Es gibt nichts Gutes,
außer: man tut es!
Erich KÄSTNER
Es ist besser, das Gute steht nur auf dem Papier -
als nicht einmal dort.
Ludwig MARCUSE
Die beiden vorangestellten Zitate dokumentieren recht gut die beiden Pole, mit denen wir
uns im vorliegenden Kapitel beschäftigen müssen. Da ist zum einen die notwendige
Forderung nach einer weitgehenden Praxisrelevanz der Theorie (eine Forderung, die ja
insbesondere für die Pädagogik bedeutsam ist ) und zum anderen das Problem, daß
progressive Theorien unter regressiven Bedingungen nur äußerst schwer zu realisieren
sind, zumindest dann, wenn man den eigentlich wertvollen Gehalt der Theorie nicht aus
Opportunitätsgründen aufopfern will.
Wir werden uns diesen beiden Polen nachfolgend in einem Zweierschritt nähern. Zunächst
soll mit Hilfe der erzählenden Szenariotechnik eine - aus neomoderner Sicht - ideale,
also gute", pädagogische Praxis geschildert werden. Ich werde versuchen, diese
Schilderung - trotz aller Kürze - so plastisch wie möglich zu gestalten, um so - nach
all den vorangegangen Abstraktionen - einen halbwegs klaren (sinnlichen) Eindruck davon zu
vermitteln, was die oben entwickelte neomoderne Rekonstruktion der Pädagogik für die
pädagogische Praxis bedeuten könnte.
In einem zweiten Schritt werden wir uns dann mit der wichtigen Frage beschäftigen, wie
eine solche neomoderne Praxis unter den gegebenen Verhältnissen zu implementieren wäre.
Daß meine Überlegungen gerade in diesem Punkt hochgradig fragmentarisch sein werden,
liegt nicht nur in der ausufernden Themenfülle der vorliegenden Arbeit begründet,
sondern auch in dem Faktum, daß die vorliegende Theorie - in ihrer Gesamtheit - bisher
weitgehend praxisunerprobt ist.
(Namen und Handlung des folgenden Szenarios sind frei erfunden, jede Ähnlichkeit mit
lebenden oder bereits verstorbenen Personen wäre rein zufällig)
Dr. Alfred Eckstein, Fachmann für Wissenschaftstheorie und Philosophie der Erziehung, war
nicht wenig erstaunt gewesen über diese Einladung zur 5-Jahresfeier des
NENEK", die er in seiner Morgenpost gefunden hatte. Im ersten Moment war er etwas
unsicher, ob er der Einladung tatsächlich folgen sollte: In den eher konservativen
Kreisen, in denen er gewöhnlich verkehrte, war das NENEK (der Name stand für
Netzwerk für Neomoderne Kulturentwicklung) einigermaßen in Verruf geraten.
Kirchliche Sektenbeauftragte hatten behauptet, hinter dem Projekt stehe eine gefährliche
Psychosekte, die sich dank ihrer erfolgreichen Sozialarbeit in beängstigender Weise
ausbreiten würde.
Daß Eckstein, der eigentlich ein eher ängstlicher Mensch war, sich dann doch noch auf
das Abenteuer eines Besuchs bei den Netzwerk-Leuten" einließ, lag an seiner
ausgeprägten Neugier. Er wollte einfach wissen, wer hinter diesem Projekt stand, was die
beteiligten Menschen so dachten, welche Ziele sie hatten. Außerdem hatte er erst vor
kurzem einen Aufsatz über neomoderne Psychotherapie gelesen, der ihm recht gut gefallen
hatte.
Eckstein war also - wie verabredet - zum Bahnhof gefahren, wo bereits der Bus auf ihn
wartete, der ihn und die anderen Jubiläumsgäste zum NENEK-Zentrum bringen sollte. Wer
wohl die anderen Gäste sein würden? Eckstein war einigermaßen nervös, aber er hatte
sich vorgenommen, auf alles gefaßt zu sein. Doch als er dann tatsächlich in den Bus
einstieg und den anderen Gästen von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, fuhr ihm -
trotz aller mentaler Vorbereitung im Vorfeld - der Schreck eiskalt durch die Glieder: Im
Bus saß die halbe pädagogische Abteilung seiner Hochschule! Selbst Prof. Friedhelm
Harnitz, der neokonservative Rechtsausleger der Abteilung war mit von der Partie.
Na, Alfred, Lust auf ´nen Trip ins Ungewisse?" Knut Meyer, der Kollege aus der
Sozialpädagogik, grinste mit einem breiten, erlebnispädagogisch gebräunten Lächeln.
Eckstein begrüßte die KollegInnen mit gebotener Höflichkeit und setzte sich in die
entfernteste Ecke des Busses.
Nach kurzer Fahrt hatte der Bus sein Ziel erreicht. Die Gäste stiegen aus und blickten
sich um. Vor ihnen lag ein weitläufiges Gelände mit verschiedenen kleineren Häusern und
einem großen, alten Gutshof. Die geheime Kommandozentrale der Kulturvernichter
", zischte Harnitz. Eckstein hätte gerne etwas Relativierendes erwidert, doch der
autoritäre Habitus von Harnitz schüchterte ihn - wie so häufig - ein.
Eine Frau begrüßte die Gäste im Namen des NENEK: Wir freuen uns sehr, daß Sie
unserer Einladung gefolgt sind und hoffen, daß es Ihnen bei uns gefallen wird. Ich bin
Dr. Frieda Üppig, aber bitte nennen Sie mich Frieda. Mit meinem Nachnamen bin ich meine
ganze Kindheit hindurch aufgezogen worden."
Nach einem kleinen Begrüßungsumtrunk folgte eine ausgedehnte Besichtigung des Geländes.
