2.3 Prämodernes, modernes und postmodernes Denken: Erste Begriffsbestimmungen


Im vorliegenden Kapitel soll der Idealtypus des postmodernen Denkens bestimmt werden, indem wir ihn vom Idealtypus des prämodernen und modernen Denkens abgrenzen. (Allerdings handelt es sich hierbei nur um erste, grobe Skizzierungen, die nachträglich im Verlauf der Arbeit stärker ausdifferenziert werden sollen.)

a) Prämodernes Denken


Prämodernes Denken beruht auf der Annahme, es gäbe eine Schnittmenge zwischen der diesseitigen „Welt des Menschen" und der jenseitigen „Welt an sich", zu der Privilegierte per Offenbarung Zugang hätten. Prämodernes Denken ist damit Grundlage jeder religiösen Wirklichkeitskonstruktion , denn Religionen sind idealtypisch zu definieren als „Weltanschauungssysteme, die auf einem Bündel von Aussagen über die Struktur der „Welt an sich" beruhen, von dem aus Sollsätze für die „Welt des Menschen" abgeleitet werden. Die Kopplung von Seinssätzen über die „Welt an sich" mit Sollsätzen für die „Welt des Menschen" ist für Religion konstitutiv. Sie ist die Grundlage jeder Religion."
Prämodernes Denken basiert - aus agnostischer Sicht  - auf dem erkenntnistheoretisch höchst problematischen Prinzip, menschliche Wirklichkeitskonstruktionen mit anderen als menschlichen Gütekriterien (göttlicher Wille, Schicksal, Gesetz des Kosmos usw.) zu versehen. Prämodern Denkende begehen damit einen permanenten Etikettenschwindel, der letztlich zu einem unlauteren Wettbewerb der Ideen, d.h. zu einem Verstoß gegen das Prinzip der Gleichberechtigung führen muß. Dieser erkenntnistheoretische Grundfehler in den Fundamenten des prämodernen Denkens (und damit in den Fundamenten von Religion) ist deshalb so problematisch, weil er die Konstruktion jener menschenverachtenden, religiösen Fundamentalismen ermöglicht, deren Heilsversprechen auch heute noch die Weltpolitik so unheilvoll bestimmen.
Tragischerweise läßt sich diese Denkungsart aber nicht nur in ausgewiesen religiösen Zusammenhängen erkennen, denn auch das scheinbar antireligiöse Pendant zum Theismus, der theoretische Atheismus, „entspringt der religiösen Inanspruchnahme der „Welt an sich", behauptet er doch, daß Gott an sich nicht existiert. Auch dies ist ein nicht zu rechtfertigender Versuch, sich der „Welt an sich" zu bemächtigen."
Wir können folgern: Der religiöse Fundamentalismus, der aus einer konsequent prämodernen Denkhaltung heraus resultiert, kann stimmigerweise nur aus einer ebenso konsequent agnostizistischen Haltung heraus kritisiert werden kann, weil jedes Sich-Beziehen auf die „Welt an sich" (und sei es nur das negative Sich-Beziehen des Atheismus) die Grenzen des Menschenmöglichen überschreitet und somit fatalerweise die Grundlagen all jener Fundamentalismen bejaht, die man eigentlich zu kritisieren gedenkt.

Doch sehen wir hier nicht nur die (weiter unten  ohnehin noch schärfer heraus gearbeiteten) Nachteile des prämodernen Denkens: Unter anderem Blickwinkel erscheinen diese Nachteile unbestritten als ungeheure Vorteile, denn das prämoderne Denken, das gegründet ist auf einem festen, schwerlich angreifbaren Orientierungsrahmen, bietet dem Menschen etwas, was in der postmodernen Lebenswelt rar geworden ist: nämlich existentielle Geborgenheit. Hierzu schreibt IMHOF:

