorien von neulinken PraktikerInnen im pädagogischen Feld freudig aufgegriffen wurden, während insbesondere ADORNO von den rebellierenden StudentInnen scharf attackiert, dafür aber mit HABERMAS (der eine Art Bindeglied zwischen der modernen und der supermodernen Seite der kritischen Theorie darstellt) zum geistigen Paten der kritisch-distanzierteren, metatheoretisch ausgerichteten „Kritischen Erziehungswissenschaft" wurde.
Aus Platzgründen muß an dieser Stelle auf eine ausführlichere Darstellung der recht facettenreichen Kritischen Erziehungswissenschaft verzichtet werden.  Statt dessen soll hier eine kurze Analyse der praktisch wirksamen Konzepte der Pädagogik der Neuen Linken erfolgen, also eine Analyse der antiautoritären, sozialistischen Lebens- und Erziehungspraxis in den „antikapitalistischen" Gegeninstitutionen „Kinderladen" und „Kommune".

6.4.2 ?Wie kultiviert man die Freiheit ohne Zwang?" Antiautoritäre Erziehung, Kinderladen- und Kommunebewegung


Zeitgeschichtlicher Hintergrund

Nachdem die Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1961 den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) aus ihren Reihen ausgeschlossen hatte, erfolgte eine Neubestimmung sozialistischer Politik in Deutschland, die insbesondere von den Befreiungsbewegungen in den Ländern der sog. Dritten Welt beeinflußt war. Im Zuge dieser Neubestimmung fanden im Jahr 1966 die ersten großen Aktionen und Demonstrationen der Neuen Linken statt. Ein Schlüsselerlebnis für viele: die große Berliner Vietnamdemonstration im Februar ´66, als es zum ersten „großen" Angriff der vorwiegend studentischen DemonstrantInnen gegen den „Herrschaftsapparat der westlichen, kapitalistischen Allianz" kam: Sechs Eier (!) flogen gegen die Fassade des Amerika-Hauses in West-Berlin. Eine - aus heutiger Sicht - überaus harmlose Provokation, aber die Staatsmacht, damals in solchen Dingen weniger geübt als heute, reagierte ausgesprochen hysterisch und prügelte die DemonstrantInnen gleich scharenweise nieder. Zum ersten Mal konnten die StudentInnen damit den „Herrschaftsapparat", den sie zuvor in Seminaren theoretisch analysiert hatten, praktisch, das heißt: sinnlich erfahren. Folge: Der sogenannte „Seminarmarxismus", der die frühen sechziger Jahre bestimmt hatte, schlug um in „politischen Aktionismus". Aktionen wurden geplant und durchgeführt, um das „wahre, häßliche Gesicht des kapitalistischen Systems" zu enthüllen. Die Kluft von Theorie und Praxis schien damit endlich überwunden. (Ein produktiver Irrtum, der grundlegend war für das Scheitern, aber auch für den Erfolg der 68er-Bewegung, denn so naiv und von der Realität abgehoben viele Parolen der APO- Propagandisten auch waren, sie waren doch von großer Durchschlagskraft, waren die Initialzündung für eine breite Befreiungsbewegung, die die Menschen zwar nicht - wie intendiert - von der spätkapitalistischen Wirtschaftsweise, aber doch vom spießbürgerlichen Mief der fünfziger Jahre befreiten. Doch hierzu später mehr.)
„Aktion" lautete die aufrührerische Devise, man schrie Parolen wie: „Make love not war!", entleerte auch schon einmal als Zeichen der besonderen Hochachtung vor der Staatsgewalt den Darmtrakt vor den Augen der Justiz und hoffte, durch Demonstrationen und gezielte „Provos" den staatlichen Herrschaftsapparat herauszufordern und die Solidarität der „Werktätigen" zu finden, um so die sehnsüchtig erwartete Revolution einzuleiten.
Unter diesen Vorzeichen kam es im Juni 1966 zu dem mittlerweile fast legendären Treffen von vierzehn an der Gründung einer Kommune interessierter Menschen (darunter u.a. Fritz TEUFEL, Rainer LANGHANS, Dieter KUNZELMANN und Rudi DUTSCHKE) in einer Villa am Kochelsee in Oberbayern. Ziel des Treffens: Eine Woche der „permanenten Diskussion" über die „„Bedingungen und Möglichkeiten revolutionärer Praxis in Westeuropa" unter besonderer Berücksichtigung kollektiver Wohnprojekte. Vor allem der Widerspruch zwischen politisch-revolutionärem Anspruch und bürgerlichen Verhaltens- und Existenzweisen sollte „bearbeitet und gelöst" werden"  Die zentrale Frage, die u.a. auch aufgrund der verspäteten Ankunft DUTSCHKEs, der unrevolutionärerweise zunächst durch einen Anstandsbesuch bei seinen Eltern verhindert war, heftig diskutiert wurde, lautete: Können Individuen revolutionäre Politik machen, wenn sie ihre eigenen bürgerlichen Charakterzüge nicht überwunden haben? Man war sich - allen Gegensätzen (z.B. der Überzeugungen von KUNZELMANN und DUTSCHKE) zum Trotz - schnell darin einig, daß nur ein vom bürgerlichen Über-Ich befreiter Mensch, in der Lage sei, wirksam für die Befreiung der Gesellschaft einzutreten.
Und für das Projekt der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums schien es keinen besseren Weg zu geben als das als Gegenkonzept zur bürgerlichen Familie gedachte Modell der Kommune. In ihrem bemerkenswert selbstkritischen Bericht über den „Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums" beschrieb die KOMMUNE 2 die Hoffnungen und Illusionen, die in den Anfängen mit dem Projekt des Wohnkollektivs verknüpft waren, wie folgt:

