Daß die emanzipatorisch ausgerichtete Pädagogik der Neuen Linken" große
Gemeinsamkeiten mit der eben verhandelten neokonservativen Pädagogik haben soll, klingt
zunächst einmal recht merkwürdig, denn das Verhältnis von Neokonservatismus und Neuer
Linke ist zweifellos von radikaler Gegensätzlichkeit geprägt: Während die
emanzipatorischen PädagogInnen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und deren
ethische und kulturelle Traditionen scharf kritisierten, die Rechte,
Selbstentfaltungsbedürfnisse, Glücksansprüche von Kindern betonten, zu Ungehorsam und
Hinterfragung tradierter Werte und Normen erzogen und damit letztlich Erziehung auf
Gesellschaftsveränderung hin instrumentalisierten, identifizier(t)en sich die
Neokonservativen positiv mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen und
Traditionen, sie beton(t)en die Pflichten, deren Befolgung erst Glück garantiere,
verlang(t)en eine Erziehung zu Gehorsam und Akzeptanz tradierter Werte und Normen und
instrumentalisier(t)en Erziehung damit letztlich im Hinblick auf die Stabilisierung der
bestehenden Gesellschaft. Könnte es größere Gegensätze geben?
Und doch: Hinter all dieser Gegensätzlichkeit steht eine große Gemeinsamkeit: Beide Pädagogiken sind moderne Reflexe auf Postmodernisierung, beide glauben an die Möglichkeit konsensueller Aufhebung von Disparität, glauben an die Existenz einer allumfassenden Wahrheit, die die Möglichkeit einer prinzipiell klaren und gültigen Unterscheidung von wahr und falsch (Urteilskraft), gut und böse (Moral), schön und unschön (Ästhetik) garantiert.
Die Unterschiedlichkeit beider Pädagogiken resultiert - wie gesagt - daraus, daß sie die
beiden gegensätzlichen Pole des ambivalent angelegten Projekts der Moderne weiterführen,
d.h. sie beantworten die von KANT aufgeworfene, zentrale Frage der modernen Pädagogik
Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange" auf höchst unterschiedliche
Weise. Während die Neokonservativen den sozialdisziplinatorischen Aspekt
(kultiviere ... bei dem Zwange") fokussieren, stützen sich die VertreterInnen
der sog. Neuen Linken" auf das moderne Versprechen der Freiheit" und
klagen das Recht auf Autonomie und Mündigkeit gegenüber Herrschaftsinteressen ein, deren
Ursprünge meist in der spätkapitalistischen Organisation der Gesellschaft gesehen
werden.
Wichtigster theoretischer Bezugsrahmen emanzipatorischer Pädagogik in Deutschland war die
sog. Kritische Theorie", die - wie HORKHEIMER einst programmatisch schrieb -
nicht irgendeine Forschungshypothese sei, die im herrschenden Betrieb ihren Nutzen
erweise. Kritische Theorie sei vielmehr ein unablösbares Moment der historischen
Anstrengung, eine Welt zu schaffen, die den Bedürfnissen und Kräften der Menschen
genügt":
Bei aller Wechselwirkung zwischen der kritischen Theorie und den Fachwissenschaften,
an deren Fortschritt sie sich ständig zu orientieren hat und auf die sie seit Jahrzehnten
einen befreienden und anspornenden Einfluß ausübt, zielt sie nirgends bloß auf
Vermehrung des Wissens als solchen ab, sondern auf die Emanzipation des Menschen aus
versklavenden Verhältnissen."
Abgesehen von dieser prinzipiellen Ausrichtung auf die Emanzipation des Menschen aus
versklavenden Verhältnissen", der daraus resultierenden Kritik an sog.
wertfreier Forschung" und einer mehr oder weniger positiven Rezeption
MARXscher, HEGELscher und häufig auch FREUDscher Theorie, lassen sich allerdings nur
wenige eindeutige Gemeinsamkeiten in den Konzeptionen jener Wissenschaftler aufzeigen, die
im weitesten Sinne der Kritischen Theorie bzw. der Frankfurter Schule"
zugeordnet werden dürfen (u.a. Max HORKHEIMER, Theodor W. ADORNO, Herbert MARCUSE, Erich
FROMM, Walter BENJAMIN und Jürgen HABERMAS).