„Eingebundenheit unserer Vorfahren in christliche Glaubensvorstellungen [...] hieß gleichzeitig auch immer Eingebundenheit ihrer kleinen Welt [...] in die große Welt. [...] Aus der Eingebundenheit des Mikrokosmos in den Makrokosmos, dem Aufgehobensein von Hunderten und Tausenden von kleinen Welten in der einigenden großen Welt, die ihrerseits gemäß christlicher Vorstellungen in den allesumspannenden Armen Gottes ruhte, ergab sich nicht nur, daß selbst der geringste Mensch nie auf verlorenem Posten stand, nie nur auf sich selbst angewiesen war, vielmehr muß eine solche Weltanschauung bei unseren Vorfahren damals auch zu einer seelischen Stabilität geführt haben, die selbst durch das schlimmste Wüten von Pest, Hunger und Krieg nicht so leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen war."

b) modernes Denken


So wie das prämoderne Denken mit dem Idealtypus der Religion verbunden ist, so steht das moderne Denken beispielhaft für das gewaltige, in vieler Hinsicht gegen die Prämoderne gerichtete, bewußtseinspolitische Unternehmen, das wir „Aufklärung" nennen. An die Stelle Gottes setzte die Aufklärung die Vernunft, eine jedem Menschen zugängliche, die objektive Wahrheit zumindest approximativ erkennende Kraft. An die Stelle der Offenbarung, der prämodernen Methode der Gottes- und Welterkenntnis, trat neben der Empirie (der genauen, methodisch abgesicherten Beobachtung von Phänomenen) die Dialektik, die kritische, argumentativ-diskursive Methode, die eine allmähliche Annäherung an die Wahrheit (oder materialistisch gefaßt: die Annäherung an das Reich der Freiheit) ermöglichen sollte.
Charakteristisch für die Moderne ist eine ungeheure Dynamik all ihrer Bestandteile. Soziale Verhältnisse zum Beispiel sind nur insofern als modern zu bezeichnen, „als ihre Änderbarkeit und damit Vergänglichkeit in ihrer Definition mitgedacht wird."  Dabei bedeutet im modernen Credo stets „das jeweils Neue gegenüber dem Älteren einen Erkenntnisgewinn, einen Lebensgewinn, einen Humanitätsgewinn."
Zentrale ideologische Aspekte dieses dynamischen, vom aufstrebenden Bürgertum getragenen Projekts der Moderne waren und sind: Humanismus, Rationalität, Wissenschaft, Liberalismus, Bürokratismus, parlamentarische Demokratie und vor allem: ein überaus starker, utopisch-dialektisch legitimierter Zukunftsbezug, denn die in der Moderne stattfindende Verabsolutierung von Vernunft und Dialektik, der Glaube, Sein und/oder Bewußtsein entwickelten sich über These, Antithese und Synthese (bzw. Position, Negation und Negation der Negation) notwendigerweise hin zum Besseren, war die Grundlage des für die Moderne konstitutiven Fortschrittsglaubens, einer durch die Kraft der Utopie genährten Zukunftsorientierung, die tragischerweise oftmals dazu benutzt wurde, das große Leid in der jeweiligen Gegenwart zu legitimieren.