„In der Faszination der Kommune vereinigten sich die existentielle Verweigerung gegenüber frustrierenden Studien- und Berufsbedingungen mit dem Ekel an der kapitalistischen Konsumwelt, das Gefühl unsäglicher Isolierung, vor dem die bürgerliche Familie keinen Schutz mehr bot, mit der Hoffnung auf psychische Befreiung, die Erkenntnis von der Brutalität des imperialistischen Systems, das zur Aufrechterhaltung seiner Herrschaft über die Völker der dritten Welt den technisierten Massenmord verfügte, mit der Notwendigkeit einer Kampf-Organisation."


Kommune 2

Im darauffolgenden Jahr kam es tatsächlich zur Gründung der ersten, deutschen APO-Kommunen, die in der Öffentlichkeit für einigen Wirbel sorgten. Während die im Januar ´67 gegründete Kommune 1 vorwiegend durch spektakuläre Ulk-Aktionen und das APO-(Alp-)Traumpaar LANGHANS/OBERMAIER Aufsehen erregte, rückte die nur wenige Zeit später entstandene, eher intellektuell ausgerichtete Kommune 2 pädagogisch-psychologische Themen in den Vordergrund: u.a.

a) die rationale und solidarische Organisation des Alltags
(Der geltenden Logik des Privateigentums und den autoritären Beziehungsmustern traditioneller Familie, für die die Ausbeutung der Frau konstitutiv war, stellte man die kommunitäre Organisation des Alltags gegenüber: gemeinsame Kasse, Haushaltsführung und Kindererziehung)
b) den auf freudomarxistischer Charakteranalyse beruhenden, mit Hilfe der Gruppe unternommene Versuch der Überwindung regressiver Charaktereigenschaften („Jeweils einer analysierte ein anderes Gruppenmitglied. Die Gruppe war dabei anwesend und fungierte als Kontrollinstranz." )
und vor allem:
c) die antiautoritäre Kindererziehung
(Im Rückgriff auf die Werke lange Zeit vergessener freudomarxistischer und antiautoritärer TheoretikerInnen (u.a. Wilhelm REICH, Siegfried BERNFELD, A.S. NEILL, Wera SCHMIDT) versuchten die KommunardInnen zu verhindern, daß „Autoritätshörigkeit in der Charakterstruktur verankert wird."  Das verlangte eine antiautoritäre Erziehung jenseits des „lassez-faire"- Prinzips, eine Erziehung, die Möglichkeiten eröffnete für selbstbestimmtes, „lustbetontes Lernen", das - wie man schnell herausfand - seinerseits nur möglich ist, „ wenn es an den eigenen sinnlichen Erfahrungen und Spielinteressen der Kinder anknüpft, wenn die Erzieher die Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten der Kinder immer wieder beobachten und genau kennenlernen." )