Und es gab einiges zu sehen: Das NENEK-Gelände verfügte neben Kindergarten, Schule und
Internat über zahlreiche Seminar- Workshop- und Büroräume, außerdem gab es da noch ein
ganzes Arsenal an Räumen, die von den rund fünfzig Netzwerk-Leuten genutzt wurden, die
permanent auf dem Gelände lebten. Eckstein bewunderte die gelungene Synthese von
ökologischer Bauweise und modernster Technik. Wir sind wahre High Tech-Ökos",
kommentierte Frieda. Das verdanken wir vor allem unserem Hausarchitekten"
Hardy Wilson, der mit ein paar anderen Computerfreaks gerade hartnäckig an der Vision
eines ökologisch klugen Hauses bastelt. Wenn Sie wollen, können Sie ihn besuchen. Sein
Haus der Zukunft" liegt nur wenige hundert Meter von hier entfernt."
Eckstein taten langsam die Füße weh. Deshalb war er auch einigermaßen erleichtert, als
Frieda vorschlug, die Gruppe zu teilen: Diejenigen, die sich für unsere Ateliers,
Gärten, Spielwiesen oder den großen Abenteuerspielplatz interessieren, sollten sich
meinem Netzwerkfreund Till Sandmann anschließen. Er wird ihnen - wenn Sie wollen - auch
noch die entlegensten Winkel unseres Geländes zeigen. Den anderen schlage ich vor, mir in
Seminarraum 4b zu folgen. Ich würde Ihnen dort gerne über Idee, Aufbau und Entwicklung
von NENEK berichten."
Eckstein mußte nicht lange überlegen. Er folgte der Gruppe um Frieda - nicht nur wegen
der akut schmerzenden Füße und seiner chronisch brennenden Neugier, sondern auch, weil
er sich dadurch - zumindest zeitweilig - dem aufdringlichen Kollegen Meyer entziehen
konnte, der sich - schon allein wegen der in Aussicht gestellten Besichtigung des
Abenteuerspielplatzes - mit glänzenden Augen der Gruppe um Sandmann angeschlossen hatte.
Im Seminarraum angekommen, ließ Frieda eine Computersimulation ablaufen, die die
Organisationsentwicklung von NENEK optisch darstellte: Wie Sie sehen, ist das NENEK
in den letzten fünf Jahren auf ungeheure Weise gewachsen. Mittlerweile umfaßt es rund 50
eigenständige Unternehmen, von denen die meisten ihren Sitz außerhalb unseres Geländes
haben. Interessant ist, daß, obwohl der Großteil der Unternehmen in den letzten fünf
Jahren gegründet wurde, eine doch beachtliche Anzahl bereits vorher existiert hat. Diese
Unternehmen haben sich also nachträglich dem NENEK angeschlossen."
Welche Bedingungen muß denn ein Unternehmen erfüllen, um ins NENEK aufgenommen
werden zu können?", wollte Eckstein wissen.
Nun, es muß natürlich unsere Verfahrensregeln akzeptieren," erwiderte Frieda,
vor allem aber muß es der von uns vertretenen postkonventionellen Philosophie
entsprechen. Das NENEK hat nämlich - um es einmal im betriebswirtschaftlichen Jargon
auszudrücken - eine stark ausgeprägte Corporate-Identity". Wenn Sie mehr
darüber erfahren möchten, empfehle ich Ihnen die Lektüre der vor Ihnen liegenden
Broschüre."
Womit erklären Sie sich den erstaunlichen Erfolg des NENEK-Konzeptes?", fragte
eine Seminarteilnehmerin, deren Name Eckstein nicht kannte.
Ich glaube, das hängt eng zusammen mit dem Bedeutungsverlust der traditionellen
Sinnvermittlungsagenturen, insbesondere der Kirchen", antwortete Frieda. Viele
traditionelle Sinnvorstellungen gelten mittlerweile als überlebt, ohne das sich neue
haben ausbilden können. Unter solchen Umständen entsteht ein Sinnvakuum, in das wir nun
mit dem NENEK hineinstoßen. Für viele bieten wir die einzig überzeugende
Alternative."
Hierin liegt aber auch eine große Gefahr!", wandte Eckstein, seit jeher ein
glühender Verfechter des Pluralismus, ein. Ich meine, wie können Sie verhindern,
daß sich das NENEK in Richtung einer vormodernen, möglicherweise gar
fundamentalistischen Bewegung hinentwickelt? Sie wissen doch sicherlich, daß schon jetzt
Sektenvorwürfe gegen das NENEK erhoben werden?"
Nun ja, mit diesen Vorwürfe bombardieren uns die christlichen Kirchen, seitdem sie
gemerkt haben, daß ihnen aufgrund der stärker werdenden säkularen Konkurrenz auf dem
Sozialsektor langsam die Schafsfelle wegschwimmen", erwiderte Frieda. Wenn Sie
aber unsere Broschüren und Materialien gründlich studieren, so werden Sie ohne Zweifel
feststellen, daß der Sektenvorwurf gänzlich unbegründet ist. Das NENEK-Konzept beruht
nämlich - und das verhindert jede Form von Sektenmentalität! - auf radikaler Offenheit -
nicht auf Offenbarung. Im Gegensatz zur religiösen Konkurrenz vertreten wir eine
Philosophie, die im höchsten Maße dynamisch ist. Prinzipiell ist alles in Frage zu
stellen, jederzeit von jedermann bzw. jederfrau..."
So steht es vielleicht in ihren theoretischen Schriften, in der Praxis sieht das
aber wohl anders aus! Da reden die einen und schweigen die anderen!", fuhr Harnitz,
der schon eine ganze Weile unruhig auf dem Sitz hin und her gerutscht war, energisch
dazwischen.
