7.4 Von der Theorie zur Praxis

7.4.1 Einleitung


Es gibt nichts Gutes,
außer: man tut es!
Erich KÄSTNER

Es ist besser, das Gute steht nur auf dem Papier -
als nicht einmal dort.
Ludwig MARCUSE

Die beiden vorangestellten Zitate dokumentieren recht gut die beiden Pole, mit denen wir uns im vorliegenden Kapitel beschäftigen müssen. Da ist zum einen die notwendige Forderung nach einer weitgehenden Praxisrelevanz der Theorie (eine Forderung, die ja insbesondere für die Pädagogik bedeutsam ist ) und zum anderen das Problem, daß progressive Theorien unter regressiven Bedingungen nur äußerst schwer zu realisieren sind, zumindest dann, wenn man den eigentlich wertvollen Gehalt der Theorie nicht aus Opportunitätsgründen aufopfern will.
Wir werden uns diesen beiden Polen nachfolgend in einem Zweierschritt nähern. Zunächst soll mit Hilfe der erzählenden Szenariotechnik eine - aus neomoderner Sicht - ideale, also „gute", pädagogische Praxis geschildert werden. Ich werde versuchen, diese Schilderung - trotz aller Kürze - so plastisch wie möglich zu gestalten, um so - nach all den vorangegangen Abstraktionen - einen halbwegs klaren (sinnlichen) Eindruck davon zu vermitteln, was die oben entwickelte neomoderne Rekonstruktion der Pädagogik für die pädagogische Praxis bedeuten könnte.
In einem zweiten Schritt werden wir uns dann mit der wichtigen Frage beschäftigen, wie eine solche neomoderne Praxis unter den gegebenen Verhältnissen zu implementieren wäre. Daß meine Überlegungen gerade in diesem Punkt hochgradig fragmentarisch sein werden, liegt nicht nur in der ausufernden Themenfülle der vorliegenden Arbeit begründet, sondern auch in dem Faktum, daß die vorliegende Theorie - in ihrer Gesamtheit - bisher weitgehend praxisunerprobt ist.



7.4.2 Einladung ins NENEK: Eine kleine, pädagogische Realutopie

(Namen und Handlung des folgenden Szenarios sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre rein zufällig)

Dr. Alfred Eckstein, Fachmann für Wissenschaftstheorie und Philosophie der Erziehung, war nicht wenig erstaunt gewesen über diese „Einladung zur 5-Jahresfeier des NENEK", die er in seiner Morgenpost gefunden hatte. Im ersten Moment war er etwas unsicher, ob er der Einladung tatsächlich folgen sollte: In den eher konservativen Kreisen, in denen er gewöhnlich verkehrte, war das NENEK (der Name stand für „Netzwerk für Neomoderne Kulturentwicklung) einigermaßen in Verruf geraten. Kirchliche Sektenbeauftragte hatten behauptet, hinter dem Projekt stehe eine gefährliche Psychosekte, die sich dank ihrer erfolgreichen Sozialarbeit in beängstigender Weise ausbreiten würde.
Daß Eckstein, der eigentlich ein eher ängstlicher Mensch war, sich dann doch noch auf das Abenteuer eines Besuchs bei den „Netzwerk-Leuten" einließ, lag an seiner ausgeprägten Neugier. Er wollte einfach wissen, wer hinter diesem Projekt stand, was die beteiligten Menschen so dachten, welche Ziele sie hatten. Außerdem hatte er erst vor kurzem einen Aufsatz über neomoderne Psychotherapie gelesen, der ihm recht gut gefallen hatte.
Eckstein war also - wie verabredet - zum Bahnhof gefahren, wo bereits der Bus auf ihn wartete, der ihn und die anderen Jubiläumsgäste zum NENEK-Zentrum bringen sollte. Wer wohl die anderen Gäste sein würden? Eckstein war einigermaßen nervös, aber er hatte sich vorgenommen, auf alles gefaßt zu sein. Doch als er dann tatsächlich in den Bus einstieg und den anderen Gästen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, fuhr ihm - trotz aller mentaler Vorbereitung im Vorfeld - der Schreck eiskalt durch die Glieder: Im Bus saß die halbe pädagogische Abteilung seiner Hochschule! Selbst Prof. Friedhelm Harnitz, der neokonservative Rechtsausleger der Abteilung war mit von der Partie. „Na, Alfred, Lust auf ´nen Trip ins Ungewisse?" Knut Meyer, der Kollege aus der Sozialpädagogik, grinste mit einem breiten, erlebnispädagogisch gebräunten Lächeln. Eckstein begrüßte die KollegInnen mit gebotener Höflichkeit und setzte sich in die entfernteste Ecke des Busses.
Nach kurzer Fahrt hatte der Bus sein Ziel erreicht. Die Gäste stiegen aus und blickten sich um. Vor ihnen lag ein weitläufiges Gelände mit verschiedenen kleineren Häusern und einem großen, alten Gutshof. „Die geheime Kommandozentrale der Kulturvernichter ", zischte Harnitz. Eckstein hätte gerne etwas Relativierendes erwidert, doch der autoritäre Habitus von Harnitz schüchterte ihn - wie so häufig - ein.
Eine Frau begrüßte die Gäste im Namen des NENEK: „Wir freuen uns sehr, daß Sie unserer Einladung gefolgt sind und hoffen, daß es Ihnen bei uns gefallen wird. Ich bin Dr. Frieda Üppig, aber bitte nennen Sie mich Frieda. Mit meinem Nachnamen bin ich meine ganze Kindheit hindurch aufgezogen worden."
