2.1 Einleitung: Grundsätzliches zur Bildung von Idealtypen


Die Literatur zur „Neuen Unübersichtlichkeit" repräsentiert - wie bereits ausgeführt - eben jene Unübersichtlichkeit, die sie zu beschreiben vorgibt.  Dies mag nicht stören, wenn man Postmoderne zum Partythema erkoren hat, wenn man nett und unverbindlich zu vorgerückter Stunde miteinander plaudern will - eine wissenschaftlich befriedigende, ergebnisorientierte Untersuchung des Phänomens oder der Phänomene, die wir dem Begriff Postmoderne zuordnen können oder sollten, ist aber unter dieser Voraussetzung schwierig.
Max WEBER hat mit seinen Ausführungen zum Begriff des „Idealtypus" den Weg gewiesen, der uns - wenn wir ihn konsequent zu gehen gewillt sind - potentiell in die Lage versetzen könnte, die Unübersichtlichkeiten auf der Erscheinungsebene theoretisch besser zu bewältigen.
WEBER zufolge wird der Idealtypus gewonnen durch

„einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie..."

In dieser kurzen Formulierung finden wir bereits das für viele so Problematische an WEBERs Kategorie des „Idealtypus": Wenn der „Idealtypus" ein Gedankengebilde darstellt ohne feste empirische Basis, wie läßt sich der wissenschaftliche Wert dieses Gedankengebildes messen? WEBER antwortet:

„[...]ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden; es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. Nicht als Ziel, sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht."

Die metatheoretische Position, von der WEBER in seiner Bestimmung des Idealtypus ausgeht, kann man durchaus als „konstruktivistisch/agnostizistisch" beschreiben. WEBER glaubt nicht, daß die Sozialwissenschaften die Realität abbilden können, wie sie „an sich" ist, sondern daß sie allenfalls in der Lage sind, Gedankengebilde zu konstruieren, die theoretisch/praktisch von Nutzen sind. Fazit: Der spezifische Wert einer Idealtypenbildung kann nicht bestimmt werden durch den Vergleich mit der „Realität", sondern allein durch den Nutzwert, den sie verspricht.
Demnach ist die Konstruktion spezifischer Idealtypen abhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse. Dies wird auch deutlich, wenn wir an diesem Punkt moderne mit postmodernen Arbeiten vergleichen: Wie bereits angedeutet, kann davon ausgegangen werden, daß die Bildung abstrakter Idealtypen, also die Konstruktion vereinheitlichender Gedankengebilde, dem modernen, auf Einheit ausgerichteten Erkenntnisinteresse eher entspricht als dem postmodernen „Willen zur Differenz". Es ist evident: Postmoderne TheoretikerInnen müssen der Bildung abstrakter Idealtypen höchst skeptisch gegenüberstehen, wittern sie hier doch die befürchteten Einheitsobsessionen, die auf nichts anderes als auf die Vernichtung realer Vielfalt ausgerichtet sind. (Allerdings sind auch postmoderne Beschreibungen der Realität von Idealtypenbildungen - wenn auch negativ-systematischer Art - geprägt, denn selbstverständlich bilden auch postmoderne Theorien der Wirklichkeit diese nicht ab, wie sie „an sich" ist, sondern ordnen angenommene Wirklichkeitsaspekte den spezifischen Mustern postmoderner Gedankengebilde zu, deren Einheitlichkeit in der Betonung der Vielfalt liegt. )
Der Unterschied zwischen moderner und postmoderner Idealtypenbildung liegt demzufolge darin, daß im modernen Kontext tendenziell höhere (positive) Abstraktions- ( = Vielfaltsreduktions-) Grade bezüglich der Idealtypenbildung akzeptiert werden können.
Die vorliegende Untersuchung, die durch das Spannungsverhältnis von Moderne und Postmoderne geprägt ist, nähert sich der Frage des erlaubten Abstraktions- (Reduktions-) Grades pragmatisch: Hohe Abstraktionsgrade sind dann legitimiert, wenn ihre Erkenntnis-Kosten/Nutzen-Bilanzen positiv ausfallen. Das heißt: Auch wenn die Einwände gegenüber hoch-abstrakter Idealtypenbildung ernstgenommen werden müssen (selbstverständlich: je höher der Abstraktionsgrad ist, desto größer ist die Eliminierung von Unterschieden (und damit auch die Eliminierung von Information )), so dürfen wir nicht vergessen, daß hochgradige Abstraktionen häufig einen überaus großen Erkenntnisgewinn versprechen. Eine Analyse, die durch hochgradig abstrakte Idealtypen geprägt ist, ermöglicht nämlich einen distanzierteren, umfassenderen Blickwinkel. Der entstehende Verlust an Detailgenauigkeit wird im besten Falle aufgehoben durch einen geschärfteren Blick für den größeren Zusammenhang. Blicken wir aus einem in größerer Höhe fliegenden Flugzeug, so können wir zwar nicht erkennen, ob Baum X kranker ist als Baum Y, wir sehen aber möglicherweise, daß der gesamte Wald ökologisch bedroht ist. Eine nicht unerhebliche Erweiterung des Erkenntnishorizonts.
Die in dieser Arbeit unternommene idealtypische Beschreibung der Postmoderne (die in Abgrenzung zu den gleichermaßen abstrakten Idealtypen der Prämoderne und der Moderne geschehen wird) befindet sich auf solch hohem Abstraktionsniveau. Sie argumentiert aus der Vogel-, möglicherweise sogar aus der Satellitenperspektive. Viele Details, gravierende Unterschiede zwischen einzelnen Positionen, werden mit Absicht übersehen (vgl. hierzu meine Ausführungen zur „Technik des Eindampfens" in der Einleitung). Die einzige Entschuldigung, die ich für die damit einhergehende „Entdifferenzierung der Betrachtungsweise" habe, ist die Hoffnung, nein: die Überzeugung, daß im Zuge der dadurch entstehenden „Neuen Übersichtlichkeit" Wesentliches zutage gefördert wird, das im Kontext postmoderner, aber auch traditionell-wissenschaftlicher Differenzierungsgier unerkannt bleiben muß.