Frieda antwortete mit einem freundlichen Lächeln: Wir bemühen uns sehr, den
Theorie/Praxis-Gegensatz aufzulösen, in jeglicher Hinsicht. Auch in dem Fall, den Sie
angesprochen haben. Hierfür haben wir im NENEK eine ganz eigene Form der Streitkultur
entwickelt. Eine Streitkultur, in der Kritik als Geschenk und nicht als Existenzbedrohung
empfunden wird. Dadurch wird es gerade auch für die Ängstlicheren unter uns leichter,
sich in die Diskussion einzubringen. Sie wissen, daß sie - wie alle anderen nichts zu
verlieren haben - außer ihren falschen Argumenten."
Sie wollen doch nicht im Ernst behaupten, daß die Leute im NENEK keinerlei Scham
empfinden, wenn sie des Unsinnredens oder Fehlermachens überführt werden?" fragte
Harnitz sichtlich ungehalten.
Frieda blieb ruhig:
Sicherlich gibt es immer wieder Situationen, in denen wir in alte
Weltwahrnehmungsmuster zurückfallen und uns selbst oder andere mit Scham- oder
Schuldgefühlen blockieren. Aber gerade diejenigen, die schon länger im NENEK leben und
sich intensiver mit der NENEK-Philosophie auseinandergesetzt haben, haben sich weitgehend
von Schuld-, Scham- und Peinlichkeitsgefühlen befreien können. Mit ihnen zu diskutieren
ist eine Wohltat, denn sie versuchen nicht ihre Fehler zu verstecken, sie führen keine
strategischen Verteidigungsschlachten, sind weder verletzt noch beleidigt, wenn man sie
eines Fehlers überführt hat."
Das ist doch glatter Unsinn!" ereiferte sich Harnitz.
Für Sie ganz sicherlich"!, erwiderte Frieda.
Entschuldigen Sie, wenn ich Ihren kleinen Disput unterbreche", meldete sich nun
ein anderer Seminarteilnehmer zu Wort, der sich selbst als Peter Möller,
Organisationssoziologe", vorstellte, ich würde gerne die Diskussion in eine
andere Richtung lenken. Ich interessiere mich für jene Transformationsprozesse, die mit
der Ausdifferenzierung von Organisationen einhergehen. Können Sie uns vielleicht auch
darüber ein wenig berichten?"
Sicherlich", sagte Frieda. Sie zeigte auf ein Organogramm, das die zunehmende
Ausdifferenzierung des NENEK verdeutlichte: Wie Sie sehen, gibt es zur Zeit acht
Abteilungen innerhalb des NENEK, nämlich HELP, KINJU, KLOK, BUM, CHANGE, RITANOVA,
DAGOBERT und FLOW. Jede dieser Abteilungen ist mit einem eigenen Sekretariat ausgestattet.
Wenn Sie wollen kann ich nähere Angaben zu den einzelnen Abteilungen machen."
Frieda schaute in die Runde. Da niemand Widerspruch einlegte, fuhr sie fort:
Beginnen wir mit HELP: HELP steht für Humane Entwicklung fördern/Lebenshilfe
und Lebensplanung". HELP deckt den gesamten Bereich von Beratung und Therapie ab.
Außerdem geht es hier auch um konkrete, pflegerische Hilfe für alte, behinderte oder
psychiatrieerfahrene Menschen. Seit neustem bieten wir Sterbebegleitung für unheilbar
kranke Menschen an. Ich werde zu diesem Thema vielleicht noch etwas sagen, wenn wir zur
Abteilung RITANOVA kommen. Erfreulich ist der Erfolg unserer prä- oder
posttherapeutischen Gesprächsgruppen. Themen wie Partnerschaft, Freundschaft,
Sexualität, Drogen, Krankheit, Tod sind hier sehr gefragt. Gerne besucht werden aber auch
unsere Gesprächsgruppen zum Thema Sinn des Lebens", was sicherlich mit dem
eingangs angesprochenen Sinnvakuum in unserer Gesellschaft zusammenhängt."
Entschuldigen Sie, wenn ich Sie abermals unterbreche, aber wie definieren Sie
Erfolg?", wollte Möller wissen, Ihre Schilderung hörte sich so an, als sei
Erfolg im wesentlichen an die Frequentierung ihrer Veranstaltungen gekoppelt. Heißt
Erfolg" also im wesentlichen, daß bei Ihnen die Kassen klingen?"
Frieda schüttelte den Kopf: Nein. Ich habe das vielleicht etwas unglücklich
ausgedrückt. Sehen Sie, wir sind natürlich - wie alle anderen auch - Marktgesetzen
unterworfen. Damit wir etwas bewegen können, muß der Betrieb laufen, müssen die
Einnahmen die Ausgaben decken, unsere Angebote auf entsprechende Nachfrage treffen. Unter
normalen Umständen führt eine solche marktwirtschaftliche Ausrichtung dazu, daß die
Betriebe gerade im Sozialsektor ihr eigenes Profil verlieren, um sich möglichst optimal
den jeweiligen Nachfrageverhältnissen anpassen zu können. Eine solche Anbiederung an den
Markt aber wird durch die NENEK-Philosophie bereits im Ansatz unterbunden. Wir können und
wollen uns nicht dem Markt unterwerfen. Merkwürdigerweise - und das ist der eigentliche
Clou der Geschichte - verleiht uns diese Haltung ein ganz besonderes Profil, das uns unter
den gegebenen Verhältnissen - ich erinnere an das Sinnvakuum - entscheidende
Marktvorteile verschafft."
Könnten Sie dieses marktunangepaßte NENEK-Profil vielleicht an einem
konkreten Beispiel verdeutlichen?" fragte Eckstein.
Ja, nehmen wir einmal an, Sie sind der Manager eines großen Rüstungskonzerns, der
Waffen in die ganze Welt exportiert..."