Das freie, lustbetonte Lernen der Kinder brachte die KommunardInnen allerdings mitunter in Situationen, die nicht nur Anfang der Siebziger zu heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit führten , sondern auch heute noch - angesichts der Diskussion über Kindesmißbrauch - für einige Irritationen sorgen dürften. So berichtet der Kommunarde Eberhard SCHULTZ in seinem Protokoll vom 4. April 1968:

„Ich liege auf dem Rücken. Grischa [ein zu diesem Zeitpunkt drei bis vierjähriges Mädchen, das in der K 2 lebt, d. A.] streichelt meinen Bauch, wobei sie meine rausstehenden Rippen als Brüste versteht. Ich erkläre ihr, daß das Rippen sind, ich nur eine flache Brust und Brustwarzen habe. Sie streichelt meine und zeigt mir ihre Brustwarzen. Wir unterhalten uns über die Brust von Mädchen, wenn sie älter sind. Dann will sie meinen „Popo" streicheln. Ich muß mich umdrehen. Sie zieht mir die Unterhose runter und streichelt meinen Popo. Als ich mich wieder umdrehe, um den ihren wie gewünscht zu streicheln, konzentriert sich ihr Interesse sofort auf „Penis". Sie streichelt ihn und will ihn „zumachen" (Vorhaut über die Eichel ziehen), bis ich ganz erregt bin und mein Pimmel steif wird. Sie strahlt und streichelt ein paar Minuten lang mit Kommentaren wie „Streicheln! Guck ma Penis! Groß! Ma ssumachen! Mach ma klein!" Dabei kniet sie neben mir, lacht und bewegt vom ganzen Körper nur die Hände. Ich versuche ein paarmal, sie zaghaft auf ihre Vagina anzusprechen, sage, daß ich sie auch gern streicheln würde, wodurch sie sich aber nicht unterbrechen läßt. Dann kommt doch eine „Reaktion": Sie packt meinen Pimmel mit der ganzen Hand, will sich die Strumpfhose runterziehen und sagt: „Ma reinstecken." Ich hatte zuvor sowas erwartet [...], war dann aber doch so gehemmt, daß ich schnell sagte, er sei doch wohl zu groß. Darauf gibt Grischa sofort ihre Idee auf, läßt sich aber die Vagina sehr zurückhaltend streicheln. Dann holt sie einen Spiegel, in dem sie meinen Pimmel und ihre Vagina immer wieder besieht. Nach erneutem Streicheln und Zumach-Versuchen kommt wieder der Wunsch „Reinstecken", diesmal energischer als vorher. Ich: „Versuch´s mal!" Sie hält meinen Pimmel an ihre Vagina und stellt dann resigniert fest: „Zu groß!"

Was da heute verdächtig nach unzulässiger Grenzüberschreitung und Mißbrauch des Kindes von Seiten des Erwachsenen klingt, galt damals - zumindest im Kreise der Neuen Linken - noch als vorbildliches erzieherisches Handeln im Sinne der angestrebten Emanzipation, die gerade auch im sexuellen Bereich stattfinden mußte. Bei REICH hatte man gelesen, daß ohne sexuelle Befreiung keine politische Emanzipation möglich sei, weil Herrschaft und Gewalt nicht Halt machten vor dem Intimbereich, nicht nur den Austausch von Waren bestimmten, sondern auch den der Körpersäfte. Deshalb war es für die KommunardInnen auch selbstverständlich, daß die häßliche Fratze des Imperialismus auch das Liebesspiel der BürgerInnen bestimmte, selbst dann, wenn es sich als besonders frei gebärdete. O-Ton K 2:

„Vietnam kehrt wieder in den wachsenden sadistischen und masochistischen Formen sexueller Befriedigung im Ehepartnertausch, im Angebot von Aufputschmitteln und Stimulanzien zur Erhöhung der Potenz. Die weit entwickelten Ersatzbefriedigungen werden ergänzt durch öffentliche Propagierung des geilen Koitus: alle erotischen Kontakte sind reduziert auf die körperlichen Funktionen, die zum Endsieg im Orgasmus führen sollen."