2.2 Über Störenfriede, Ideensprünge und Dampfmaschinen: Ein notwendiger Exkurs zur merkwürdigen Dialektik von Sein und Bewußtsein

2.2.1 Zum Verhältnis von Agnostizismus, Materialismus und Idealismus


WEBERs Konzeption des Idealtypus wurde von verschiedener Seite kritisiert.  Besonders scharf waren die Angriffe von seiten derer, die materialistische Ansätze vertreten. Im „Marxistisch-Leninistischen Wörterbuch der Philosophie" z.B. wird der Begriff des Idealtypus als Signum einer „mystisch-irrationalistisch verbrämten Gesellschaftskonzeption" verstanden und mit der - aus materialistischer Sicht - schlimmstmöglichen Etikettierung versehen: „... agnostizistisch, idealistisch und reaktionär..."  Diese besondere Form der Reihung ist nicht zufällig, denn hier wird eine eindeutig lineare Kausalverknüpfung unterstellt, und zwar in dem Sinne: agnostizistisch und deshalb idealistisch, idealistisch und deshalb reaktionär.
Da diese vermeintliche Gleichung (agnostizistisch = idealistisch = reaktionär (bzw. ?naiv" oder ?rückschrittlich")) nicht nur im Kontext des orthodoxen Marxismus/Leninismus Geltung beansprucht , scheint eine Vorabklärung des Verhältnisses Agnostizismus/Idealismus/Materialismus unumgänglich:

a) zum Begriff ?Agnostizismus":