Insbesondere der Unterschied von MARCUSE und FROMM auf der einen, HORKHEIMER und ADORNO
auf der anderen Seite ist in unserem Zusammenhang aufschlußreich. Während FROMM und
MARCUSE von der ungebrochenen Strahlkraft des modernen Mythos der Emanzipation ausgingen
und praktische Konzepte zur Revolutionierung der bestehenden gesellschaftlichen
Verhältnisse und der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums in Richtung des
neuen Menschen" propagierten, entdeckten HORKHEIMER und ADORNO, deren Arbeiten
einen ungleich höheren abstrakten Reflexionsgrad aufweisen, die Dialektik des
Fortschritts", die Zweifel aufkommen ließ am Gelingen des Projekts der
Moderne". ADORNOs Negative Dialektik", die die Möglichkeiten positiver
utopischer Einheitserzählungen radikal in Frage stellte, war dann auch schon fast eine
Art postmoderne Dekonstruktion der Moderne, freilich mit dem Unterschied, daß ADORNOs
supermoderne" Kritik der Moderne von pessimistischer Verzweiflung und nicht von
postmoderner Fröhlichkeit geprägt war.
Von daher betrachtet, ist es kaum verwunderlich, daß FROMM und MARCUSE zu führenden
Gestalten der internationalen StudentInnenbewegung avancierten und ihre Theorien von
neulinken PraktikerInnen im pädagogischen Feld freudig aufgegriffen wurden, während
insbesondere ADORNO von den rebellierenden StudentInnen scharf attackiert, dafür aber mit
HABERMAS (der eine Art Bindeglied zwischen der modernen und der supermodernen Seite der
kritischen Theorie darstellt) zum geistigen Paten der kritisch-distanzierteren,
metatheoretisch ausgerichteten Kritischen Erziehungswissenschaft" wurde.
Aus Platzgründen muß an dieser Stelle auf eine ausführlichere Darstellung der recht
facettenreichen Kritischen Erziehungswissenschaft verzichtet werden. Statt dessen
soll hier eine kurze Analyse der praktisch wirksamen Konzepte der Pädagogik der Neuen
Linken erfolgen, also eine Analyse der antiautoritären, sozialistischen Lebens- und
Erziehungspraxis in den antikapitalistischen" Gegeninstitutionen
Kinderladen" und Kommune".
Zeitgeschichtlicher Hintergrund
Nachdem die Sozialdemokratische Partei Deutschlands 1961 den Sozialistischen Deutschen
Studentenbund (SDS) aus ihren Reihen ausgeschlossen hatte, erfolgte eine Neubestimmung
sozialistischer Politik in Deutschland, die insbesondere von den Befreiungsbewegungen in
den Ländern der sog. Dritten Welt beeinflußt war. Im Zuge dieser Neubestimmung fanden im
Jahr 1966 die ersten großen Aktionen und Demonstrationen der Neuen Linken statt. Ein
Schlüsselerlebnis für viele: die große Berliner Vietnamdemonstration im Februar ´66,
als es zum ersten großen" Angriff der vorwiegend studentischen
DemonstrantInnen gegen den Herrschaftsapparat der westlichen, kapitalistischen
Allianz" kam: Sechs Eier (!) flogen gegen die Fassade des Amerika-Hauses in
West-Berlin. Eine - aus heutiger Sicht - überaus harmlose Provokation, aber die
Staatsmacht, damals in solchen Dingen weniger geübt als heute, reagierte ausgesprochen
hysterisch und prügelte die DemonstrantInnen gleich scharenweise nieder. Zum ersten Mal
konnten die StudentInnen damit den Herrschaftsapparat", den sie zuvor in
Seminaren theoretisch analysiert hatten, praktisch, das heißt: sinnlich erfahren. Folge:
Der sogenannte Seminarmarxismus", der die frühen sechziger Jahre bestimmt
hatte, schlug um in politischen Aktionismus". Aktionen wurden geplant und
durchgeführt, um das wahre, häßliche Gesicht des kapitalistischen Systems"
zu enthüllen. Die Kluft von Theorie und Praxis schien damit endlich überwunden. (Ein
produktiver Irrtum, der grundlegend war für das Scheitern, aber auch für den Erfolg der
68er-Bewegung, denn so naiv und von der Realität abgehoben viele Parolen der APO-
Propagandisten auch waren, sie waren doch von großer Durchschlagskraft, waren die
Initialzündung für eine breite Befreiungsbewegung, die die Menschen zwar nicht - wie
intendiert - von der spätkapitalistischen Wirtschaftsweise, aber doch vom
spießbürgerlichen Mief der fünfziger Jahre befreiten. Doch hierzu später mehr.)