Nach einem kleinen Begrüßungsumtrunk folgte eine ausgedehnte Besichtigung des Geländes. Und es gab einiges zu sehen: Das NENEK-Gelände verfügte neben Kindergarten, Schule und Internat über zahlreiche Seminar- Workshop- und Büroräume, außerdem gab es da noch ein ganzes Arsenal an Räumen, die von den rund fünfzig Netzwerk-Leuten genutzt wurden, die permanent auf dem Gelände lebten. Eckstein bewunderte die gelungene Synthese von ökologischer Bauweise und modernster Technik. „Wir sind wahre High Tech-Ökos", kommentierte Frieda. „Das verdanken wir vor allem unserem „Hausarchitekten" Hardy Wilson, der mit ein paar anderen Computerfreaks gerade hartnäckig an der Vision eines ökologisch klugen Hauses bastelt. Wenn Sie wollen, können Sie ihn besuchen. Sein „Haus der Zukunft" liegt nur wenige hundert Meter von hier entfernt."
Eckstein taten langsam die Füße weh. Deshalb war er auch einigermaßen erleichtert, als Frieda vorschlug, die Gruppe zu teilen: „Diejenigen, die sich für unsere Ateliers, Gärten, Spielwiesen oder den großen Abenteuerspielplatz interessieren, sollten sich meinem Netzwerkfreund Till Sandmann anschließen. Er wird ihnen - wenn Sie wollen - auch noch die entlegensten Winkel unseres Geländes zeigen. Den anderen schlage ich vor, mir in Seminarraum 4b zu folgen. Ich würde Ihnen dort gerne über Idee, Aufbau und Entwicklung von NENEK berichten."
Eckstein mußte nicht lange überlegen. Er folgte der Gruppe um Frieda - nicht nur wegen der akut schmerzenden Füße und seiner chronisch brennenden Neugier, sondern auch, weil er sich dadurch - zumindest zeitweilig - dem aufdringlichen Kollegen Meyer entziehen konnte, der sich - schon allein wegen der in Aussicht gestellten Besichtigung des Abenteuerspielplatzes - mit glänzenden Augen der Gruppe um Sandmann angeschlossen hatte.
Im Seminarraum angekommen, ließ Frieda eine Computersimulation ablaufen, die die Organisationsentwicklung von NENEK optisch darstellte: „Wie Sie sehen, ist das NENEK in den letzten fünf Jahren auf ungeheure Weise gewachsen. Mittlerweile umfaßt es rund 50 eigenständige Unternehmen, von denen die meisten ihren Sitz außerhalb unseres Geländes haben. Interessant ist, daß, obwohl der Großteil der Unternehmen in den letzten fünf Jahren gegründet wurde, eine doch beachtliche Anzahl bereits vorher existiert hat. Diese Unternehmen haben sich also nachträglich dem NENEK angeschlossen."
„Welche Bedingungen muß denn ein Unternehmen erfüllen, um ins NENEK aufgenommen werden zu können?", wollte Eckstein wissen.
„Nun, es muß natürlich unsere Verfahrensregeln akzeptieren," erwiderte Frieda, „vor allem aber muß es der von uns vertretenen postkonventionellen Philosophie entsprechen. Das NENEK hat nämlich - um es einmal im betriebswirtschaftlichen Jargon auszudrücken - eine stark ausgeprägte „Corporate-Identity". Wenn Sie mehr darüber erfahren möchten, empfehle ich Ihnen die Lektüre der vor Ihnen liegenden Broschüre."
„Womit erklären Sie sich den erstaunlichen Erfolg des NENEK-Konzeptes?", fragte eine Seminarteilnehmerin, deren Name Eckstein nicht kannte.
„Ich glaube, das hängt eng zusammen mit dem Bedeutungsverlust der traditionellen Sinnvermittlungsagenturen, insbesondere der Kirchen", antwortete Frieda. „Viele traditionelle Sinnvorstellungen gelten mittlerweile als überlebt, ohne das sich neue haben ausbilden können. Unter solchen Umständen entsteht ein Sinnvakuum, in das wir nun mit dem NENEK hineinstoßen. Für viele bieten wir die einzig überzeugende Alternative."
„Hierin liegt aber auch eine große Gefahr!", wandte Eckstein, seit jeher ein glühender Verfechter des Pluralismus, ein. „Ich meine, wie können Sie verhindern, daß sich das NENEK in Richtung einer vormodernen, möglicherweise gar fundamentalistischen Bewegung hinentwickelt? Sie wissen doch sicherlich, daß schon jetzt Sektenvorwürfe gegen das NENEK erhoben werden?"
„Nun ja, mit diesen Vorwürfe bombardieren uns die christlichen Kirchen, seitdem sie gemerkt haben, daß ihnen aufgrund der stärker werdenden säkularen Konkurrenz auf dem Sozialsektor langsam die Schafsfelle wegschwimmen", erwiderte Frieda. „Wenn Sie aber unsere Broschüren und Materialien gründlich studieren, so werden Sie ohne Zweifel feststellen, daß der Sektenvorwurf gänzlich unbegründet ist. Das NENEK-Konzept beruht nämlich - und das verhindert jede Form von Sektenmentalität! - auf radikaler Offenheit - nicht auf Offenbarung. Im Gegensatz zur religiösen Konkurrenz vertreten wir eine Philosophie, die im höchsten Maße dynamisch ist. Prinzipiell ist alles in Frage zu stellen, jederzeit von jedermann bzw. jederfrau..."
„So steht es vielleicht in ihren theoretischen Schriften, in der Praxis sieht das aber wohl anders aus! Da reden die einen und schweigen die anderen!", fuhr Harnitz, der schon eine ganze Weile unruhig auf dem Sitz hin und her gerutscht war, energisch dazwischen.