Den unter Unrechtsverhältnissen notwendigerweise falschen, oral-rezeptiven, anal-hortenden oder -sadistischen Deformationen des Ichs und der damit verbundenen Verbannung der reifen Erotik aus dem Reich der Sexualität sollte mittels Charakteranalyse und (sexuell) freier Erziehung eine befreite, genitale, Ich-bestimmte Sexualität entgegengestellt werden - letztlich ein - wie wir aus heutigem Abstand freilich leicht urteilen können - recht naiver, sexueller Fortschrittsmythos, ein Hegelianismus des Unterleibs voller orgasmatischer Leerformeln, die allem Anschein nach die Sinne so stark vernebelten, daß kaum jemand auf den Gedanken kam, die insgesamt doch recht problematische FREUDsche Theorie der Sexualfunktionsentwicklung ernsthaft in Frage zu stellen.


Antiautoritäre Erziehung und Kinderladenbewegung

Vom gleichen naiven sexuellen Fortschrittsmythos hin zur absoluten Substanz der freien, d.h. genitalen (Hetero-) Sexualität geprägt waren auch die antiautoriären Erziehungsansätze des großen Erziehers A.S. NEILL , dessen praktischer Erfolg in Summerhill - wie eine Lektüre seiner Werke nahelegt - weniger auf wissenschaftlicher Präzision und Reflexion der eigenen Methodik als auf intuitivem Verständnis, Humor und Liebe gegenüber den ihm anvertrauten Kindern beruht haben dürfte. NEILLs Erfahrungsbericht „Theorie und Praxis der Antiautoritären Erziehung. Das Beispiel Summerhill" wurde Ende der sechziger Jahre zu einem der größten Bestseller der pädagogischen Literatur und zu einem zentralen Bezugspunkt in der Anfang der Siebziger heftig geführten Debatte um „antiautoritäre Erziehung". Dabei hatten die deutschen KommunardInnen und ErziehungspraktikerInnen der Neuen Linken durchaus ihre Schwierigkeiten mit den Konzepten des antiautoritären britischen Kinderfreundes. So wird vom Arbeitskreis „Erziehung" des für die Entwicklung der Kinderläden wichtigen Charlottenburger Kinderladenprojekts, an dem u.a. auch die KommunardInnen der K 2 beteiligt waren, folgendes berichtet:

„Zunächst wurde das Buch von A.S. NEILL über die freie Schule in Summerhill gelesen, die als einziger zeitgenössischer Versuch einer repressionsfreien Erziehung bekannt war. Obwohl der Arbeitskreis in vielen Punkten mit seiner Praxis eines zwangfreien Lernens und Zusammenlebens übereinstimmte, konnte das elitäre Konzept, das nur für den gehobenen Mittelstand in Frage kommt, keinen ganz überzeugen. Die Schule wurde vor allem als „glückliche, befreite Insel" kritisiert - für Familien, die sich innerhalb einer repressiven ausbeuterischen Gesellschaft solch eine Erziehung leisten können. Da Neill den gesellschaftlichen Bezug in seinem Erziehungsmodell nie herstellt, ihm sogar bewußt ausweicht, schien dieses Vorbild als revolutionärer Ansatz völlig unbrauchbar."

Die deutschen Kinderladen-PropagandistInnen setzten dem bei NEILL kritisierten Inselmodell, das nach Auffassung der KommunardInnen die repressionsfrei erzogenen Kinder nicht genügend auf den notwendigen Kampf in der repressiven Gesellschaft außerhalb der pädagogischen Inseln vorbereitete, ein Modell gegenüber, das gerade diesen Kampf in den Mittelpunkt rückte. So sollte das Kind in Auseinandersetzung mit Kindern außerhalb des Kollektivs lernen,

„die im Kinderkollektiv erworbenen und im Elternkollektiv praktisch vermittelten „Normen" durchzusetzen. Das Kind bereitet sich so auf den Schulkampf, die Auseinandersetzung mit autoritär erzogenen Schülern und repressiven Lehrern vor."