Aktion" lautete die aufrührerische Devise, man schrie Parolen wie: Make
love not war!", entleerte auch schon einmal als Zeichen der besonderen Hochachtung
vor der Staatsgewalt den Darmtrakt vor den Augen der Justiz und hoffte, durch
Demonstrationen und gezielte Provos" den staatlichen Herrschaftsapparat
herauszufordern und die Solidarität der Werktätigen" zu finden, um so die
sehnsüchtig erwartete Revolution einzuleiten.
Unter diesen Vorzeichen kam es im Juni 1966 zu dem mittlerweile fast legendären Treffen
von vierzehn an der Gründung einer Kommune interessierter Menschen (darunter u.a. Fritz
TEUFEL, Rainer LANGHANS, Dieter KUNZELMANN und Rudi DUTSCHKE) in einer Villa am Kochelsee
in Oberbayern. Ziel des Treffens: Eine Woche der permanenten Diskussion" über
die Bedingungen und Möglichkeiten revolutionärer Praxis in Westeuropa"
unter besonderer Berücksichtigung kollektiver Wohnprojekte. Vor allem der Widerspruch
zwischen politisch-revolutionärem Anspruch und bürgerlichen Verhaltens- und
Existenzweisen sollte bearbeitet und gelöst" werden" Die zentrale
Frage, die u.a. auch aufgrund der verspäteten Ankunft DUTSCHKEs, der
unrevolutionärerweise zunächst durch einen Anstandsbesuch bei seinen Eltern verhindert
war, heftig diskutiert wurde, lautete: Können Individuen revolutionäre Politik machen,
wenn sie ihre eigenen bürgerlichen Charakterzüge nicht überwunden haben? Man war sich -
allen Gegensätzen (z.B. der Überzeugungen von KUNZELMANN und DUTSCHKE) zum Trotz -
schnell darin einig, daß nur ein vom bürgerlichen Über-Ich befreiter Mensch, in der
Lage sei, wirksam für die Befreiung der Gesellschaft einzutreten.
Und für das Projekt der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums schien es keinen
besseren Weg zu geben als das als Gegenkonzept zur bürgerlichen Familie gedachte Modell
der Kommune. In ihrem bemerkenswert selbstkritischen Bericht über den Versuch der
Revolutionierung des bürgerlichen Individuums" beschrieb die KOMMUNE 2 die
Hoffnungen und Illusionen, die in den Anfängen mit dem Projekt des Wohnkollektivs
verknüpft waren, wie folgt:
In der Faszination der Kommune vereinigten sich die existentielle Verweigerung
gegenüber frustrierenden Studien- und Berufsbedingungen mit dem Ekel an der
kapitalistischen Konsumwelt, das Gefühl unsäglicher Isolierung, vor dem die bürgerliche
Familie keinen Schutz mehr bot, mit der Hoffnung auf psychische Befreiung, die Erkenntnis
von der Brutalität des imperialistischen Systems, das zur Aufrechterhaltung seiner
Herrschaft über die Völker der dritten Welt den technisierten Massenmord verfügte, mit
der Notwendigkeit einer Kampf-Organisation."