Und damit zahlreiche Arbeitsplätze schafft!", rief Harnitz mit spitzem Ton
dazwischen.
Meinetwegen", sagte Frieda. Sie fuhr fort: Nehmen wir weiterhin an, Sie
fühlen sich leer, ausgebrannt und kommen deshalb zu mir in die Therapie..."
Harnitz lachte laut auf. Frieda ließ sich jedoch nicht beirren: Damit Sie meine
folgenden Ausführungen verstehen können, erlauben Sie mir kurz einige Erläuterungen zum
Aufbau der neomodernen Therapie: Die neomoderne Therapie besteht in der Regel aus zwei
Phasen. Da ist zum einen die Phase der Zieldefinition, zum anderen die Phase der
Manipulation. In der Zieldefinitionsphase geht es darum, in einer Art freiem,
philosophischen Gespräch legitime Ziele zu bestimmen und illegitime zu verwerfen. Kommen
Therapeut und Klient hier zu einem Konsens, kann die Manipulationsphase beginnen -
natürlich nur, wenn dies überhaupt noch erforderlich ist, bei manchen Menschen genügt
es nämlich schon, wenn man ihnen beim Bestimmen legitimer Ziele hilft."
Finden denn Therapeut und Klient immer zu einem Konsens", fragte Eckstein.
Nein, selbstverständlich nicht. Hin und wieder kommt es vor, daß Therapeut und
Klient sich nicht auf gemeinsam anerkannte, legitime Ziele einigen können, in diesem Fall
muß die Therapie noch vor der Manipulationsphase abgebrochen werden."
Entschuldigen Sie die Zwischenbemerkung, aber hätte man hierfür keine schönere,
weniger anrüchige Bezeichnung als Manipulationsphase" finden können? Das
hört sich für mein Empfinden schwer nach Hirnwäsche an", meinte eine junge Frau,
die Eckstein glaubte aus seinen Seminaren zu kennen.
Sicherlich hätte man schönere Namen finden können," lachte Frieda,
doch wir haben uns innerhalb des NENEK angewöhnt, die Dinge beim Namen zu nennen.
Und es ist nun einmal nicht zu leugnen, daß der Klient in dieser zweiten Phase der
Therapie bewußt manipuliert wird. Ziel dieser Phase ist es doch, den Klienten dazu zu
befähigen, die zuvor als legitim anerkannten Handlungsziele auch in die Praxis
umzusetzen. Hierzu ist manchmal in der Tat eine Art Hirnwäsche" vonnöten. Wir
müssen alte Programmierungen löschen und durch neue ersetzen. Das heißt übrigens
nicht, daß wir nur mit kog-nitionstheoretischen Ansätzen arbeiten, auch die
Körperarbeit ist für uns von großer Bedeutung. Wir haben - wie viele aktuelle
Therapieformen - einen multimethodischen Ansatz gewählt. Was uns allerdings von den
meisten anderen Therapien unterscheidet, ist unsere konsequente Aufhebung des
Willensfreiheitsmythos. Das erlaubt uns eine radikale Entschuldung der Innenwelt.
Paradoxerweise erleben die KlientInnen die damit verbundene Zerstörung des Mythos der
inneren Freiheit in der Regel als unglaublich befreiend..."
Höchst interessant, aber vielleicht kommen Sie doch wieder auf das Beispiel vom
Rüstungsmanager zurück?!", unterbrach Harnitz.
Sicher doch", sagte Frieda. Wie Sie sich sicherlich vorstellen können,
haben wir innerhalb des NENEK eine stark negative Einstellung zur Rüstungsindustrie.
Selbstverständlich würde ich die kritischen Argumente gegen die Rüstungsindustrie in
das Gespräch mit einbringen. Wollte der Klient trotz meiner Argumente weiterhin auf
diesem Sektor tätig sein, so müßte er versuchen, meine Argumente zu widerlegen. Gelingt
ihm dies nicht, so müßte er entweder sein aktuelles Handlungsziel aufgeben oder sich
vorzeitig aus der Therapie verabschieden."
Verstehe ich Sie richtig, daß es für Sie ein größerer Erfolg wäre, wenn der
Manager seinen Job kündigt und von der Sozialhilfe lebt, als wenn er mit neuem Mut und
Elan ans Werk geht und die Produktionszahlen seiner Firma in die Höhe treibt?",
fragte Harnitz.
Durchaus", antwortete Frieda. Noch besser wäre es allerdings, wenn er
die Energie dazu nutzen würde, seinen Konzern auf einen radikalen Konversionskurs zu
trimmen."
Unfaßbar!", meinte Harnitz. Aber vielleicht ist es besser, Sie fahren
mit ihrem Vortrag fort, bevor wir uns hier in eine heillose und unproduktive Diskussion
verwickeln."
Wie Sie wollen", meinte Frieda. Sie legte eine Folie auf den Projektor, die den
Aufbau von KINJU darstellte: KINJU steht für Kinder und Jugendliche".
Wie der Name schon sagt, ist KINJU zuständig für das Angebot im Kinder- und
Jugendbereich. Neben der Einrichtung säkularer Kindergärten, Schulen, Internate und
Heime geht es hier vor allem um die Bereitstellung von Bildungs- und Freizeitangeboten
(z.B. Freizeitfahrten) für Kinder und Jugendliche."
Sicherlich ist ihr Umgang mit Kindern von der antiautoritären Erziehungsideologie
geprägt oder gehören Sie gar zur Front der sogenannten Antipädagogen?", fragte
Harnitz.