Frieda antwortete mit einem freundlichen Lächeln: „Wir bemühen uns sehr, den Theorie/Praxis-Gegensatz aufzulösen, in jeglicher Hinsicht. Auch in dem Fall, den Sie angesprochen haben. Hierfür haben wir im NENEK eine ganz eigene Form der Streitkultur entwickelt. Eine Streitkultur, in der Kritik als Geschenk und nicht als Existenzbedrohung empfunden wird. Dadurch wird es gerade auch für die Ängstlicheren unter uns leichter, sich in die Diskussion einzubringen. Sie wissen, daß sie - wie alle anderen nichts zu verlieren haben - außer ihren falschen Argumenten."
„Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß die Leute im NENEK keinerlei Scham empfinden, wenn sie des Unsinnredens oder Fehlermachens überführt werden?" fragte Harnitz sichtlich ungehalten.
Frieda blieb ruhig:
„Sicherlich gibt es immer wieder Situationen, in denen wir in alte Weltwahrnehmungsmuster zurückfallen und uns selbst oder andere mit Scham- oder Schuldgefühlen blockieren. Aber gerade diejenigen, die schon länger im NENEK leben und sich intensiver mit der NENEK-Philosophie auseinandergesetzt haben, haben sich weitgehend von Schuld-, Scham- und Peinlichkeitsgefühlen befreien können. Mit ihnen zu diskutieren ist eine Wohltat, denn sie versuchen nicht ihre Fehler zu verstecken, sie führen keine strategischen Verteidigungsschlachten, sind weder verletzt noch beleidigt, wenn man sie eines Fehlers überführt hat."
„Das ist doch glatter Unsinn!" ereiferte sich Harnitz.
„Für Sie ganz sicherlich"!, erwiderte Frieda.
„Entschuldigen Sie, wenn ich Ihren kleinen Disput unterbreche", meldete sich nun ein anderer Seminarteilnehmer zu Wort, der sich selbst als „Peter Möller, Organisationssoziologe", vorstellte, „ich würde gerne die Diskussion in eine andere Richtung lenken. Ich interessiere mich für jene Transformationsprozesse, die mit der Ausdifferenzierung von Organisationen einhergehen. Können Sie uns vielleicht auch darüber ein wenig berichten?"
„Sicherlich", sagte Frieda. Sie zeigte auf ein Organogramm, das die zunehmende Ausdifferenzierung des NENEK verdeutlichte: „Wie Sie sehen, gibt es zur Zeit acht Abteilungen innerhalb des NENEK, nämlich HELP, KINJU, KLOK, BUM, CHANGE, RITANOVA, DAGOBERT und FLOW. Jede dieser Abteilungen ist mit einem eigenen Sekretariat ausgestattet. Wenn Sie wollen kann ich nähere Angaben zu den einzelnen Abteilungen machen."
Frieda schaute in die Runde. Da niemand Widerspruch einlegte, fuhr sie fort: „Beginnen wir mit HELP: HELP steht für „Humane Entwicklung fördern/Lebenshilfe und Lebensplanung". HELP deckt den gesamten Bereich von Beratung und Therapie ab. Außerdem geht es hier auch um konkrete, pflegerische Hilfe für alte, behinderte oder psychiatrieerfahrene Menschen. Seit neustem bieten wir Sterbebegleitung für unheilbar kranke Menschen an. Ich werde zu diesem Thema vielleicht noch etwas sagen, wenn wir zur Abteilung RITANOVA kommen. Erfreulich ist der Erfolg unserer prä- oder posttherapeutischen Gesprächsgruppen. Themen wie Partnerschaft, Freundschaft, Sexualität, Drogen, Krankheit, Tod sind hier sehr gefragt. Gerne besucht werden aber auch unsere Gesprächsgruppen zum Thema „Sinn des Lebens", was sicherlich mit dem eingangs angesprochenen Sinnvakuum in unserer Gesellschaft zusammenhängt."
„Entschuldigen Sie, wenn ich Sie abermals unterbreche, aber wie definieren Sie Erfolg?", wollte Möller wissen, „Ihre Schilderung hörte sich so an, als sei Erfolg im wesentlichen an die Frequentierung ihrer Veranstaltungen gekoppelt. Heißt „Erfolg" also im wesentlichen, daß bei Ihnen die Kassen klingen?"
Frieda schüttelte den Kopf: „Nein. Ich habe das vielleicht etwas unglücklich ausgedrückt. Sehen Sie, wir sind natürlich - wie alle anderen auch - Marktgesetzen unterworfen. Damit wir etwas bewegen können, muß der Betrieb laufen, müssen die Einnahmen die Ausgaben decken, unsere Angebote auf entsprechende Nachfrage treffen. Unter normalen Umständen führt eine solche marktwirtschaftliche Ausrichtung dazu, daß die Betriebe gerade im Sozialsektor ihr eigenes Profil verlieren, um sich möglichst optimal den jeweiligen Nachfrageverhältnissen anpassen zu können. Eine solche Anbiederung an den Markt aber wird durch die NENEK-Philosophie bereits im Ansatz unterbunden. Wir können und wollen uns nicht dem Markt unterwerfen. Merkwürdigerweise - und das ist der eigentliche Clou der Geschichte - verleiht uns diese Haltung ein ganz besonderes Profil, das uns unter den gegebenen Verhältnissen - ich erinnere an das Sinnvakuum - entscheidende Marktvorteile verschafft."
 „Könnten Sie dieses marktunangepaßte NENEK-Profil vielleicht an einem konkreten Beispiel verdeutlichen?" fragte Eckstein.