Kommune 2
Im darauffolgenden Jahr kam es tatsächlich zur Gründung der ersten, deutschen
APO-Kommunen, die in der Öffentlichkeit für einigen Wirbel sorgten. Während die im
Januar ´67 gegründete Kommune 1 vorwiegend durch spektakuläre Ulk-Aktionen und das
APO-(Alp-)Traumpaar LANGHANS/OBERMAIER Aufsehen erregte, rückte die nur wenige Zeit
später entstandene, eher intellektuell ausgerichtete Kommune 2
pädagogisch-psychologische Themen in den Vordergrund: u.a.
a) die rationale und solidarische Organisation des Alltags
(Der geltenden Logik des Privateigentums und den autoritären Beziehungsmustern
traditioneller Familie, für die die Ausbeutung der Frau konstitutiv war, stellte man die
kommunitäre Organisation des Alltags gegenüber: gemeinsame Kasse, Haushaltsführung und
Kindererziehung)
b) den auf freudomarxistischer Charakteranalyse beruhenden, mit Hilfe der Gruppe
unternommene Versuch der Überwindung regressiver Charaktereigenschaften (Jeweils
einer analysierte ein anderes Gruppenmitglied. Die Gruppe war dabei anwesend und fungierte
als Kontrollinstranz." )
und vor allem:
c) die antiautoritäre Kindererziehung
(Im Rückgriff auf die Werke lange Zeit vergessener freudomarxistischer und
antiautoritärer TheoretikerInnen (u.a. Wilhelm REICH, Siegfried BERNFELD, A.S. NEILL,
Wera SCHMIDT) versuchten die KommunardInnen zu verhindern, daß
Autoritätshörigkeit in der Charakterstruktur verankert wird." Das
verlangte eine antiautoritäre Erziehung jenseits des lassez-faire"- Prinzips,
eine Erziehung, die Möglichkeiten eröffnete für selbstbestimmtes, lustbetontes
Lernen", das - wie man schnell herausfand - seinerseits nur möglich ist, wenn
es an den eigenen sinnlichen Erfahrungen und Spielinteressen der Kinder anknüpft, wenn
die Erzieher die Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten der Kinder immer wieder
beobachten und genau kennenlernen." )
Das freie, lustbetonte Lernen der Kinder brachte die KommunardInnen allerdings mitunter in
Situationen, die nicht nur Anfang der Siebziger zu heftigen Diskussionen in der
Öffentlichkeit führten , sondern auch heute noch - angesichts der Diskussion über
Kindesmißbrauch - für einige Irritationen sorgen dürften. So berichtet der Kommunarde
Eberhard SCHULTZ in seinem Protokoll vom 4. April 1968:
Ich liege auf dem Rücken. Grischa [ein zu diesem Zeitpunkt drei bis vierjähriges
Mädchen, das in der K 2 lebt, d. A.] streichelt meinen Bauch, wobei sie meine
rausstehenden Rippen als Brüste versteht. Ich erkläre ihr, daß das Rippen sind, ich nur
eine flache Brust und Brustwarzen habe. Sie streichelt meine und zeigt mir ihre
Brustwarzen. Wir unterhalten uns über die Brust von Mädchen, wenn sie älter sind. Dann
will sie meinen Popo" streicheln. Ich muß mich umdrehen. Sie zieht mir die
Unterhose runter und streichelt meinen Popo. Als ich mich wieder umdrehe, um den ihren wie
gewünscht zu streicheln, konzentriert sich ihr Interesse sofort auf Penis".
Sie streichelt ihn und will ihn zumachen" (Vorhaut über die Eichel ziehen),
bis ich ganz erregt bin und mein Pimmel steif wird. Sie strahlt und streichelt ein paar
Minuten lang mit Kommentaren wie Streicheln! Guck ma Penis! Groß! Ma ssumachen!