Nun, es gibt durchaus Parallelen zur antiautoritären Erziehung und zur
Antipädagogik, es gibt aber auch einige Unterschiede," antwortete Frieda. Wie
die AntipädagogInnen, so sind auch wir der Meinung, daß der Mensch eigentlich nicht
erziehungsbedürftig, sondern bildungsbedürftig ist. Das heißt nicht, daß wir im Umgang
mit Kindern keine verbindlichen Werte vermitteln würden. Im Gegenteil! Wir behandeln die
Kinder wie kleine, ständig größer werdende Erwachsene. Wir nehmen sie ernst in ihren
Bedürfnissen (auch in ihren sexuellen), akzeptieren und fördern sie als selbstbewußte
Produzenten und Konsumenten und lassen Sie bei allen wichtigen Fragen, die sie betreffen
könnten, mitentscheiden. Das vermeidet Konflikte und stärkt ihr
Verantwortungsgefühl."
Wer´s glaubt wird selig, aber bitte machen Sie weiter im Text!", drängte
Harnitz.
Ihr Wunsch ist mir Befehl!" erwiderte Frieda mit leicht ironischem Unterton.
KLOK steht für Kein Leben ohne Kultur". Sicherlich haben Sie gemerkt,
daß auf dem NENEK-Gelände zahlreiche KünstlerInnen leben. Sie versuchen, auf ihre Weise
zum Aufbau einer freieren, gerechteren, humaneren Welt beizutragen. KLOK veranstaltet
Ausstellungen, Theateraufführungen, Konzerte, Filmreihen, Workshops und vieles mehr.
Unterstützt wird KLOK hierbei von BUM, unserem Büro für ungewöhnliche
Maßnahmen". Das BUM ist das organisatorische Herzstück von NENEK. Es vertritt das
gesamte Netz nach außen, ist also verantwortlich für den weiten Bereich der
Öffentlichkeitsarbeit. Vom BUM aus werden auch alle politischen Kampagnen gestartet,
koordiniert und evaluiert."
Apropos evaluiert ", unterbrach Möller, ist Evaluation nicht
eine der Aufgaben von CHANGE?
Sehr richtig", bestätigte Frieda. CHANGE dient vor allem der Evaluation
und Supervision der im Netz geleisteten Arbeit. CHANGE organisiert regelmäßig
Koordinations-treffen und Weiterbildungen, konzentriert sich dabei aber nicht nur auf die
tätigen Individuen, sondern trägt ganz allgemein zur Organisationsentwicklung bei, indem
es fehlerhafte Strukturen aufzeigt und alternative Organisationsmuster entwickelt. Dies
ist wichtig, damit das NENEK nicht institutionell verkrustet. Mittlerweile gibt es
übrigens auch schon einige Anfragen von Unternehmen außerhalb des Netzes. Allerdings
stehen die Change Agents" hier manchmal vor den gleichen Problemen wie wir
TherapeutInnen. Auch sie werden mit AdressatInnen konfrontiert, mit deren Zieldefinitionen
sie nicht übereinstimmen können. Ich erinnere hier an das Beispiel von dem
Rüstungsmanager..."
Nicht schon wieder," stöhnte Harnitz.
Keine Sorge," beruhigte Frieda lächelnd. Ich mache weiter im Konzept.
Die nächste Abteilung, die ich Ihnen vorstellen möchte, trägt den Namen
RITANOVA". Bei RITANOVA geht es um die Erfindung und Betreuung neuer Rituale,
die an die Stelle altbekannter religiöser Veranstaltungen treten sollen. Beispiele
hierfür sind das Willkommensfest" anstelle der Taufe, das Fedau"
(Fest der Aufnahme) anstelle der Kommunion/Firmung/Konfirmation, das
Dyadenfest" (wenn zwei Menschen beschließen, gemeinsam durchs Leben zu gehen -
Dyaden können übrigens nicht nur aufgekündigt werden, es können von einem Individuum
auch mehrere Dyadenbeziehungen gleichzeitig eingegangen werden). Die größte Nachfrage
besteht zur Zeit aber eindeutig für das Abschiedsfest", das im Sinne einer
alternativen, postreligiösen Trauerfeier begangen wird. Apropos: Ich weiß nicht, ob Sie
in der letzten Zeit die Schlagzeilen verfolgt haben. Vor kurzem gab es großes Medienecho
für eine ungewöhnliche, aber wie ich finde: höchst interessante Variante des
Abschiedsfestes. Klaus Stern, ein NENEK-Mitglied der ersten Stunde, hatte sich aufgrund
seiner unheilbaren Krankheit zum Freitod entschlossen. Er informierte seine Bekannten und
Verwandten und lud sie zu einer letzten Abschiedsfeier hierhin auf das Gelände ein. Am
Ende der Feier verabschiedete er sich von jedem Einzelnen von uns und schloß sich mit
seinen engsten Freunden in ein Zimmer ein, wo er - wie angekündigt - seinem Leben ein
Ende setzte. Ich muß sagen, in meinem ganzen Leben habe ich noch nie einen solchen
Ausdruck menschlicher Größe erlebt..."
Für einen Moment herrschte eine merkwürdige Stille im Raum. Eckstein wagte kaum zu
atmen. Gleich wird Harnitz explodieren wie eine Bombe, dachte er. Und tatsächlich:
Barbarei, was Sie da erzählen, ist die reinste Barbarei!" polterte Harnitz
los. Ungeheuerlich! Dafür hätte man sie einsperren müssen!"
Nun, falls es Sie beruhigt, wir hatten in der Tat einige juristische Probleme. Die
Angelegenheit ist aber letztlich im Sande verlaufen. Darum hat sich DAGOBERT gekümmert,
unsere Abteilung für Steuer-, Finanz- und Rechtsangelegenheiten. Über DAGOBERT kann ich
Ihnen leider nur sehr wenig mitteilen, weil ich von diesen Dingen nicht sonderlich viel
verstehe. Nur soviel: Obwohl DAGOBERT nahezu alle Finanz- und Rechtsangelegenheiten im
NENEK übernommen hat, haben die Mitglieder nebenbei noch die Zeit, einen Tauschring zu
organisieren, der den geldlosen Transfer von privaten Dienstleistungen ermöglicht. Wie
die das schaffen, ist mir allerdings ein Rätsel..."