Der Begriff „Agnostizismus" kennzeichnet Lehren, die den epistemologischen Standpunkt vertreten, daß die Erkenntnis des Wesens eines speziellen Gegenstandes oder generell die Erkenntnis des Wesens der objektiven Wirklichkeit prinzipiell unmöglich ist. Die Quintessenz des Agnostizismus, der eine sehr reichhaltige, philosophische Tradition darstellt , läßt sich, wie ich an anderer Stelle einmal formulierte, „in einem einzigen Satz ausdrücken, den zu beherzigen erste WeltbürgerInnen-Pflicht sein sollte: Wir können die Welt nicht wahrnehmen, wie sie losgelöst von unserer Wahrnehmung existiert."
Der Zugang zur olympischen Perspektive, zur Erkenntnis der Dinge, wie sie ?an sich" existieren, bleibt - dem agnostizistischen Ansatz zufolge - verschlossen. Das heißt: Wir können nur über unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit berichten, diese Vorstellungen aber nicht an der Wirklichkeit messen, so wie sie losgelöst von unseren Vorstellungen existieren mag. Dies ist der Grund, warum sich AgnostizistInnen weigern, Aussagen über das Wesen der Dinge zu machen. Sie sehen sich, - wie ich meine: aus guten Gründen - dazu nicht berechtigt.

b) zum Begriff ?Idealismus":


Der Begriff „Idealismus" kennzeichnet philosophische Strömungen, die davon ausgehen, daß Ideen gegenüber der Materie das in letzter Instanz Bestimmende, Entscheidende seien. Idealistische Vorstellungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie vom Primat des Geistes, des Bewußtseins, des Psychischen usw. ausgehen und Materie als bloß sekundäre Erscheinung ansehen.
 

c) zum Begriff ?Materialismus":


Der Begriff ?Materialismus" bezeichnet philosophische Strömungen, die in der Materie das in letzter Instanz Bestimmende, Entscheidende sehen. Materialistische Vorstellungen gehen aus vom Primat der sozio-ökonomischen Verhältnisse, der dinglich-materiellen Lebenssituation. Ideen haben aus materialistischer Sicht nur den Charakter von Epiphänomenen.

d) Zusammenführung


Die enge Verbindung, die immer wieder zwischen Agnostizismus und Idealismus hergestellt wird, ist wohl wesentlich darauf zurückzuführen, daß man unterstellt, daß jemand, der glaubt, daß er nur Vorstellungen (= Ideen) von der Wirklichkeit haben kann (= Agnostizismus), notwendigerweise auch glauben muß, daß die Wirklichkeit durch die Entstehung und Entwicklung von Ideen bestimmt sei (= Idealismus).
Was hier auf den ersten Blick so einleuchtend klingen mag, ist in Wahrheit jedoch auf eine unzulässige Vermischung der Theorie-Ebenen zurückzuführen, denn natürlich kann man im Sinne des Agnostizismus abstrakt davon ausgehen, daß „die Wirklichkeit" eine individuelle Konstruktion ist, und gleichermaßen auf praktischerer Ebene innerhalb der eigenen Weltkonstruktion den materiellen Bedingungen bestimmendes Gewicht einräumen (= Materialismus). Mit anderen Worten: Man kann - ohne jeglichen theoretischen Widerspruch - zugleich Agnostiker UND Materialist sein. Der bedeutsame Unterschied zwischen einem agnostischen und einem gnostischen Materialisten besteht im wesentlichen darin, daß der agnostische Materialist im Gegensatz zum Letzteren seinen Materialismus nicht als unanfechtbare Wahrheit, sondern als eine bloße Arbeitshypothese begreift, die er ohne größere Probleme fallenlassen kann, wenn bessere Erklärungsmöglichkeiten bereitstehen.
Fazit: Der radikale Gegensatz zwischen Agnostizismus und Materialismus ist ein Scheingegensatz, der allerdings - dies muß eingestanden werden - dadurch genährt wird, daß agnostizistische Positionen meist im idealistischen Kontext erfolgten. Dennoch: Agnostizistische Argumentation ist nicht per se idealistisch. Dies gilt auch für die vorliegende Untersuchung, die zwar agnostizistisch, aber keineswegs idealistisch ausgerichtet ist.