Mach ma klein!" Dabei kniet sie neben mir, lacht und bewegt vom ganzen Körper nur
die Hände. Ich versuche ein paarmal, sie zaghaft auf ihre Vagina anzusprechen, sage, daß
ich sie auch gern streicheln würde, wodurch sie sich aber nicht unterbrechen läßt. Dann
kommt doch eine Reaktion": Sie packt meinen Pimmel mit der ganzen Hand, will
sich die Strumpfhose runterziehen und sagt: Ma reinstecken." Ich hatte zuvor
sowas erwartet [...], war dann aber doch so gehemmt, daß ich schnell sagte, er sei doch
wohl zu groß. Darauf gibt Grischa sofort ihre Idee auf, läßt sich aber die Vagina sehr
zurückhaltend streicheln. Dann holt sie einen Spiegel, in dem sie meinen Pimmel und ihre
Vagina immer wieder besieht. Nach erneutem Streicheln und Zumach-Versuchen kommt wieder
der Wunsch Reinstecken", diesmal energischer als vorher. Ich: Versuch´s
mal!" Sie hält meinen Pimmel an ihre Vagina und stellt dann resigniert fest:
Zu groß!"
Was da heute verdächtig nach unzulässiger Grenzüberschreitung und Mißbrauch des Kindes
von Seiten des Erwachsenen klingt, galt damals - zumindest im Kreise der Neuen Linken -
noch als vorbildliches erzieherisches Handeln im Sinne der angestrebten Emanzipation, die
gerade auch im sexuellen Bereich stattfinden mußte. Bei REICH hatte man gelesen, daß
ohne sexuelle Befreiung keine politische Emanzipation möglich sei, weil Herrschaft und
Gewalt nicht Halt machten vor dem Intimbereich, nicht nur den Austausch von Waren
bestimmten, sondern auch den der Körpersäfte. Deshalb war es für die KommunardInnen
auch selbstverständlich, daß die häßliche Fratze des Imperialismus auch das
Liebesspiel der BürgerInnen bestimmte, selbst dann, wenn es sich als besonders frei
gebärdete. O-Ton K 2:
Vietnam kehrt wieder in den wachsenden sadistischen und masochistischen Formen
sexueller Befriedigung im Ehepartnertausch, im Angebot von Aufputschmitteln und
Stimulanzien zur Erhöhung der Potenz. Die weit entwickelten Ersatzbefriedigungen werden
ergänzt durch öffentliche Propagierung des geilen Koitus: alle erotischen Kontakte sind
reduziert auf die körperlichen Funktionen, die zum Endsieg im Orgasmus führen
sollen."
Den unter Unrechtsverhältnissen notwendigerweise falschen, oral-rezeptiven,
anal-hortenden oder -sadistischen Deformationen des Ichs und der damit verbundenen
Verbannung der reifen Erotik aus dem Reich der Sexualität sollte mittels Charakteranalyse
und (sexuell) freier Erziehung eine befreite, genitale, Ich-bestimmte Sexualität
entgegengestellt werden - letztlich ein - wie wir aus heutigem Abstand freilich leicht
urteilen können - recht naiver, sexueller Fortschrittsmythos, ein Hegelianismus des
Unterleibs voller orgasmatischer Leerformeln, die allem Anschein nach die Sinne so stark
vernebelten, daß kaum jemand auf den Gedanken kam, die insgesamt doch recht
problematische FREUDsche Theorie der Sexualfunktionsentwicklung ernsthaft in Frage zu
stellen.
