Im vorliegenden Kapitel soll der Idealtypus des postmodernen Denkens bestimmt werden,
indem wir ihn vom Idealtypus des prämodernen und modernen Denkens abgrenzen. (Allerdings
handelt es sich hierbei nur um erste, grobe Skizzierungen, die nachträglich im Verlauf
der Arbeit stärker ausdifferenziert werden sollen.)
Prämodernes Denken beruht auf der Annahme, es gäbe eine Schnittmenge zwischen der
diesseitigen Welt des Menschen" und der jenseitigen Welt an sich",
zu der Privilegierte per Offenbarung Zugang hätten. Prämodernes Denken ist damit
Grundlage jeder religiösen Wirklichkeitskonstruktion , denn Religionen sind idealtypisch
zu definieren als Weltanschauungssysteme, die auf einem Bündel von Aussagen über
die Struktur der Welt an sich" beruhen, von dem aus Sollsätze für die
Welt des Menschen" abgeleitet werden. Die Kopplung von Seinssätzen über die
Welt an sich" mit Sollsätzen für die Welt des Menschen" ist für
Religion konstitutiv. Sie ist die Grundlage jeder Religion."
Prämodernes Denken basiert - aus agnostischer Sicht - auf dem erkenntnistheoretisch
höchst problematischen Prinzip, menschliche Wirklichkeitskonstruktionen mit anderen als
menschlichen Gütekriterien (göttlicher Wille, Schicksal, Gesetz des Kosmos usw.) zu
versehen. Prämodern Denkende begehen damit einen permanenten Etikettenschwindel, der
letztlich zu einem unlauteren Wettbewerb der Ideen, d.h. zu einem Verstoß gegen das
Prinzip der Gleichberechtigung führen muß. Dieser erkenntnistheoretische Grundfehler in
den Fundamenten des prämodernen Denkens (und damit in den Fundamenten von Religion) ist
deshalb so problematisch, weil er die Konstruktion jener menschenverachtenden, religiösen
Fundamentalismen ermöglicht, deren Heilsversprechen auch heute noch die Weltpolitik so
unheilvoll bestimmen.
Tragischerweise läßt sich diese Denkungsart aber nicht nur in ausgewiesen religiösen
Zusammenhängen erkennen, denn auch das scheinbar antireligiöse Pendant zum Theismus, der
theoretische Atheismus, entspringt der religiösen Inanspruchnahme der Welt an
sich", behauptet er doch, daß Gott an sich nicht existiert. Auch dies ist ein nicht
zu rechtfertigender Versuch, sich der Welt an sich" zu bemächtigen."
Wir können folgern: Der religiöse Fundamentalismus, der aus einer konsequent
prämodernen Denkhaltung heraus resultiert, kann stimmigerweise nur aus einer ebenso
konsequent agnostizistischen Haltung heraus kritisiert werden kann, weil jedes
Sich-Beziehen auf die Welt an sich" (und sei es nur das negative Sich-Beziehen
des Atheismus) die Grenzen des Menschenmöglichen überschreitet und somit fatalerweise
die Grundlagen all jener Fundamentalismen bejaht, die man eigentlich zu kritisieren
gedenkt.
Doch sehen wir hier nicht nur die (weiter unten ohnehin noch schärfer heraus
gearbeiteten) Nachteile des prämodernen Denkens: Unter anderem Blickwinkel erscheinen
diese Nachteile unbestritten als ungeheure Vorteile, denn das prämoderne Denken, das
gegründet ist auf einem festen, schwerlich angreifbaren Orientierungsrahmen, bietet dem
Menschen etwas, was in der postmodernen Lebenswelt rar geworden ist: nämlich
existentielle Geborgenheit. Hierzu schreibt IMHOF:
Eingebundenheit unserer Vorfahren in christliche Glaubensvorstellungen [...] hieß
gleichzeitig auch immer Eingebundenheit ihrer kleinen Welt [...] in die große Welt. [...]