2.2.2 Sein oder Bewußtsein?, ist das hier die Frage? Eine Perspektive jenseits von Materialismus und Idealismus


Der Idealismusvorwurf wird dennoch erhoben werden. Wahrscheinlich jedoch aus anderem Grund, und zwar, weil ich (ab Kapitel 2.3) Prämoderne, Moderne und Postmoderne als idealtypische, gesellschaftsprägende Denksysteme beschreiben werde, die in der Ideengeschichte immer wiederkehren. Unkritische MaterialistInnen finden hier gleich zwei Schlüsselreize, die sie - quasi im Reflex - zu „kritischen Rundumschlägen" nötigen werden: Zum einen wird hier die Bedeutung von Denksystemen (Ideen) betont, zum anderen wird die Erkenntnis der historischen Determiniertheit von Vorstellungen scheinbar völlig ignoriert. Der Idealismus-Vorwurf liegt - das gebe ich zu - nahe. Ich hoffe aber, ihn mit den folgenden Ausführungen plausibel entkräften zu können.

Zunächst zur Frage der historischen Determiniertheit: Die Einschätzung, daß postmodernes Gedankengut keine einmalige, nur in unserer Gesellschaft auftretende Erscheinung ist, ist beileibe keine revolutionär neue Erkenntnis. LYOTARD z.B. verwies bereits vor Jahren darauf, ausgerechnet in dem alten Griechen ARISTOTELES den geistigen Urahnen des Postmodernen gefunden zu haben.  Und tatsächlich: Ein unvoreingenommener Blick in die Philosophiegeschichte lehrt uns, daß radikale Pluralisten bereits in der Antike für Unruhe sorgten.  Nach allem was wir von ihr wissen, war die Philosophie des SEXTUS EMPIRICUS z.B. von einem so radikalem Pluralismus, einem so konsequenten „Anything goes"- Prinzip geprägt, daß viele heutige, postmoderne Philosophien dem kaum nachfolgen können.
Wir sehen hieran, daß die Begriffe Prämoderne, Moderne und Postmoderne nicht gerade unproblematisch sind. Die Präfixe implizieren eine lineare zeitliche Abfolge, die - wie es scheint - kaum aufrecht erhalten werden kann. Oder vielleicht doch?
Es ist hilfreich, hier die Doppeldeutigkeit des Begriffs „Postmoderne" wieder ins Gedächtnis zu rufen: Der Begriff „Postmoderne" kennzeichnet - wie wir in Kapitel 1.2 feststellten - einerseits ein bestimmtes Realitätsmerkmal, also eine bestimmte Struktur der Verhältnisse, andererseits eine bestimmte Denkungsart, also eine bestimmte Einstellung zu dieser Struktur der Verhältnisse.  Die gleiche Doppeldeutigkeit zeichnet auch die Begriffe Prämoderne und Moderne aus.
Hieraus können wir folgern: Es kann zwar möglicherweise eine mehr oder weniger lineare , gesamtgesellschaftliche Entwicklung von der Prämoderne über die Moderne zur Postmoderne gegeben haben, das schließt jedoch nicht aus, daß es immer wieder Störenfriede gab, die dem Trend ihrer Zeit nicht angepaßt waren, die etwas dachten, was entweder längst vergangenen oder noch nicht eingetroffenen Zeiten entsprach. Es gab (bzw. gibt) also postmodern Denkende in Prämoderne und Moderne, modern Denkende in Prä- und Postmoderne, prämodern Denkende in Moderne und Postmoderne. Wir müssen also unterscheiden zwischen dem jeweils historisch geltenden, gesellschaftlichen Megatrend und den individuellen Anschauungen, die von diesem Trend radikal abweichen können.
Hieran schließen sich zwei Fragen an:
1. Wie kommt es, daß einzelne Menschen auf eine Art und Weise denken, die dem gesellschaftlichen Trend ihrer Zeit so gar nicht entsprechen will?
2. Wodurch werden Ideen zu Megatrends und damit zu gesellschaftsprägenden Kräften?