Na gut, lassen wir das!" meinte Harnitz hastig, kommen wir zu FLOW. Das
ist die Abteilung, die den kulturzersetzenden Ungeist ihres sogenannten Netzwerks am
stärksten widerspiegelt."
In Ordnung", erwiderte Frieda. Kommen wir zu FLOW, unserer Abteilung für
Cybergogik. Cybergogik meint professionelle Führung durch die immer wieder religiös
ausgeschlachtete Welt der Transzendenz-/Flow-Erlebnisse. FLOW versucht das Gefühl von
Transzendenz durch psychedelische Bewußtseinstechniken, gezielte Atmung, Meditation,
Farben, Formen, Klänge, Rhythmen, Rausch und Ekstase auch im postreligiösen Kontext
erfahrbar zu machen. Die hiermit verbundenen Gefahren versuchen wir mit Hilfe einer
kritischen Psychedelic" zu überwinden, ein Verfahren, das großen Wert auf die
bewußte Unterscheidung von Alltagsrealität und mystischer Nische" legt."
Unsinn!", fuhr Harnitz wild erregt dazwischen FLOW verfolgt nur einen
einzigen Zweck - und der besteht darin, die Leute soweit um den Verstand zu bringen, daß
sie sich in ihrem Spinnen-Netzwerk verfangen. Um es auf einen Nenner zu bringen: FLOW
bedeutet Verführung zu Drogen, okkulten Praktiken und möglicherweise gar zu Gruppensex.
Lachen Sie nicht! Wenn ich mich nicht irre, haben Sie, Frau Dr. Üppig, doch gerade ein
Buch veröffentlicht mit dem bezeichnenden Titel Vom Ehekäfig zum
Intimnetzwerk", oder bin ich da falsch informiert?"
Nein, Sie sind da völlig richtig informiert", antwortete Frieda, aber
gelesen haben Sie das Buch wohl nicht, denn sonst würden Sie den Begriff
Intimnetzwerk" kaum mit dem Begriff Gruppensex" gleichsetzen.
Gruppensex ist - wie Sie wissen - eine mehr oder weniger originelle Form sexuellen
Verhaltens, die man mögen kann oder nicht. Mit Intimnetzwerk" hingegen
bezeichnen wir eine der postfamilialen Gesellschaft angepaßte Form des menschlichen
Zusammenlebens, die sexuelle oder emotionale Mehrfachbindungen erlaubt, diese jedoch nicht
erzwingt. Man kann das Intimnetzwerk also als eine Weiterentwicklung des altbekannten
Konzepts der offenen Ehe verstehen."
Leben Sie selbst in einem solchen Intimnetzwerk?", fragte die Studentin, nach
deren Namen Eckstein immer noch fieberhaft in seinem Gedächtnis fahndete.
Ja, selbstverständlich", antwortete Frieda. Wenn - wie bei uns - viele
Menschen auf einem relativ eng umgrenzten Raum zusammenleben und intensiv miteinander
zusammenarbeiten, kommt es notwendigerweise zu einem wahren Geflecht sexueller
Querverbindungen. Ich denke, wenn wir dieses Problem nicht so offen - und vor allem so
unverkrampft! - angegangen wären, würde das NENEK heute in seiner jetzigen Struktur
nicht mehr existieren. Die Kommunen der Vergangenheit sind ja, wie Sie sicherlich wissen,
allzu häufig genau an diesem Problem gescheitert."
Empfinden Sie denn persönlich keine Eifersucht?"
Nein."
Wirklich nicht?"
Nein, wirklich nicht. Das ist weniger großartig, als dies vielleicht im ersten
Moment erscheinen mag. Eifersucht ist gekoppelt an bestimmte Weltwahrnehmungsmuster.
Läßt man die fallen, so ist auch das damit verbundene Gefühl verschwunden."
Das hört sich ja nach paradiesischen Zuständen an..."
Na, ja, es hat auch seine Nachteile..."
Welche denn?"
Frieda lachte: Fragen sie mal den Kadek, unseren Romancier. Der klagt immer wieder
darüber, daß hier absolut nichts passiert, was er irgendwie in seinen Büchern verwenden
könnte. Deshalb zieht er Jahr für Jahr einige Monate in die Großstadt, um dort, wie er
es nennt, im Sumpf des wahren Leben ersticken zu können". In diesem Jahr ist
ihm der Großstadt-Stoff aber schon ausgegangen, weshalb er zur Zeit an einem
Anti-Shakespeare-Drama arbeitet, in dem es keine fatalen Leidenschaften und keine Intrigen
geben soll. Na ja, wir sind gespannt, was dabei herauskommt..."
In diesem Moment begann draußen die Musik so laut zu spielen, daß man im Seminarraum
kaum sein eigenes Wort verstand. Frieda versuchte die Geräuschkulisse mit erhobener
Stimme zu übertönen: Mir scheint, wir sollten unsere kleine
Informationsveranstaltung hier beenden. Draußen beginnt gerade unser großes
5-Jahresfestival. Wir würden uns freuen, wenn Sie mit uns feiern würden. Ich danke Ihnen
für Ihr Interesse und Ihre Aufmerksamkeit."
Während die meisten Gäste applaudierten, erhob sich Harnitz mit steinerner Miene und
eilte raschen Schrittes zur Tür. Eckstein ging auf Frieda zu, um ihr seine Bewunderung
auszusprechen. So souverän war noch niemand mit Harnitz´ Attacken umgegangen.