Eine so verstandene antiautoritäre und sozialistische Erziehung hätte - wie die AutorInnen weiter formulierten - das Ziel,

„das bürgerliche Tabu der Apolitizität der Kinder aufzuheben, indem sie die Kinder befähigt, mit Sexualaufklärung und Verbreitung politischer Information die Auseinandersetzung unter den „Kindermassen" in staatlichen Kindergärten, auf Kinderspielplätzen und Hinterhöfen aufzunehmen. Der Kinderladen wäre keine pädagogische Insel, er würde zur Basis, in der die Kinder kollektives und kämpferisches Verhalten in der Auseinandersetzung mit den Bezugspersonen (Elternkollektiv) üben. Im sozialistischen Kinderkollektiv muß das Kind in der gemeinsamen Arbeit an Agitations- und Informationsmaterial im politischen Kindertheater- und -spiel sozialistische „Kampfformen" lernen, die sich in den sich ändernden Kampf-Phasen als vom Ich modifizierbar erweisen."



Postmoderner Erfolg/moderner Mißerfolg

Die StudentInnenbewegung war erfolgreich und erfolglos zugleich. Erfolgreich, insofern sie sich als Verkünderin individueller Freiheitsrechte im Fahrwasser der sozioökonomischen Veränderungen hin zu einer weitgehenden Postmodernisierung der Lebensverhältnisse befand. Erfolglos, insofern es ihr nicht gelang, ihre sozialistischen Einheitserzählungen gegen den gesellschaftlichen Trend durchzusetzen, der ungebrochen weiter in Richtung einer erlebnisorientierten und postmodern-unsolidarischen Plurifizierung der Lebensstile ging.
Beginnen wir mit der Analyse des Erfolgs: Die Neue Linke war eine Avantgarde, die z.T. gegen erbitterten Widerstand von seiten „Ewig Gestriger" Freiräume erkämpfte, die heute von vielen ganz selbstverständlich genutzt werden. Die Bewegung war eine Art Initialzündung für das Durchsetzen neuer Lebensformen, die gerade heute im Zuge postmoderner Individualisierungsprozesse immer attraktiver werden.
Ein Beispiel hierfür ist die Vorbildfunktion der Kommunebewegung für die heute selbstverständlich praktizierte Form des Zusammenlebens innerhalb von Wohngemeinschaften, die sich für viele als befreiende Alternative zum ins Wanken gekommenen, bürgerlichen Familienmodell anbietet.
Darüber hinaus hatten Kommune- und Kinderladenbewegung starken Einfluß auf die politisch und sozial kaum zu unterschätzende Emanzipation der Frauen. (Die Berliner Kinderläden waren ja nicht zuletzt Ausdruck des erstarkten Selbstbewußtseins der Frauen, die selbst politisch tätig werden wollten und es nicht einsahen, sich allein um den Nachwuchs zu kümmern. In den Kommunen wurde versucht, sexistische Arbeitsteilung aufzuheben und eine auf Gleichberechtigung beruhende Haushaltsführung zu etablieren. Beides hatte großen Einfluß auf die Weiterentwicklung des Verhältnisses der Geschlechter zueinander.)
Unübersehbar war auch die Wirkung des in der Gegeninstitution „Kinderladen" erprobten Versuchs repressionsfreier Erziehung auf die bürgerliche familiale und außerfamiliale Erziehung. Ohne Zweifel hat in der Tat eine erhebliche Verbesserung der Qualität der traditionellen, bürgerlichen Erziehungsinstitutionen stattgefunden, die - bevor sie der praktisch erprobten Kritik von seiten der antiautoritären ErziehungspraktikerInnen ausgesetzt waren - meist autoritär geführte Verwahranstalten waren, in denen kindliche Neugier und Experimentierfreude allzu häufig lieblos gehemmt, unterdrückt, abgetötet wurden.