Ad 1) Systemischer Kontextualismus oder: Warum auch der Störenfried nur das wollen kann, was er wollen muß


Zur Klärung der unter Punkt 1 aufgeführten Frage müssen wir nicht die idealistische Vorstellung einer Willens- und Gedankenfreiheit herbeibemühen. Wir können MARXens Auffassung teilen, daß der Mensch - auch der Störenfried - „kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen" ist.  Allerdings müssen wir hinzufügen, daß die Vorstellung von „der Welt des Menschen" aus einer hochgradig distanzierten Betrachtung gewonnen wird, die eine Eliminierung von Unterschieden notwendigerweise zur Folge hat. Wenn wir die Unterschiede von Menschen erfassen wollen (und nur so können wir die Existenz von Störenfrieden erklären), müssen wir näher an das konkrete Leben herangehen. Dabei werden wir feststellen, daß die Welten von Menschen, die zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, vielleicht sogar in der gleichen Familie leben, höchst unterschiedlich aussehen können, selbst wenn ihre Stellung zu den Produktivkräften absolut identisch ist. (Der vulgär-marxistische, ökonomische Überdeterminismus hilft uns daher nicht zu verstehen, warum Person A dem Trend ihrer Zeit entspricht, während B zum Sonderling und Störenfried wird. Gewiß spielt die „ökonomische Lebenssituation" eine zentrale Rolle im Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung. Aber wir müssen uns verdeutlichen, daß auch der Begriff „ökonomische Lebenssituation", der den Begriff „Welt des Menschen" konkretisieren soll, höchst problematisch ist, denn zum einen blendet er die nicht-ökonomischen Faktoren aus, zum anderen stellt er selbst eine extrem hochgradige Abstraktion dar, die möglicherweise mehr Informationen verdeckt, als sie uns verschafft. )
Wenn wir nun aus heuristischen Gründen an dieser Stelle von hochgradigen Abstraktionen absehen und das konkretisieren, was im Prozeß der Sozialisation abläuft, so erhalten wir ein wesentlich komplexeres Bild, daß die Unterschiedlichkeit von Menschen besser erklärt, weil es eben diese Unterschiedlichkeit fokussiert. Ein solches Bild berücksichtigt „neben der genetischen Ausstattung des Individuums, neben dem Verhalten von Eltern, Großeltern, Geschwistern, Nachbarskindern, Freunden, Freundinnen, neben der Klassen- oder Schichtherkunft möglicherweise auch folgende Faktoren: die Musik, die man hörte (oder nicht hörte), die Fernsehsendungen, die man sah (oder nicht sah), die langen Unterhosen, die man im Winter anziehen mußte und die so fürchterlich kratzten, die Brandung des Meeres, der man lauschen durfte, der Anblick des Kindes, das im Schwimmbad von seinem Vater geschlagen wurde, der Sauerbraten von Tante Erna und die in der Geschichtsstunde vermittelte Erfahrung der Judenverfolgung, die Lyrik Brechts und die Tanzschritte von Michael Jackson, der Geschmack von Hustenbonbons; das Durchleben von Masern, und Röteln ebenso wie der erste Kuß, der erste Orgasmus, die schmachvolle Niederlage des Lieblingsvereins im DFB-Pokal, die durchzechten Nächte nach dem Verlust der ersten Liebe, die verlorenen Brillen, Feuerzeuge, Illusionen und Wünsche, und nicht zu vergessen: die übertünchten Akne-Pickel, die kunstvoll konservierten Haarfrisuren und die Sonderbriefmarke der Bundespost zum Tag der Deutschen Einheit usw."