„Ja, nehmen wir einmal an, Sie sind der Manager eines großen Rüstungskonzerns, der Waffen in die ganze Welt exportiert..."
„Und damit zahlreiche Arbeitsplätze schafft!", rief Harnitz mit spitzem Ton dazwischen.
„Meinetwegen", sagte Frieda. Sie fuhr fort: „Nehmen wir weiterhin an, Sie fühlen sich leer, ausgebrannt und kommen deshalb zu mir in die Therapie..."
Harnitz lachte laut auf. Frieda ließ sich jedoch nicht beirren: „Damit Sie meine folgenden Ausführungen verstehen können, erlauben Sie mir kurz einige Erläuterungen zum Aufbau der neomodernen Therapie: Die neomoderne Therapie besteht in der Regel aus zwei Phasen. Da ist zum einen die Phase der Zieldefinition, zum anderen die Phase der Manipulation. In der Zieldefinitionsphase geht es darum, in einer Art freiem, philosophischen Gespräch legitime Ziele zu bestimmen und illegitime zu verwerfen. Kommen Therapeut und Klient hier zu einem Konsens, kann die Manipulationsphase beginnen - natürlich nur, wenn dies überhaupt noch erforderlich ist, bei manchen Menschen genügt es nämlich schon, wenn man ihnen beim Bestimmen legitimer Ziele hilft."
„Finden denn Therapeut und Klient immer zu einem Konsens", fragte Eckstein.
„Nein, selbstverständlich nicht. Hin und wieder kommt es vor, daß Therapeut und Klient sich nicht auf gemeinsam anerkannte, legitime Ziele einigen können, in diesem Fall muß die Therapie noch vor der Manipulationsphase abgebrochen werden."
„Entschuldigen Sie die Zwischenbemerkung, aber hätte man hierfür keine schönere, weniger anrüchige Bezeichnung als „Manipulationsphase" finden können? Das hört sich für mein Empfinden schwer nach Hirnwäsche an", meinte eine junge Frau, die Eckstein glaubte aus seinen Seminaren zu kennen.
„Sicherlich hätte man schönere Namen finden können," lachte Frieda, „doch wir haben uns innerhalb des NENEK angewöhnt, die Dinge beim Namen zu nennen. Und es ist nun einmal nicht zu leugnen, daß der Klient in dieser zweiten Phase der Therapie bewußt manipuliert wird. Ziel dieser Phase ist es doch, den Klienten dazu zu befähigen, die zuvor als legitim anerkannten Handlungsziele auch in die Praxis umzusetzen. Hierzu ist manchmal in der Tat eine Art „Hirnwäsche" vonnöten. Wir müssen alte Programmierungen löschen und durch neue ersetzen. Das heißt übrigens nicht, daß wir nur mit kog-nitionstheoretischen Ansätzen arbeiten, auch die Körperarbeit ist für uns von großer Bedeutung. Wir haben - wie viele aktuelle Therapieformen - einen multimethodischen Ansatz gewählt. Was uns allerdings von den meisten anderen Therapien unterscheidet, ist unsere konsequente Aufhebung des Willensfreiheitsmythos. Das erlaubt uns eine radikale Entschuldung der Innenwelt. Paradoxerweise erleben die KlientInnen die damit verbundene Zerstörung des Mythos der inneren Freiheit in der Regel als unglaublich befreiend..."
„Höchst interessant, aber vielleicht kommen Sie doch wieder auf das Beispiel vom Rüstungsmanager zurück?!", unterbrach Harnitz.
„Sicher doch", sagte Frieda. „Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, haben wir innerhalb des NENEK eine stark negative Einstellung zur Rüstungsindustrie. Selbstverständlich würde ich die kritischen Argumente gegen die Rüstungsindustrie in das Gespräch mit einbringen. Wollte der Klient trotz meiner Argumente weiterhin auf diesem Sektor tätig sein, so müßte er versuchen, meine Argumente zu widerlegen. Gelingt ihm dies nicht, so müßte er entweder sein aktuelles Handlungsziel aufgeben oder sich vorzeitig aus der Therapie verabschieden."
„Verstehe ich Sie richtig, daß es für Sie ein größerer Erfolg wäre, wenn der Manager seinen Job kündigt und von der Sozialhilfe lebt, als wenn er mit neuem Mut und Elan ans Werk geht und die Produktionszahlen seiner Firma in die Höhe treibt?", fragte Harnitz.
„Durchaus", antwortete Frieda. „Noch besser wäre es allerdings, wenn er die Energie dazu nutzen würde, seinen Konzern auf einen radikalen Konversionskurs zu trimmen."
„Unfaßbar!", meinte Harnitz. „Aber vielleicht ist es besser, Sie fahren mit ihrem Vortrag fort, bevor wir uns hier in eine heillose und unproduktive Diskussion verwickeln."
„Wie Sie wollen", meinte Frieda. Sie legte eine Folie auf den Projektor, die den Aufbau von KINJU darstellte: „KINJU steht für „Kinder und Jugendliche". Wie der Name schon sagt, ist KINJU zuständig für das Angebot im Kinder- und Jugendbereich. Neben der Einrichtung säkularer Kindergärten, Schulen, Internate und Heime geht es hier vor allem um die Bereitstellung von Bildungs- und Freizeitangeboten (z.B. Freizeitfahrten) für Kinder und Jugendliche."
„Sicherlich ist ihr Umgang mit Kindern von der antiautoritären Erziehungsideologie geprägt oder gehören Sie gar zur Front der sogenannten Antipädagogen?", fragte Harnitz.