Antiautoritäre Erziehung und Kinderladenbewegung
Vom gleichen naiven sexuellen Fortschrittsmythos hin zur absoluten Substanz der freien,
d.h. genitalen (Hetero-) Sexualität geprägt waren auch die antiautoriären
Erziehungsansätze des großen Erziehers A.S. NEILL , dessen praktischer Erfolg in
Summerhill - wie eine Lektüre seiner Werke nahelegt - weniger auf wissenschaftlicher
Präzision und Reflexion der eigenen Methodik als auf intuitivem Verständnis, Humor und
Liebe gegenüber den ihm anvertrauten Kindern beruht haben dürfte. NEILLs
Erfahrungsbericht Theorie und Praxis der Antiautoritären Erziehung. Das Beispiel
Summerhill" wurde Ende der sechziger Jahre zu einem der größten Bestseller der
pädagogischen Literatur und zu einem zentralen Bezugspunkt in der Anfang der Siebziger
heftig geführten Debatte um antiautoritäre Erziehung". Dabei hatten die
deutschen KommunardInnen und ErziehungspraktikerInnen der Neuen Linken durchaus ihre
Schwierigkeiten mit den Konzepten des antiautoritären britischen Kinderfreundes. So wird
vom Arbeitskreis Erziehung" des für die Entwicklung der Kinderläden wichtigen
Charlottenburger Kinderladenprojekts, an dem u.a. auch die KommunardInnen der K 2
beteiligt waren, folgendes berichtet:
Zunächst wurde das Buch von A.S. NEILL über die freie Schule in Summerhill
gelesen, die als einziger zeitgenössischer Versuch einer repressionsfreien Erziehung
bekannt war. Obwohl der Arbeitskreis in vielen Punkten mit seiner Praxis eines zwangfreien
Lernens und Zusammenlebens übereinstimmte, konnte das elitäre Konzept, das nur für den
gehobenen Mittelstand in Frage kommt, keinen ganz überzeugen. Die Schule wurde vor allem
als glückliche, befreite Insel" kritisiert - für Familien, die sich innerhalb
einer repressiven ausbeuterischen Gesellschaft solch eine Erziehung leisten können. Da
Neill den gesellschaftlichen Bezug in seinem Erziehungsmodell nie herstellt, ihm sogar
bewußt ausweicht, schien dieses Vorbild als revolutionärer Ansatz völlig
unbrauchbar."
Die deutschen Kinderladen-PropagandistInnen setzten dem bei NEILL kritisierten
Inselmodell, das nach Auffassung der KommunardInnen die repressionsfrei erzogenen Kinder
nicht genügend auf den notwendigen Kampf in der repressiven Gesellschaft außerhalb der
pädagogischen Inseln vorbereitete, ein Modell gegenüber, das gerade diesen Kampf in den
Mittelpunkt rückte. So sollte das Kind in Auseinandersetzung mit Kindern außerhalb des
Kollektivs lernen,
die im Kinderkollektiv erworbenen und im Elternkollektiv praktisch vermittelten
Normen" durchzusetzen. Das Kind bereitet sich so auf den Schulkampf, die
Auseinandersetzung mit autoritär erzogenen Schülern und repressiven Lehrern vor."
Eine so verstandene antiautoritäre und sozialistische Erziehung hätte - wie die
AutorInnen weiter formulierten - das Ziel,
das bürgerliche Tabu der Apolitizität der Kinder aufzuheben, indem sie die Kinder
befähigt, mit Sexualaufklärung und Verbreitung politischer Information die
Auseinandersetzung unter den Kindermassen" in staatlichen Kindergärten, auf
Kinderspielplätzen und Hinterhöfen aufzunehmen. Der Kinderladen wäre keine
pädagogische Insel, er würde zur Basis, in der die Kinder kollektives und kämpferisches
Verhalten in der Auseinandersetzung mit den Bezugspersonen (Elternkollektiv) üben. Im
sozialistischen Kinderkollektiv muß das Kind in der gemeinsamen Arbeit an Agitations- und
Informationsmaterial im politischen Kindertheater- und -spiel sozialistische
Kampfformen" lernen, die sich in den sich ändernden Kampf-Phasen als vom Ich
modifizierbar erweisen."