Dieses komplexere, auf Differenz ausgerichtete Bild vom Menschen geht davon aus, daß bei der Persönlichkeitsentwicklung jedes Individuums Abermilliarden determinierender, untereinander höchst komplex vernetzter Faktoren beteiligt sind. Und dieses undurchschaubare Faktorennetz, das man nicht eindimsensional (zum Beispiel unter ökonomischen Gesichtspunkten) beschreiben kann, ist von Mensch zu Mensch hochgradig verschieden. In der hier angedeuteten Sichtweise, die ich mit dem Begriff „systemischer Kontextualismus" kennzeichne, wird die Individualität menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen (und damit die Existenz von Sonderlingen) daher nicht erklärt durch Zuhilfenahme des idealistischen Konzepts vom freien Willen. Sie versteht den Menschen vielmehr als „Teil eines hochkomplexen, chaotisch-deterministischen Gesamtsystems, innerhalb dessen er selbstorganisierend agiert. Dabei ist das Prinzip der Selbstorganisation nicht mit dem Prinzip der inneren Freiheit zu verwechseln. Die menschliche Selbstorganisation ist nicht frei, beliebig und unbegründet, sondern bestimmt durch die Geschichte der strukturellen Kopplungen, die das Individuum durchlebt hat. Die Einzigartigkeit der individuellen Geschichte struktureller Kopplungen bedingt dabei die Einzigartigkeit jedes menschlichen Individuums. Jeder Mensch [auch der Sonderling!] lebt in seiner Welt, die er nicht beliebig konstruiert hat, sondern die das notwendige Resultat seiner geschichtlichen Erfahrungen ist."

Fazit:

 „Wir können nicht wollen, was wir wollen, sondern wollen das, was wir aufgrund unserer Erfahrungen wollen müssen."

Wir werden weiter unten sehen, daß die hier vorgenommene - und vor allem in Kapitel 7.2.3 näher erläuterte Aufhebung des Willensfreiheitspostulats - eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte Aufhebung des Gegensatzes von Idealismus und Materialismus ist.

Ad 2) Dampfmaschinen-Romantik oder: warum Idee und Materie niemals isoliert voneinander betrachtet werden können


Von Victor HUGO stammt der Ausspruch, daß nichts so gewaltig wirke, wie eine Idee, deren Zeit gekommen sei. Was ist damit gemeint? Wann ist für eine Idee „die Zeit gekommen", das heißt: wann ist sie reif für eine gesellschaftliche Umsetzung?
Eine befriedigende Antwort auf diese Fragen fällt ebenso schwer, wie die Beantwortung der oben gestellten Frage, wie ein Mensch zu dem wird, was er ist. Selbstverständlich sind auch hier Abermilliarden determinierender, untereinander vernetzter Faktoren beteiligt.
Die Konstruktion hochgradiger Abstraktionen, die angesichts dieser Komplexität Übersicht verschaffen können, ist erlaubt, wenn man im Auge behält, daß diese Übersicht allein auf die Eliminierung von Unterschieden, also die Eliminierung von Information, zurückzuführen ist.
Auf eine solch hilfreiche, hochgradige Abstraktion treffen wir in Rolf SCHWENDTERs Analysen zur Geschichte bzw. Zeitgeschichte der Zukunft.  SCHWENDTER unterteilt die Zeit von 1793 bis 1989 - Ernest MANDEL folgend - in acht Akkumulationszyklen des Kapitals:

1. Aufsteigender Dampfmaschinenzyklus (1793-1825)
2. Absteigender Dampfmaschinenzyklus (1826-1847)
3. Aufsteigender Eisenbahnzyklus (1848-1873)
4. Absteigender Eisenbahnzyklus (1874-1893)
5. Aufsteigender Imperialismuszyklus (1894-1913)
6. Absteigender Imperialismuszyklus (1914-1939)
7. Aufsteigender Elektronikzyklus (1940-1966)
8. Absteigender Elektronikzyklus 1967-1989)