„Nun, es gibt durchaus Parallelen zur antiautoritären Erziehung und zur Antipädagogik, es gibt aber auch einige Unterschiede," antwortete Frieda. „Wie die AntipädagogInnen, so sind auch wir der Meinung, daß der Mensch eigentlich nicht erziehungsbedürftig, sondern bildungsbedürftig ist. Das heißt nicht, daß wir im Umgang mit Kindern keine verbindlichen Werte vermitteln würden. Im Gegenteil! Wir behandeln die Kinder wie kleine, ständig größer werdende Erwachsene. Wir nehmen sie ernst in ihren Bedürfnissen (auch in ihren sexuellen), akzeptieren und fördern sie als selbstbewußte Produzenten und Konsumenten und lassen Sie bei allen wichtigen Fragen, die sie betreffen könnten, mitentscheiden. Das vermeidet Konflikte und stärkt ihr Verantwortungsgefühl."
„Wer´s glaubt wird selig, aber bitte machen Sie weiter im Text!", drängte Harnitz.
„Ihr Wunsch ist mir Befehl!" erwiderte Frieda mit leicht ironischem Unterton. „KLOK steht für „Kein Leben ohne Kultur". Sicherlich haben Sie gemerkt, daß auf dem NENEK-Gelände zahlreiche KünstlerInnen leben. Sie versuchen, auf ihre Weise zum Aufbau einer freieren, gerechteren, humaneren Welt beizutragen. KLOK veranstaltet Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerte, Filmreihen, Workshops und vieles mehr. Unterstützt wird KLOK hierbei von BUM, unserem „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen". Das BUM ist das organisatorische Herzstück von NENEK. Es vertritt das gesamte Netz nach außen, ist also verantwortlich für den weiten Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Vom BUM aus werden auch alle politischen Kampagnen gestartet, koordiniert und evaluiert."
„Apropos „evaluiert „", unterbrach Möller, „ist Evaluation nicht eine der Aufgaben von CHANGE?
„Sehr richtig", bestätigte Frieda. „CHANGE dient vor allem der Evaluation und Supervision der im Netz geleisteten Arbeit. CHANGE organisiert regelmäßig Koordinations-treffen und Weiterbildungen, konzentriert sich dabei aber nicht nur auf die tätigen Individuen, sondern trägt ganz allgemein zur Organisationsentwicklung bei, indem es fehlerhafte Strukturen aufzeigt und alternative Organisationsmuster entwickelt. Dies ist wichtig, damit das NENEK nicht institutionell verkrustet. Mittlerweile gibt es übrigens auch schon einige Anfragen von Unternehmen außerhalb des Netzes. Allerdings stehen die „Change Agents" hier manchmal vor den gleichen Problemen wie wir TherapeutInnen. Auch sie werden mit AdressatInnen konfrontiert, mit deren Zieldefinitionen sie nicht übereinstimmen können. Ich erinnere hier an das Beispiel von dem Rüstungsmanager..."
„Nicht schon wieder," stöhnte Harnitz.
„Keine Sorge," beruhigte Frieda lächelnd. „Ich mache weiter im Konzept. Die nächste Abteilung, die ich Ihnen vorstellen möchte, trägt den Namen „RITANOVA". Bei RITANOVA geht es um die Erfindung und Betreuung neuer Rituale, die an die Stelle altbekannter religiöser Veranstaltungen treten sollen. Beispiele hierfür sind das „Willkommensfest" anstelle der Taufe, das „Fedau" (Fest der Aufnahme) anstelle der Kommunion/Firmung/Konfirmation, das „Dyadenfest" (wenn zwei Menschen beschließen, gemeinsam durchs Leben zu gehen - Dyaden können übrigens nicht nur aufgekündigt werden, es können von einem Individuum auch mehrere Dyadenbeziehungen gleichzeitig eingegangen werden). Die größte Nachfrage besteht zur Zeit aber eindeutig für das „Abschiedsfest", das im Sinne einer alternativen, postreligiösen Trauerfeier begangen wird. Apropos: Ich weiß nicht, ob Sie in der letzten Zeit die Schlagzeilen verfolgt haben. Vor kurzem gab es großes Medienecho für eine ungewöhnliche, aber wie ich finde: höchst interessante Variante des Abschiedsfestes. Klaus Stern, ein NENEK-Mitglied der ersten Stunde, hatte sich aufgrund seiner unheilbaren Krankheit zum Freitod entschlossen. Er informierte seine Bekannten und Verwandten und lud sie zu einer letzten Abschiedsfeier hierhin auf das Gelände ein. Am Ende der Feier verabschiedete er sich von jedem Einzelnen von uns und schloß sich mit seinen engsten Freunden in ein Zimmer ein, wo er - wie angekündigt - seinem Leben ein Ende setzte. Ich muß sagen, in meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen solchen Ausdruck menschlicher Größe erlebt..."
Für einen Moment herrschte eine merkwürdige Stille im Raum. Eckstein wagte kaum zu atmen. Gleich wird Harnitz explodieren wie eine Bombe, dachte er. Und tatsächlich: „Barbarei, was Sie da erzählen, ist die reinste Barbarei!" polterte Harnitz los. „Ungeheuerlich! Dafür hätte man sie einsperren müssen!"
„Nun, falls es Sie beruhigt, wir hatten in der Tat einige juristische Probleme. Die Angelegenheit ist aber letztlich im Sande verlaufen. Darum hat sich DAGOBERT gekümmert, unsere Abteilung für Steuer-, Finanz- und Rechtsangelegenheiten. Über DAGOBERT kann ich Ihnen leider nur sehr wenig mitteilen, weil ich von diesen Dingen nicht sonderlich viel verstehe. Nur soviel: Obwohl DAGOBERT nahezu alle Finanz- und Rechtsangelegenheiten im NENEK übernommen hat, haben die Mitglieder nebenbei noch die Zeit, einen Tauschring zu organisieren, der den geldlosen Transfer von privaten Dienstleistungen ermöglicht. Wie die das schaffen, ist mir allerdings ein Rätsel..."