Draußen im Hof hatte sich inzwischen eine große Menge von Leuten eingefunden. Es
herrschte ausgelassene Stimmung. Meyer, der mittlerweile von seinem erlebnispädagogischen
Ausflug zum Abenteuerspielplatz zurückgekehrt war, winkte freudestrahlend zu Eckstein
hinüber: Alfred, diesen Obstwein hier mußt Du einfach probieren. Aus eigener
Herstellung - phantastisches Zeug..."
Eckstein wollte - schon allein aus Gründen der Höflichkeit - der Aufforderung folgen,
doch da stellte sich ihm Harnitz in den Weg: Eckstein, Sie wollen doch nicht
wirklich mit diesen Leuten hier feiern? Das ist doch weit unter Ihrem Niveau! Sowas kann
vielleicht der Meyer machen, der sowieso nie mitbekommt, was um ihn herum geschieht! Aber
nicht Sie, Eckstein! Verdammt noch mal, Sie wissen doch, daß diese Leute hier alles
gefährden, was uns heilig ist! Die wollen nichts anderes als die Zerstörung, Zersetzung,
unserer abendländischen Kultur!"
Harnitz, meinen Sie nicht, daß Sie da ein wenig übertreiben?"
Eckstein! Ich sage Ihnen: Wenn Sie sich mit diesen unzuchttreibenden Spät-Hippies
an einen Tisch setzen, begehen Sie einen fürchterlichen Verrat an der Aufklärung,
unserer Demokratie, unserem Volk!"
Was für ein pathetisch aufgeblasener Blödsinn, dachte Eckstein. Normalerweise hätte er
es bei dem Gedanken bewenden lassen, doch heute wollte er Harnitz nicht so einfach
davonkommen lassen: Harnitz", sagte er, es gibt da etwas, was ich Ihnen
schon lange einmal sagen wollte..."
Ja?"
Mit Verlaub, Sie sind ein Trottel, ein ewig gestriger Trottel!"
Wie bitte?" Harnitz wollte seinen Ohren nicht trauen.
Sie haben mich schon richtig verstanden, Harnitz. Wenn Sie mich nun entschuldigen
würden?!"
Eckstein kämpfte sich durch die Menge und setzte sich neben den (wie immer) gutgelaunten
Meyer. Eckstein kostete den Wein. Er war wirklich ausgezeichnet. Schrecklich
eingebildeter Kerl, der Harnitz", meinte Meyer. Ja, da hast Du wohl
recht", antwortete Eckstein. Und - lag es am Alkohol, an der gelösten Atmosphäre
auf dem NENEK-Gelände oder daran, daß er Harnitz endlich Paroli geboten hatte? -
Eckstein fühlte sich an diesem Abend wohl wie selten zuvor. Selbst Kollege Meyer ging ihm
nicht auf die Nerven. Er feierte mit ihm durch bis zum Morgengrauen. Und das wollte in der
Tat etwas heißen...
Kehren wir nach diesem kurzen Abstecher ins pädagogische Utopia zurück in die
Wirklichkeit, zurück zur Frage, inwieweit das auf dem Papier stehende Gute tatsächlich -
hier und heute - in reale Handlung umgesetzt werden kann. Wie gelangen wir also von
MARCUSE zu KÄSTNER?
Mir scheint, es gibt hierfür - grob unterteilt - drei unterschiedlich aufwendige
Lösungsmöglichkeiten:
1. Die kleine Lösung besteht darin, daß einzelne Individuen in den bestehenden
pädagogischen Institutionen beginnen, die altbekannten pädagogischen Handlungsmuster zu
durchbrechen und statt dessen neomoderne zu etablieren. Die so stattfindende
neomoderne Subversion von innen heraus" ist prinzipiell in allen pädagogischen
Institutionen möglich, mögen die individuellen Freiräume auch noch so begrenzt sein.
2. Die mittelgroße Lösung besteht darin, daß sich Menschen zusammenschließen, um neue
pädagogische Institutionen/Unternehmen zu gründen. Der Vorteil dieser Lösung besteht
darin, daß hier die strukturellen Bedingungen optimal an die Erfordernisse neomoderner
Pädagogik angepaßt werden können. Im Gegensatz zur oben skizzierten kleinen Lösung
entfällt hierdurch der mühsame Kampf gegen die meist strukturell konservativen
TrägerInnen pädagogischer Institutionen. An seine Stelle tritt allerdings die
Auseinandersetzung mit den auf dem Markt konkurrierenden, konservativen pädagogischen
Anbietern.
3. Die große Lösung besteht in der möglichst weitgehenden Vernetzung der neomodern
organisierten Institutionen. Nur ein effektiv arbeitendes Netzwerk dürfte auf Dauer in
der Lage sein, sich gegen die weitgehend religiös normierte Konkurrenz durchzusetzen und
qualitative Veränderungen im pädagogischen Feld herbeizuführen. (Die gegenwärtige
Vereinzelung der vorhandenen progressiven Institutionen stärkt die - insbesondere in
Süddeutschland - frappierende Übermacht der konfessionellen Träger. Langfristig wäre
daher auch an die Gründung eines neuen Wohlfahrtsverbandes zu denken. Überlegungen in
diese Richtung gab es ja bereits.)
Meines Erachtens sind die Chancen zur Realisierung der hier vorgeschlagenen
Lösungsstrategien nicht so verschwindend gering wie man vielleicht im ersten Moment
meinen könnte, denn gerade im sozialen Dienstleistungssektor finden sich außerordentlich
viele, prinzipiell hochmotivierte, von den gegebenen Arbeitsbedingungen jedoch zunehmend
frustrierte Menschen. Wieviele pädagogische PraktikerInnen lauern Tag für Tag insgeheim
auf die Chance, sich endlich von ihrem Arbeitgeber verabschieden zu können?! Wieviele
träumen von einer wirklich freien, sinnvollen und befriedigenden pädagogischen Arbeit?!