Jeder dieser Akkumulationszyklen zeichnet sich durch eine spezifische „Haupttonalität" aus, die sich in einer bestimmten Entwicklungbestrebung des Kapitals äußert, was wiederum politische und ideologische Folgen hat. Dies sei am Beispiel des „aufsteigenden Dampfmaschinenzyklus" demonstriert : Die Jahre 1793-1825 zeichnen sich durch eine steigende Profitrate und raschen, industriellen Fortschritt aus. Basisinnovationen sind: Kokshochofen (1796), Herstellung von Elektrizität (1800), Tiegelgußstahl (1811), Bleikammerverfahren (1819), Chininherstellung (1820), gewalzter Draht (1820), isolierte Stromleitung (1820), Lokomotive (1824), Portlandzement (1824).
Folge des industriellen Fortschritts:

„ [...] nie wurde optimistischer vom Menschen und seinen Möglichkeiten gedacht - „Fortschritt der menschlichen Sitten zur Vollkommenheit" (Turgot), „schrittweiser Fortschritt der menschlichen Vernunft" (Condocret), „Fortschritt der Moral" (Voltaire), „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" (Hegel), „Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit" (Kant)."

Allerdings hat der industrielle Fortschritt nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer. Die Lage des Proletariats verschlechtert sich zunehmend. Ähnlich ergeht es verschiedenen Gruppen des Kleinbürgertums. Selbst die Aristokratie ist negativ betroffen, ist die bürgerliche Aufwärtsbewegung doch mit einem Machtverlust auf der Seite des Adels verbunden. Hieraus ergeben sich verschiedene Formen der „Negation der Haupttonalität" (SCHWENDTER), u.a. die proletarische Opposition BABEUFs, die aristokratische Opposition von MALTHUS, den utopischen Sozialismus FOURIERs und die Opposition der Romantiker wider die aufkommende Epoche des Industrialismus (nach SCHWENDTER handelt es sich hier um eine Opposition, die im Umkreis des Kleinbürgertums entsteht).
Schauen wir uns die Zeitgeist-Strömung der Romantik genauer an: Wir können die Entstehung der Romantik nicht nur als negative Reaktion auf die zunehmende Industrialisierung verstehen, sondern auch ihr Scheitern als gesellschaftsprägende Leitidee aus den damit nicht zusammengehenden sozio-ökonomischen Verhältnissen nachvollziehen. Die romantische Beseelung der Dinge war Ausdruck einer recht hilflosen Rebellion gegen die fortschreitende, industrielle Verdinglichung der Seelen, ein notwendigerweise zum Scheitern verurteilter Versuch, die modern-kapitalistische „Trennung von Kopf- und Handarbeit, von Produktions- und Privatsphäre, von Kindheit und „erwachsenem" Dasein, von Individuum und Gemeinschaft [...] aufzuhalten und aufzuheben".
Wir sehen: Die Romantiker waren im Kern durchaus antikapitalistisch, aber sie empfanden - ausgehend von einer rückwärtsgewandten Utopie - das als schmerzhaft, was die nach vorne gerichteten MARX und ENGELS als revolutionäre Kraft der Bourgeoisie mehr oder weniger priesen:

„Die Bourgeoisie [...] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tausch-wert aufgelöst, und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die Eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.[...] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."