„Na gut, lassen wir das!" meinte Harnitz hastig, „kommen wir zu FLOW. Das ist die Abteilung, die den kulturzersetzenden Ungeist ihres sogenannten Netzwerks am stärksten widerspiegelt."
„In Ordnung", erwiderte Frieda. „Kommen wir zu FLOW, unserer Abteilung für Cybergogik. Cybergogik meint professionelle Führung durch die immer wieder religiös ausgeschlachtete Welt der Transzendenz-/Flow-Erlebnisse. FLOW versucht das Gefühl von Transzendenz durch psychedelische Bewußtseinstechniken, gezielte Atmung, Meditation, Farben, Formen, Klänge, Rhythmen, Rausch und Ekstase auch im postreligiösen Kontext erfahrbar zu machen. Die hiermit verbundenen Gefahren versuchen wir mit Hilfe einer „kritischen Psychedelic" zu überwinden, ein Verfahren, das großen Wert auf die bewußte Unterscheidung von Alltagsrealität und „mystischer Nische" legt."
„Unsinn!", fuhr Harnitz wild erregt dazwischen „FLOW verfolgt nur einen einzigen Zweck - und der besteht darin, die Leute soweit um den Verstand zu bringen, daß sie sich in ihrem Spinnen-Netzwerk verfangen. Um es auf einen Nenner zu bringen: FLOW bedeutet Verführung zu Drogen, okkulten Praktiken und möglicherweise gar zu Gruppensex. Lachen Sie nicht! Wenn ich mich nicht irre, haben Sie, Frau Dr. Üppig, doch gerade ein Buch veröffentlicht mit dem bezeichnenden Titel „Vom Ehekäfig zum Intimnetzwerk", oder bin ich da falsch informiert?"
„Nein, Sie sind da völlig richtig informiert", antwortete Frieda, „aber gelesen haben Sie das Buch wohl nicht, denn sonst würden Sie den Begriff „Intimnetzwerk" kaum mit dem Begriff „Gruppensex" gleichsetzen. Gruppensex ist - wie Sie wissen - eine mehr oder weniger originelle Form sexuellen Verhaltens, die man mögen kann oder nicht. Mit „Intimnetzwerk" hingegen bezeichnen wir eine der postfamilialen Gesellschaft angepaßte Form des menschlichen Zusammenlebens, die sexuelle oder emotionale Mehrfachbindungen erlaubt, diese jedoch nicht erzwingt. Man kann das Intimnetzwerk also als eine Weiterentwicklung des altbekannten Konzepts der „offenen Ehe „ verstehen."
„Leben Sie selbst in einem solchen Intimnetzwerk?", fragte die Studentin, nach deren Namen Eckstein immer noch fieberhaft in seinem Gedächtnis fahndete.
„Ja, selbstverständlich", antwortete Frieda. „Wenn - wie bei uns - viele Menschen auf einem relativ eng umgrenzten Raum zusammenleben und intensiv miteinander zusammenarbeiten, kommt es notwendigerweise zu einem wahren Geflecht sexueller Querverbindungen. Ich denke, wenn wir dieses Problem nicht so offen - und vor allem so unverkrampft! - angegangen wären, würde das NENEK heute in seiner jetzigen Struktur nicht mehr existieren. Die Kommunen der Vergangenheit sind ja, wie Sie sicherlich wissen, allzu häufig genau an diesem Problem gescheitert."
„Empfinden Sie denn persönlich keine Eifersucht?"
„Nein."
„Wirklich nicht?"
„Nein, wirklich nicht. Das ist weniger großartig, als dies vielleicht im ersten Moment erscheinen mag. Eifersucht ist gekoppelt an bestimmte Weltwahrnehmungsmuster. Läßt man die fallen, so ist auch das damit verbundene Gefühl verschwunden."
„Das hört sich ja nach paradiesischen Zuständen an..."
„Na, ja, es hat auch seine Nachteile..."
„Welche denn?"
Frieda lachte: „Fragen sie mal den Kadek, unseren Romancier. Der klagt immer wieder darüber, daß hier absolut nichts passiert, was er irgendwie in seinen Büchern verwenden könnte. Deshalb zieht er Jahr für Jahr einige Monate in die Großstadt, um dort, wie er es nennt, „im Sumpf des wahren Leben ersticken zu können". In diesem Jahr ist ihm der Großstadt-Stoff aber schon ausgegangen, weshalb er zur Zeit an einem Anti-Shakespeare-Drama arbeitet, in dem es keine fatalen Leidenschaften und keine Intrigen geben soll. Na ja, wir sind gespannt, was dabei herauskommt..."
In diesem Moment begann draußen die Musik so laut zu spielen, daß man im Seminarraum kaum sein eigenes Wort verstand. Frieda versuchte die Geräuschkulisse mit erhobener Stimme zu übertönen: „Mir scheint, wir sollten unsere kleine Informationsveranstaltung hier beenden. Draußen beginnt gerade unser großes 5-Jahresfestival. Wir würden uns freuen, wenn Sie mit uns feiern würden. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit."
Während die meisten Gäste applaudierten, erhob sich Harnitz mit steinerner Miene und eilte raschen Schrittes zur Tür. Eckstein ging auf Frieda zu, um ihr seine Bewunderung auszusprechen. So souverän war noch niemand mit Harnitz´ Attacken umgegangen.