Aus der Eingebundenheit des Mikrokosmos in den Makrokosmos, dem Aufgehobensein von
Hunderten und Tausenden von kleinen Welten in der einigenden großen Welt, die ihrerseits
gemäß christlicher Vorstellungen in den allesumspannenden Armen Gottes ruhte, ergab sich
nicht nur, daß selbst der geringste Mensch nie auf verlorenem Posten stand, nie nur auf
sich selbst angewiesen war, vielmehr muß eine solche Weltanschauung bei unseren Vorfahren
damals auch zu einer seelischen Stabilität geführt haben, die selbst durch das
schlimmste Wüten von Pest, Hunger und Krieg nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu
bringen war."
So wie das prämoderne Denken mit dem Idealtypus der Religion verbunden ist, so steht das
moderne Denken beispielhaft für das gewaltige, in vieler Hinsicht gegen die Prämoderne
gerichtete, bewußtseinspolitische Unternehmen, das wir Aufklärung" nennen. An
die Stelle Gottes setzte die Aufklärung die Vernunft, eine jedem Menschen zugängliche,
die objektive Wahrheit zumindest approximativ erkennende Kraft. An die Stelle der
Offenbarung, der prämodernen Methode der Gottes- und Welterkenntnis, trat neben der
Empirie (der genauen, methodisch abgesicherten Beobachtung von Phänomenen) die Dialektik,
die kritische, argumentativ-diskursive Methode, die eine allmähliche Annäherung an die
Wahrheit (oder materialistisch gefaßt: die Annäherung an das Reich der Freiheit)
ermöglichen sollte.
Charakteristisch für die Moderne ist eine ungeheure Dynamik all ihrer Bestandteile.
Soziale Verhältnisse zum Beispiel sind nur insofern als modern zu bezeichnen, als
ihre Änderbarkeit und damit Vergänglichkeit in ihrer Definition mitgedacht
wird." Dabei bedeutet im modernen Credo stets das jeweils Neue gegenüber
dem Älteren einen Erkenntnisgewinn, einen Lebensgewinn, einen Humanitätsgewinn."
Zentrale ideologische Aspekte dieses dynamischen, vom aufstrebenden Bürgertum getragenen
Projekts der Moderne waren und sind: Humanismus, Rationalität, Wissenschaft,
Liberalismus, Bürokratismus, parlamentarische Demokratie und vor allem: ein überaus
starker, utopisch-dialektisch legitimierter Zukunftsbezug, denn die in der Moderne
stattfindende Verabsolutierung von Vernunft und Dialektik, der Glaube, Sein und/oder
Bewußtsein entwickelten sich über These, Antithese und Synthese (bzw. Position, Negation
und Negation der Negation) notwendigerweise hin zum Besseren, war die Grundlage des für
die Moderne konstitutiven Fortschrittsglaubens, einer durch die Kraft der Utopie
genährten Zukunftsorientierung, die tragischerweise oftmals dazu benutzt wurde, das
große Leid in der jeweiligen Gegenwart zu legitimieren.
Eben hier setzt postmodernes Denken an, das nicht zufällig zu einem kulturellen
Massenphänomen wird am Ende des 20.Jahrhunderts, dem Jahrhundert weltgeschichtlicher
Katastrophen. Die unzähligen Toten der beiden Weltkriege, die unbeschreibliche Barbarei
des Nationalsozialismus (Auschwitz!), die von der Sowjetunion ausgehende Perversion der
sozialistischen Idee, die ungeheure Verelendung der sog. Dritten Welt und die schier
unaufhaltsame Zerstörung der Natur - all diese Fakten mußten den modernistischen
Fortschrittsglauben erschüttern, mußten Zweifel aufkommen lassen am Projekt der Moderne
und der Vorstellung von einer argumentativ aufzudeckenden, universell geltenden Wahrheit.
Zeigte die geschichtliche Erfahrung nicht vielmehr, daß es sehr verschiedene Wahrheiten
gab, die auf keinen gemeinsamen Nenner mehr zu bringen waren? War die moderne Idee der
EINEN Wahrheit nicht eine allein aus dem Kontext der abendländischen Kulturentwicklung zu
verstehende Illusion? Lag der Fehler nicht vielleicht gerade darin, daß hier geglaubt
wurde, daß der Sinn des Ganzen ge-funden werden könne, während er doch eigentlich immer
wieder neu er-funden wurde? War es sinnvoll, von der EINEN Wirklichkeit auszugehen, wenn
man feststellen konnte, daß unterschiedliche Wirklichkeitskonstrukteure unterschiedliche
Wirklichkeitskonstruktionen hervorbrachten?