Postmoderner Erfolg/moderner Mißerfolg
Die StudentInnenbewegung war erfolgreich und erfolglos zugleich. Erfolgreich, insofern sie
sich als Verkünderin individueller Freiheitsrechte im Fahrwasser der sozioökonomischen
Veränderungen hin zu einer weitgehenden Postmodernisierung der Lebensverhältnisse
befand. Erfolglos, insofern es ihr nicht gelang, ihre sozialistischen Einheitserzählungen
gegen den gesellschaftlichen Trend durchzusetzen, der ungebrochen weiter in Richtung einer
erlebnisorientierten und postmodern-unsolidarischen Plurifizierung der Lebensstile ging.
Beginnen wir mit der Analyse des Erfolgs: Die Neue Linke war eine Avantgarde, die z.T.
gegen erbitterten Widerstand von seiten Ewig Gestriger" Freiräume erkämpfte,
die heute von vielen ganz selbstverständlich genutzt werden. Die Bewegung war eine Art
Initialzündung für das Durchsetzen neuer Lebensformen, die gerade heute im Zuge
postmoderner Individualisierungsprozesse immer attraktiver werden.
Ein Beispiel hierfür ist die Vorbildfunktion der Kommunebewegung für die heute
selbstverständlich praktizierte Form des Zusammenlebens innerhalb von Wohngemeinschaften,
die sich für viele als befreiende Alternative zum ins Wanken gekommenen, bürgerlichen
Familienmodell anbietet.
Darüber hinaus hatten Kommune- und Kinderladenbewegung starken Einfluß auf die politisch
und sozial kaum zu unterschätzende Emanzipation der Frauen. (Die Berliner Kinderläden
waren ja nicht zuletzt Ausdruck des erstarkten Selbstbewußtseins der Frauen, die selbst
politisch tätig werden wollten und es nicht einsahen, sich allein um den Nachwuchs zu
kümmern. In den Kommunen wurde versucht, sexistische Arbeitsteilung aufzuheben und eine
auf Gleichberechtigung beruhende Haushaltsführung zu etablieren. Beides hatte großen
Einfluß auf die Weiterentwicklung des Verhältnisses der Geschlechter zueinander.)
Unübersehbar war auch die Wirkung des in der Gegeninstitution Kinderladen"
erprobten Versuchs repressionsfreier Erziehung auf die bürgerliche familiale und
außerfamiliale Erziehung. Ohne Zweifel hat in der Tat eine erhebliche Verbesserung der
Qualität der traditionellen, bürgerlichen Erziehungsinstitutionen stattgefunden, die -
bevor sie der praktisch erprobten Kritik von seiten der antiautoritären
ErziehungspraktikerInnen ausgesetzt waren - meist autoritär geführte Verwahranstalten
waren, in denen kindliche Neugier und Experimentierfreude allzu häufig lieblos gehemmt,
unterdrückt, abgetötet wurden.
Mir scheint, daß diese Erfolge der Neuen Linken vor allem darin begründet waren, daß
die gesamte Bewegung unverkennbar auch postmoderne, hedonistisch-individualistische Züge
trug. Will heißen: Die Neue Linke hatte Erfolg, weil sie - in gewissem Umfang zumindest -
mit der Postmodernisierung kompatibel war, und zwar, indem sie individuelle Freiheit
gegenüber bürgerlichen Normvorstellungen einklagte, freie Bedürfnisbefriedigung für
alle - auch für die Kinder - einforderte und damit den Bedürfnis- und Konsumtions-Markt
von althergebrachten (traditional-modernen) moralischen Zollvorschriften"
befreite. Insofern kann man - zweifellos etwas boshaft - sagen, daß die 68er-Bewegung
eine wichtige Speerspitze des Kapitals war, weil sie eben jene Charakterorientierungen
förderte, die zur Implementierung der spätkapitalistischen Überflußwirtschaft dringend
erforderlich waren. (Nicht umsonst wurden einige Veränderungsvorschläge der
Rebellierenden allzu gerne vom Establishment übernommen.)