Draußen im Hof hatte sich inzwischen eine große Menge von Leuten eingefunden. Es herrschte ausgelassene Stimmung. Meyer, der mittlerweile von seinem erlebnispädagogischen Ausflug zum Abenteuerspielplatz zurückgekehrt war, winkte freudestrahlend zu Eckstein hinüber: „Alfred, diesen Obstwein hier mußt Du einfach probieren. Aus eigener Herstellung - phantastisches Zeug..."
Eckstein wollte - schon allein aus Gründen der Höflichkeit - der Aufforderung folgen, doch da stellte sich ihm Harnitz in den Weg: „Eckstein, Sie wollen doch nicht wirklich mit diesen Leuten hier feiern? Das ist doch weit unter Ihrem Niveau! Sowas kann vielleicht der Meyer machen, der sowieso nie mitbekommt, was um ihn herum geschieht! Aber nicht Sie, Eckstein! Verdammt noch mal, Sie wissen doch, daß diese Leute hier alles gefährden, was uns heilig ist! Die wollen nichts anderes als die Zerstörung, Zersetzung, unserer abendländischen Kultur!"
„Harnitz, meinen Sie nicht, daß Sie da ein wenig übertreiben?"
„Eckstein! Ich sage Ihnen: Wenn Sie sich mit diesen unzuchttreibenden Spät-Hippies an einen Tisch setzen, begehen Sie einen fürchterlichen Verrat an der Aufklärung, unserer Demokratie, unserem Volk!"
Was für ein pathetisch aufgeblasener Blödsinn, dachte Eckstein. Normalerweise hätte er es bei dem Gedanken bewenden lassen, doch heute wollte er Harnitz nicht so einfach davonkommen lassen: „Harnitz", sagte er, „es gibt da etwas, was ich Ihnen schon lange einmal sagen wollte..."
„Ja?"
„Mit Verlaub, Sie sind ein Trottel, ein ewig gestriger Trottel!"
„Wie bitte?" Harnitz wollte seinen Ohren nicht trauen.
„Sie haben mich schon richtig verstanden, Harnitz. Wenn Sie mich nun entschuldigen würden?!"
Eckstein kämpfte sich durch die Menge und setzte sich neben den (wie immer) gutgelaunten Meyer. Eckstein kostete den Wein. Er war wirklich ausgezeichnet. „Schrecklich eingebildeter Kerl, der Harnitz", meinte Meyer. „Ja, da hast Du wohl recht", antwortete Eckstein. Und - lag es am Alkohol, an der gelösten Atmosphäre auf dem NENEK-Gelände oder daran, daß er Harnitz endlich Paroli geboten hatte? - Eckstein fühlte sich an diesem Abend wohl wie selten zuvor. Selbst Kollege Meyer ging ihm nicht auf die Nerven. Er feierte mit ihm durch bis zum Morgengrauen. Und das wollte in der Tat etwas heißen...


 7.4.3 Zurück in die Wirklichkeit


Kehren wir nach diesem kurzen Abstecher ins pädagogische Utopia zurück in die Wirklichkeit, zurück zur Frage, inwieweit das auf dem Papier stehende Gute tatsächlich - hier und heute - in reale Handlung umgesetzt werden kann. Wie gelangen wir also von MARCUSE zu KÄSTNER?
Mir scheint, es gibt hierfür - grob unterteilt - drei unterschiedlich aufwendige Lösungsmöglichkeiten:

1. Die kleine Lösung besteht darin, daß einzelne Individuen in den bestehenden pädagogischen Institutionen beginnen, die altbekannten pädagogischen Handlungsmuster zu durchbrechen und statt dessen neomoderne zu etablieren. Die so stattfindende „neomoderne Subversion von innen heraus" ist prinzipiell in allen pädagogischen Institutionen möglich, mögen die individuellen Freiräume auch noch so begrenzt sein.
2. Die mittelgroße Lösung besteht darin, daß sich Menschen zusammenschließen, um neue pädagogische Institutionen/Unternehmen zu gründen. Der Vorteil dieser Lösung besteht darin, daß hier die strukturellen Bedingungen optimal an die Erfordernisse neomoderner Pädagogik angepaßt werden können. Im Gegensatz zur oben skizzierten kleinen Lösung entfällt hierdurch der mühsame Kampf gegen die meist strukturell konservativen TrägerInnen pädagogischer Institutionen. An seine Stelle tritt allerdings die Auseinandersetzung mit den auf dem Markt konkurrierenden, konservativen pädagogischen Anbietern.
3. Die große Lösung besteht in der möglichst weitgehenden Vernetzung der neomodern organisierten Institutionen. Nur ein effektiv arbeitendes Netzwerk dürfte auf Dauer in der Lage sein, sich gegen die weitgehend religiös normierte Konkurrenz durchzusetzen und qualitative Veränderungen im pädagogischen Feld herbeizuführen. (Die gegenwärtige Vereinzelung der vorhandenen progressiven Institutionen stärkt die - insbesondere in Süddeutschland - frappierende Übermacht der konfessionellen Träger. Langfristig wäre daher auch an die Gründung eines neuen Wohlfahrtsverbandes zu denken. Überlegungen in diese Richtung gab es ja bereits.)