Die Berichte über unfähige, nur über Partei- oder Kirchenseilschaften legitimierte
Vorgesetzte, sind Legion. Ist es da so ausgeschlossen, daß das Amalgam aus Leidensdruck
und Innovationsbereitschaft irgendwann einmal die verholzten pädagogischen Institutionen
sprengen wird? Daß sich immer mehr Menschen zusammenfinden, um gemeinsam Alternativen zum
bestehenden pädagogischen Establishment zu entwickeln?
Und: Würde die Zahl derer, die ihren Veränderungswillen in die Tat umsetzen, erst einmal
zu einer kritischen Masse anwachsen, so könnte dies einen Schneeballeffekt auslösen, der
nicht nur den Bereich der sozialen Dienstleistungsunternehmen radikal verändern würde,
sondern letztlich die gesamte Gesellschaft. (Welch immense Bedeutung der Sozialsektor -
auch wirtschaftlich gesehen - hat, läßt sich u.a. daran ablesen, daß der Deutsche
Caritasverband mittlerweile der größte private (nichtstaatliche) Arbeitgeber Europas
ist. )
Entscheidend wird bei all dem sein, inwieweit der Veränderungsprozeß an der
pädagogischen Basis mitgetragen wird von denen, die zur Lehre der pädagogischen Theorie
bestellt sind. Es mag all jenen WissenschaftlerInnen, die sich mit der ewigen Wiederkehr
des Gleichen im pädagogischen Geschäft abgefunden haben, vielleicht nicht gefallen, aber
auch sie sind dazu aufgefordert, sich heute, an der Schwelle zum dritten Jahrtausend,
bewußt zu entscheiden, an welchem Projekt sie sich gegenwärtig oder zukünftig
beteiligen wollen: Zur Wahl stehen - wie wir in den vorangegangenen Kapiteln gesehen haben
- prämoderne/moderne Regression, postmoderne Auflösung oder neomoderne Rekonstruktion
der Pädagogik.
Sollten sie sich für das Projekt der Neomoderne entscheiden, so bedeutet dies - neben
einem klaren Abschiednehmen von prämodernen und modernen Dogmen - auch eine radikale
Absage sowohl an die vornehme Praxisabstinenz des unproduktiven Rests als auch an die
tiefe Theorie- (=Reflexions-) Feindlichkeit der dienstleistungsorientierten,
pädagogischen Marktschreier.
Positiv formuliert: Gefordert ist heute - mehr denn je - die permanent zu erneuernde,
konsequente Aufhebung des Theorie/Praxis-Gegensatzes - und das heißt letztlich: die
Erfüllung jenes unerhörten Versprechens, das seit der Neuzeit mit dem Begriff
Pädagogik" unmittelbar verknüpft war: nämlich die Einheit von Theorie und
Praxis, Denken und Handeln, Wissen und Werten, Wahrheit und Liebe.
Zweifellos verstößt diese bereits in den Fundamenten der Disziplin verankerte
Grundausrichtung der Pädagogik vehement gegen das derzeit (noch?) vorherrschende
Wissenschaftsverständnis, das bekanntermaßen davon ausgeht, daß wissenschaftliche
Erkenntnis notwendigerweise wertfrei" sei. (Diese Inkompatibilität ist - wie
wir wissen - ein Hauptgrund dafür, daß es der Pädagogik - bei allen Bemühungen - bis
heute so ungeheuer schwerfiel, sich im wissenschaftlichen Fächerkanon zu etablieren.)
Die Pädagogik sieht sich daher vor eine schwerwiegende, prinzipielle Entscheidung
gestellt: Will sie sich zu ihren eigenen, sozial engagierten Wurzeln bekennen oder paßt
sie sich in noch stärkerem Maße dem Wertfreiheitspostulat der vorherrschenden
Wissenschaftstheorie an?
Aus neomoderner Perspektive ist die Entscheidung klar: Es wäre - nicht nur für die
Pädagogik, sondern auch für die Wissenschaft - ein Schritt in die falsche Richtung,
würde sich die akademische Disziplin Pädagogik aus Renommeegründen zugunsten
vermeintlicher Wissenschaftlichkeit" noch weiter von ihren eigenen Traditionen
entfernen. Denn - und dies gilt es heute in aller Schärfe herauszustellen -: Die von
ErziehungswissenschaftlerInnen immer wieder beklagte, akademische Not der Pädagogik ist
gleichzeitig auch Ausdruck ihrer größten Tugend: Die Pädagogik trägt nämlich in sich
den Keim eines neuen Wissenschaftsverständnisses.
So merkwürdig dieses Statement - sowohl für PädagogInnen als auch für
Nicht-PädagogInnen - klingen mag: Meines Erachtens spricht heute vieles dafür, daß
ausgerechnet die Pädagogik, jene so häufig als Pseudowissenschaft belächelte, mit
schweren akademischen Minderwertigkeitskomplexen beladene Disziplin, uns das Schnittmuster
für ein noch zu entwickelndes, zukunftsfähiges Paradigma wissenschaftlicher Forschung
liefert:
Im Unterschied zum naiv wertfrei sich dünkenden wissenschaftlichen Umfeld kann
pädagogische Erkenntnis nämlich ihre normative Herkunft bis heute nicht verbergen. Und
gerade in dieser Schwäche liegt ihre zukunftsweisende Stärke. Für pädagogische
Erkenntnis gilt nämlich ganz offensichtlich, was für alle anderen wissenschaftlichen
Erkenntnisformen nachfolgend erst noch zu belegen ist:
Sie ist Erkenntnis aus Engagement.