Mit diesem Erfolg" ist selbstverständlich postwendend auch die ganze Tragik
des Mißerfolgs der Bewegung verbunden, der vor allem ein Mißerfolg der beiden modernen
Einheitserzählungen war, die das Projekt der neulinken Emanzipation getragen haben,
nämlich: 1. des sozialistischen Einheitsmythos vom Sieg der revolutionären Klasse als
Garant des angestrebten Reichs der Freiheit" und 2. des psychoanalytischen
Mythos der Sexualfunktionsentwicklung hin zum politisch und sexuell reifen Ich.
Zum ersteren: Die Suche nach der revolutionären Klasse wurde recht schnell abgeblasen,
denn Proletariat und Lumpenproletariat erwiesen sich - entgegen der Theorie - als
hochgradig motivierungsresitent, was dazu führte, daß auch die Studierenden zunehmend
die Lust am politischen Kampf verloren. Entgegen den Weissagungen der Theorie gab es auch
keine Hilfe von außen, das heißt: die sozialistische Weltrevolution blieb ebenso aus wie
der erwartete Zusammenbruch des Kapitalismus. Statt dessen verließ der blaß gebliebene
real existierenden Sozialismus" nach insgesamt recht miserabler Leistung
unbeklatscht die Bühne des Weltgeschehens. Eine Neuauflage dieses Dramas ist gerade unter
libertären SozialistInnen alles andere als erwünscht.
Zum zweiten Punkt: Die erhoffte sexuelle Revolution fand zwar statt, führte aber nicht
zur theoretisch damit verknüpften, politischen Befreiung. Das erkannten die Berliner
Kinderladen-OrganisatorInnen bereits 1970. Unter der Überschrift Freiheit zur
Onanie bleibt ein bürgerliches Privileg!" zeigten sie auf, daß
...Aufhebung der Triebunterdrückung und die damit bestenfalls verbundene
Ich-Stärkung der Kinder nur fähigere Mitglieder der privilegierten bürgerlichen Klassen
macht. Mit der bloßen Mobilisierung unterdrückter Triebe kann es für eine
sozialistische Erziehung nicht sein Bewenden haben."
In der Tat war bereits 1970 abzusehen, daß die sexuelle Revolution für die politischen
Revolutionäre wenig befriedigend verlaufen würde. Die Kampfschriften der rasanten,
sexuellen Revolution wurden nämlich nicht von Wilhelm REICH, sondern von Beate UHSE
geschrieben, die Fähigkeit zum Orgasmusreflex trat zwar immer häufiger auf, nicht aber
die Fähigkeit zur theoretischen Reflexion, man tauschte zwar SexualpartnerInnen und
Stellungen, die politischen Überzeugungen und Einstellungen blieben aber mehr oder
weniger dieselben.
Fassen wir zusammen: Die antiautoritäre Erziehungsbewegung war gesellschaftlich nur in soweit erfolgreich, als sie die Postmodernisierungstendenzen positiv widerspiegelte und vorantrieb. Sie scheiterte jedoch als moderne Negation dieser Haupttonalität, das heißt: sie scheiterte in ihrem Versuch, den unaufhaltsamen Postmodernisierungsschüben mit modernistischen Einheitserzählungen zu widerstehen. Deshalb ist von der antiautoritären Erziehungsbewegung und der Neuen Linken heute, also zu einem Zeitpunkt, an dem ihre postmodernen Aspekte von der sozioökonomischen Entwicklung weitgehend überholt und ihre modernen Aspekte mehr oder weniger in sich zusammengebrochen sind, auch nicht mehr viel zu hören. (Was selbstverständlich nicht bedeutet, daß in dieser Tradition heute keine sinnvollen Lebenstechniken gefunden werden können, die im Sinne einer neomodernen Rekonstruktion der Pädagogik wiederverwertet werden sollten. Der gesellschaftliche Erfolg einer Idee sagt bekanntlich nicht besonders viel über ihre eigentliche Qualität aus...)