Diese Fragen sind konstitutiv für das auf dem Konstruktivismus aufbauende postmoderne
Denken. Postmodernes Denken pluralisiert die Begriffe, die im modernen Kontext nur im
Singular vorkamen und auch nur im Singular vorkommen konnten.
In der Postmoderne gibt es das, was für die auf Einheit ausgerichtete Moderne unmöglich
war: Wirklichkeiten, Wahrheiten, Schönheiten, Humanitäten. Der in der
spätkapitalistischen Gesellschaft unbestreitbar vorkommenden Pluralität von Waren und
Lebensstilen, ein Ausdruck der entfalteten Produktivkräfte im Zeitalter der
differenzierten Massenproduktion, wird mit einem positiven Bekenntnis begegnet, der
pluralistisch-relativistischen Einstellung. Das heißt: Man akzeptiert das Vorhandensein
verschiedener Wirklichkeitskonstruktionen und geht davon aus, daß niemand zu entscheiden
vermag, welche die intersubjektiv richtige ist. Welche Wahrheit aus dem großen Fundus der
Wahrheiten akzeptiert wird, ist somit eine persönliche, d.h. eine vom ästhetischen
Gesichtspunkt des subjektiven Gefallens bestimmte Entscheidung. Wahrheit wird in der
Postmoderne zur reinen Geschmacksache und über Geschmack läßt sich - hier stimmt die
Postmoderne mit der alten Redewendung überein - bekanntlich nicht streiten. Mit anderen
Worten: Meisterdiskurse sind unmöglich. Alles wird zu einer Frage der subjektiven
Ästhetik und damit radikal beliebig. Anything goes...
Konsequent zu Ende gedacht wird die Entscheidung für oder gegen Auschwitz strukturell
gleichrangig der Frage, ob man sich für diese oder jene Gouda-Sorte entscheidet. Dorothee
SÖLLE definiert die postmoderne Gesellschaft darum polemisch als eine, die alles
wie Himbeer- oder Vanilleeis behandelt." Nicht zu unrecht weist sie auf die
tendenzielle Antihumanität dieser Position hin: Himbeer- und Vanilleeis schließen
sich doch auch nicht aus. Warum sollte dann ein Unterschied bestehen zwischen einer Firma,
die Giftgas produziert und ausführt, und einer, die Kinderbettchen herstellt!"
SÖLLEs Darlegungen, die hier als Ganzes natürlich nicht wiedergegeben werden können,
machen im wesentlichen eines klar: Das postmoderne Bestreben, die verschiedenen
Wirklichkeitskonstruktionen von Hegemonialansprüchen zu befreien, birgt in sich eine kaum
zu unterschätzende Gefahr: Wenn man alle menschlichen Lebensformen als gleichermaßen
gültig ansieht, so steht man dem Wohl und Wehe dieser Lebensformen wohl letztlich
gleichgültig gegenüber. Mit anderen Worten: Am Anfang der Postmoderne steht das Ende der
Solidarität. Die einzige universelle Idee, die sich mit der Denkungsart der Postmoderne
verträgt, ist die Idee des universellen Marktes, auf dem die Entscheidungen a-moralisch,
also nach werterelativistischen Maßstäben getroffen werden - begrenzt nur durch das
ständige Auf und Ab von Angebot und Nachfrage.
Fassen wir unsere ersten Annäherungen an die idealtypischen Denkungsarten Prämoderne,
Moderne und Postmoderne zusammen, so können wir sagen, daß prämodernes Denken getragen
wird von der Idee der Offenbarung, modernes Denken von der Idee der einheitsstiftenden
Vernunft, postmodernes Denken von der Idee des radikalen Relativismus, der alles
ernstnimmt, was auf dem Markt der Ideen zu finden ist.