c) postmodernes Denken


Eben hier setzt postmodernes Denken an, das nicht zufällig zu einem kulturellen Massenphänomen wird am Ende des 20.Jahrhunderts, dem Jahrhundert weltgeschichtlicher Katastrophen. Die unzähligen Toten der beiden Weltkriege, die unbeschreibliche Barbarei des Nationalsozialismus (Auschwitz!), die von der Sowjetunion ausgehende Perversion der sozialistischen Idee, die ungeheure Verelendung der sog. Dritten Welt und die schier unaufhaltsame Zerstörung der Natur - all diese Fakten mußten den modernistischen Fortschrittsglauben erschüttern, mußten Zweifel aufkommen lassen am Projekt der Moderne und der Vorstellung von einer argumentativ aufzudeckenden, universell geltenden Wahrheit. Zeigte die geschichtliche Erfahrung nicht vielmehr, daß es sehr verschiedene Wahrheiten gab, die auf keinen gemeinsamen Nenner mehr zu bringen waren? War die moderne Idee der EINEN Wahrheit nicht eine allein aus dem Kontext der abendländischen Kulturentwicklung zu verstehende Illusion? Lag der Fehler nicht vielleicht gerade darin, daß hier geglaubt wurde, daß der Sinn des Ganzen ge-funden werden könne, während er doch eigentlich immer wieder neu er-funden wurde? War es sinnvoll, von der EINEN Wirklichkeit auszugehen, wenn man feststellen konnte, daß unterschiedliche Wirklichkeitskonstrukteure unterschiedliche Wirklichkeitskonstruktionen hervorbrachten?
Diese Fragen sind konstitutiv für das auf dem Konstruktivismus aufbauende postmoderne Denken. Postmodernes Denken pluralisiert die Begriffe, die im modernen Kontext nur im Singular vorkamen und auch nur im Singular vorkommen konnten.
In der Postmoderne gibt es das, was für die auf Einheit ausgerichtete Moderne unmöglich war: Wirklichkeiten, Wahrheiten, Schönheiten, Humanitäten. Der in der spätkapitalistischen Gesellschaft unbestreitbar vorkommenden Pluralität von Waren und Lebensstilen, ein Ausdruck der entfalteten Produktivkräfte im Zeitalter der differenzierten Massenproduktion, wird mit einem positiven Bekenntnis begegnet, der pluralistisch-relativistischen Einstellung. Das heißt: Man akzeptiert das Vorhandensein verschiedener Wirklichkeitskonstruktionen und geht davon aus, daß niemand zu entscheiden vermag, welche die intersubjektiv richtige ist. Welche Wahrheit aus dem großen Fundus der Wahrheiten akzeptiert wird, ist somit eine persönliche, d.h. eine vom ästhetischen Gesichtspunkt des subjektiven Gefallens bestimmte Entscheidung. Wahrheit wird in der Postmoderne zur reinen Geschmacksache und über Geschmack läßt sich - hier stimmt die Postmoderne mit der alten Redewendung überein - bekanntlich nicht streiten. Mit anderen Worten: Meisterdiskurse sind unmöglich. Alles wird zu einer Frage der subjektiven Ästhetik und damit radikal beliebig. Anything goes...
Konsequent zu Ende gedacht wird die Entscheidung für oder gegen Auschwitz strukturell gleichrangig der Frage, ob man sich für diese oder jene Gouda-Sorte entscheidet. Dorothee SÖLLE definiert die postmoderne Gesellschaft darum polemisch als eine, die „alles wie Himbeer- oder Vanilleeis behandelt." Nicht zu unrecht weist sie auf die tendenzielle Antihumanität dieser Position hin: „Himbeer- und Vanilleeis schließen sich doch auch nicht aus. Warum sollte dann ein Unterschied bestehen zwischen einer Firma, die Giftgas produziert und ausführt, und einer, die Kinderbettchen herstellt!"
SÖLLEs Darlegungen, die hier als Ganzes natürlich nicht wiedergegeben werden können, machen im wesentlichen eines klar: Das postmoderne Bestreben, die verschiedenen Wirklichkeitskonstruktionen von Hegemonialansprüchen zu befreien, birgt in sich eine kaum zu unterschätzende Gefahr: Wenn man alle menschlichen Lebensformen als gleichermaßen gültig ansieht, so steht man dem Wohl und Wehe dieser Lebensformen wohl letztlich gleichgültig gegenüber. Mit anderen Worten: Am Anfang der Postmoderne steht das Ende der Solidarität. Die einzige universelle Idee, die sich mit der Denkungsart der Postmoderne verträgt, ist die Idee des universellen Marktes, auf dem die Entscheidungen a-moralisch, also nach werterelativistischen Maßstäben getroffen werden - begrenzt nur durch das ständige Auf und Ab von Angebot und Nachfrage.

Fazit


Fassen wir unsere ersten Annäherungen an die idealtypischen Denkungsarten Prämoderne, Moderne und Postmoderne zusammen, so können wir sagen, daß prämodernes Denken getragen wird von der Idee der Offenbarung, modernes Denken von der Idee der einheitsstiftenden Vernunft, postmodernes Denken von der Idee des radikalen Relativismus, der alles ernstnimmt, was auf dem Markt der Ideen zu finden ist.



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