Meines Erachtens sind die Chancen zur Realisierung der hier vorgeschlagenen Lösungsstrategien nicht so verschwindend gering wie man vielleicht im ersten Moment meinen könnte, denn gerade im sozialen Dienstleistungssektor finden sich außerordentlich viele, prinzipiell hochmotivierte, von den gegebenen Arbeitsbedingungen jedoch zunehmend frustrierte Menschen. Wieviele pädagogische PraktikerInnen lauern Tag für Tag insgeheim auf die Chance, sich endlich von ihrem Arbeitgeber verabschieden zu können?! Wieviele träumen von einer wirklich freien, sinnvollen und befriedigenden pädagogischen Arbeit?! Die Berichte über unfähige, nur über Partei- oder Kirchenseilschaften legitimierte Vorgesetzte, sind Legion. Ist es da so ausgeschlossen, daß das Amalgam aus Leidensdruck und Innovationsbereitschaft irgendwann einmal die verholzten pädagogischen Institutionen sprengen wird? Daß sich immer mehr Menschen zusammenfinden, um gemeinsam Alternativen zum bestehenden pädagogischen Establishment zu entwickeln?
Und: Würde die Zahl derer, die ihren Veränderungswillen in die Tat umsetzen, erst einmal zu einer kritischen Masse anwachsen, so könnte dies einen Schneeballeffekt auslösen, der nicht nur den Bereich der sozialen Dienstleistungsunternehmen radikal verändern würde, sondern letztlich die gesamte Gesellschaft. (Welch immense Bedeutung der Sozialsektor - auch wirtschaftlich gesehen - hat, läßt sich u.a. daran ablesen, daß der Deutsche Caritasverband mittlerweile der größte private (nichtstaatliche) Arbeitgeber Europas ist. )

Theorie und Praxis


Entscheidend wird bei all dem sein, inwieweit der Veränderungsprozeß an der pädagogischen Basis mitgetragen wird von denen, die zur Lehre der pädagogischen Theorie bestellt sind. Es mag all jenen WissenschaftlerInnen, die sich mit der ewigen Wiederkehr des Gleichen im pädagogischen Geschäft abgefunden haben, vielleicht nicht gefallen, aber auch sie sind dazu aufgefordert, sich heute, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, bewußt zu entscheiden, an welchem Projekt sie sich gegenwärtig oder zukünftig beteiligen wollen: Zur Wahl stehen - wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben - prämoderne/moderne Regression, postmoderne Auflösung oder neomoderne Rekonstruktion der Pädagogik.
Sollten sie sich für das Projekt der Neomoderne entscheiden, so bedeutet dies - neben einem klaren Abschiednehmen von prämodernen und modernen Dogmen - auch eine radikale Absage sowohl an die vornehme Praxisabstinenz des unproduktiven Rests als auch an die tiefe Theorie- (=Reflexions-) Feindlichkeit der dienstleistungsorientierten, pädagogischen Marktschreier.
Positiv formuliert: Gefordert ist heute - mehr denn je - die permanent zu erneuernde, konsequente Aufhebung des Theorie/Praxis-Gegensatzes - und das heißt letztlich: die Erfüllung jenes unerhörten Versprechens, das seit der Neuzeit mit dem Begriff „Pädagogik" unmittelbar verknüpft war: nämlich die Einheit von Theorie und Praxis, Denken und Handeln, Wissen und Werten, Wahrheit und Liebe.
Zweifellos verstößt diese bereits in den Fundamenten der Disziplin verankerte Grundausrichtung der Pädagogik vehement gegen das derzeit (noch?) vorherrschende Wissenschaftsverständnis, das bekanntermaßen davon ausgeht, daß wissenschaftliche Erkenntnis notwendigerweise „wertfrei" sei. (Diese Inkompatibilität ist - wie wir wissen - ein Hauptgrund dafür, daß es der Pädagogik - bei allen Bemühungen - bis heute so ungeheuer schwerfiel, sich im wissenschaftlichen Fächerkanon zu etablieren.)
Die Pädagogik sieht sich daher vor eine schwerwiegende, prinzipielle Entscheidung gestellt: Will sie sich zu ihren eigenen, sozial engagierten Wurzeln bekennen oder paßt sie sich in noch stärkerem Maße dem Wertfreiheitspostulat der vorherrschenden Wissenschaftstheorie an?
Aus neomoderner Perspektive ist die Entscheidung klar: Es wäre - nicht nur für die Pädagogik, sondern auch für die Wissenschaft - ein Schritt in die falsche Richtung, würde sich die akademische Disziplin Pädagogik aus Renommeegründen zugunsten vermeintlicher „Wissenschaftlichkeit" noch weiter von ihren eigenen Traditionen entfernen. Denn - und dies gilt es heute in aller Schärfe herauszustellen -: Die von ErziehungswissenschaftlerInnen immer wieder beklagte, akademische Not der Pädagogik ist gleichzeitig auch Ausdruck ihrer größten Tugend: Die Pädagogik trägt nämlich in sich den Keim eines neuen Wissenschaftsverständnisses.
So merkwürdig dieses Statement - sowohl für PädagogInnen als auch für Nicht-PädagogInnen - klingen mag: Meines Erachtens spricht heute vieles dafür, daß ausgerechnet die Pädagogik, jene so häufig als Pseudowissenschaft belächelte, mit schweren akademischen Minderwertigkeitskomplexen beladene Disziplin, uns das Schnittmuster für ein noch zu entwickelndes, zukunftsfähiges Paradigma wissenschaftlicher Forschung liefert:
Im Unterschied zum naiv wertfrei sich dünkenden wissenschaftlichen Umfeld kann pädagogische Erkenntnis nämlich ihre normative Herkunft bis heute nicht verbergen. Und gerade in dieser Schwäche liegt ihre zukunftsweisende Stärke. Für pädagogische Erkenntnis gilt nämlich ganz offensichtlich, was für alle anderen wissenschaftlichen Erkenntnisformen nachfolgend erst noch zu belegen ist:
Sie ist Erkenntnis aus Engagement.


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