Mir scheint, daß diese Erfolge der Neuen Linken vor allem darin begründet waren, daß die gesamte Bewegung unverkennbar auch postmoderne, hedonistisch-individualistische Züge trug. Will heißen: Die Neue Linke hatte Erfolg, weil sie - in gewissem Umfang zumindest - mit der Postmodernisierung kompatibel war, und zwar, indem sie individuelle Freiheit gegenüber bürgerlichen Normvorstellungen einklagte, freie Bedürfnisbefriedigung für alle - auch für die Kinder - einforderte und damit den Bedürfnis- und Konsumtions-Markt von althergebrachten (traditional-modernen) „moralischen Zollvorschriften" befreite. Insofern kann man - zweifellos etwas boshaft - sagen, daß die 68er-Bewegung eine wichtige Speerspitze des Kapitals war, weil sie eben jene Charakterorientierungen förderte, die zur Implementierung der spätkapitalistischen Überflußwirtschaft dringend erforderlich waren. (Nicht umsonst wurden einige Veränderungsvorschläge der Rebellierenden allzu gerne vom Establishment übernommen.)
Mit diesem „Erfolg" ist selbstverständlich postwendend auch die ganze Tragik des Mißerfolgs der Bewegung verbunden, der vor allem ein Mißerfolg der beiden modernen Einheitserzählungen war, die das Projekt der neulinken Emanzipation getragen haben, nämlich: 1. des sozialistischen Einheitsmythos vom Sieg der revolutionären Klasse als Garant des angestrebten „Reichs der Freiheit" und 2. des psychoanalytischen Mythos der Sexualfunktionsentwicklung hin zum politisch und sexuell reifen Ich.
Zum ersteren: Die Suche nach der revolutionären Klasse wurde recht schnell abgeblasen, denn Proletariat und Lumpenproletariat erwiesen sich - entgegen der Theorie - als hochgradig motivierungsresitent, was dazu führte, daß auch die Studierenden zunehmend die Lust am politischen Kampf verloren. Entgegen den Weissagungen der Theorie gab es auch keine Hilfe von außen, das heißt: die sozialistische Weltrevolution blieb ebenso aus wie der erwartete Zusammenbruch des Kapitalismus. Statt dessen verließ der blaß gebliebene „real existierenden Sozialismus" nach insgesamt recht miserabler Leistung unbeklatscht die Bühne des Weltgeschehens. Eine Neuauflage dieses Dramas ist gerade unter libertären SozialistInnen alles andere als erwünscht.
Zum zweiten Punkt: Die erhoffte sexuelle Revolution fand zwar statt, führte aber nicht zur theoretisch damit verknüpften, politischen Befreiung. Das erkannten die Berliner Kinderladen-OrganisatorInnen bereits 1970. Unter der Überschrift „Freiheit zur Onanie bleibt ein bürgerliches Privileg!" zeigten sie auf, daß

„...Aufhebung der Triebunterdrückung und die damit bestenfalls verbundene Ich-Stärkung der Kinder nur fähigere Mitglieder der privilegierten bürgerlichen Klassen macht. Mit der bloßen Mobilisierung unterdrückter Triebe kann es für eine sozialistische Erziehung nicht sein Bewenden haben."

In der Tat war bereits 1970 abzusehen, daß die sexuelle Revolution für die politischen Revolutionäre wenig befriedigend verlaufen würde. Die Kampfschriften der rasanten, sexuellen Revolution wurden nämlich nicht von Wilhelm REICH, sondern von Beate UHSE geschrieben, die Fähigkeit zum Orgasmusreflex trat zwar immer häufiger auf, nicht aber die Fähigkeit zur theoretischen Reflexion, man tauschte zwar SexualpartnerInnen und Stellungen, die politischen Überzeugungen und Einstellungen blieben aber mehr oder weniger dieselben.

Fassen wir zusammen: Die antiautoritäre Erziehungsbewegung war gesellschaftlich nur in soweit erfolgreich, als sie die Postmodernisierungstendenzen positiv widerspiegelte und vorantrieb. Sie scheiterte jedoch als moderne Negation dieser Haupttonalität, das heißt: sie scheiterte in ihrem Versuch, den unaufhaltsamen Postmodernisierungsschüben mit modernistischen Einheitserzählungen zu widerstehen. Deshalb ist von der antiautoritären Erziehungsbewegung und der Neuen Linken heute, also zu einem Zeitpunkt, an dem ihre postmodernen Aspekte von der sozioökonomischen Entwicklung weitgehend überholt und ihre modernen Aspekte mehr oder weniger in sich zusammengebrochen sind, auch nicht mehr viel zu hören. (Was selbstverständlich nicht bedeutet, daß in dieser Tradition heute keine sinnvollen Lebenstechniken gefunden werden können, die im Sinne einer neomodernen Rekonstruktion der Pädagogik wiederverwertet werden sollten. Der gesellschaftliche Erfolg einer Idee sagt bekanntlich nicht besonders viel über ihre eigentliche Qualität aus...)



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