Das Scheitern der Romantiker ist ein gutes Beispiel dafür, daß Ideen nur dann gesellschaftliche Macht erlangen können, wenn ihre Umsetzung innerhalb der sich entwickelnden ökonomischen Verhältnisse Sinn macht.  Dies bedeutet nicht, daß das gesellschaftliche Sein, die Materie, generell das in letzter Instanz Bestimmende sei. Dieser Eindruck entsteht nur, wenn wir die Frage der Entwicklung und Durchsetzung von Ideen fokussieren.
Fragen wir uns hingegen umgekehrt, wodurch das gesellschaftliche Sein geprägt wird, so gerät plötzlich die Macht der Gedanken/Ideen in den Blickpunkt. So gelang es Max WEBER, die Entstehungszusammenhänge des modernen Kapitalismus aus einer vom Akzent her eher idealistischen Perspektive heraus plausibel zu erklären.  WEBER konnte aufzeigen, daß die asketische Lebensführung im Kontext des Calvinismus entscheidenden Einfluß auf die Entstehung des modernen Kapitalismus hatte. Die protestantische Ethik entsprach im besonderem Maße dem Geist des modernen Kapitalismus. Sie machte den Beruf zum Selbstzweck, zur Berufung (Prädestinationslehre!) und war durch das asketische Ideal eine hervorragende Grundlage für die im Kapitalismus notwendig werdende rationale Arbeitsorganisation und Kapitalverwertung. So war es auch kein Wunder, daß WEBER auf die empirische Tatsache verweisen konnte, daß die rational-legal ausgerichteten Protestanten im Ausgang des 19. Jahrhunderts ökonomisch erfolgreicher waren als ihre stärker prämodern geprägten, katholischen GlaubensgenossInnen.
Was schließen wir aus diesen Ausführungen? Doch wohl nur eines, nämlich daß es vernünftig ist, davon auszugehen, daß Idee und Materie niemals isoliert voneinander betrachtet werden können, weil sie notwendigerweise in einem ständigem, unaufhebbaren Wechselwirkungsverhältnis stehen. Hier zu entscheiden, was das eigentlich Bestimmende sei, ist ebenso unmöglich, wie es unmöglich ist, zu klären, ob zuerst die Henne oder das Ei da war. Sein oder Bewußtsein?, das ist eben nicht die Frage, die wir uns zu stellen haben. Die Welt des menschlichen Geistes und die Welt der menschlichen Lebensverhältnisse sind zwei einander notwendig bedingende Aspekte ein und desselben Prozesses. Dies wird übrigens bereits am MARXschen Begriff der Produktivkräfte deutlich, der sowohl die natürlichen und dinglichen Ressourcen (Materie) als auch das jeweils entwickelte, menschliche Wissen (Ideen) umfaßt.

Fazit


Wir müssen versuchen, eine Perspektive jenseits von Materialismus und Idealismus zu entwickeln. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Synthese beider Denksysteme nur unter der Voraussetzung möglich ist, daß zuvor die Idee der Willensfreiheit radikal dekonstruiert wurde. Die Gegenübersetzung der Scheinalternativen Idealismus und Materialismus erhält nämlich ihre eigentliche Brisanz dadurch, daß hierbei meist unterschwellig der Gegensatz zwischen Freiheit und Determinismus mitschwingt.
Während MaterialistInnen stets von einem - wie auch immer gearteten - kausal-deterministischen Zusammenhang aller Erscheinungen ausgingen, wurde im Kontext des Idealismus immer wieder der angebliche Indeterminismus des menschlichen Willens und - damit zusammenhängend - der menschlichen Ideenproduktion betont. Dies führte dazu, daß man die Theorie der Willensfreiheit eigentlich nur noch kritisieren konnte, wenn man die gesellschaftliche Bedeutung von Ideen im materialistischen Sinne gering schätzte. Umgekehrt mußte man, wenn man Ideen gesellschaftsprägende Bedeutung zukommenließ, sich beinahe notgedrungen mit der Theorie der Willensfreiheit anfreunden. Der Grund für diese Vermischung war die von vielen Philosophen geteilte Einschätzung, daß im Bereich der Ideen das Prinzip der Kausalität, das im Bereich der Materie herrscht, nicht gelte.
Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß diese Unterscheidung/Zuordnung theoretisch wie praktisch nicht sinnvoll ist und nahegelegt, sie und die damit verbundene Vorstellung von der menschlichen Willensfreiheit radikal fallenzulassen.
Wichtig in dem hier diskutierten Zusammenhang: Die radikale Dekonstruktion der Willensfreiheitslehre im Sinne des oben angedeuteten „systemischen Kontextualismus" ist die notwendige Grundlage für eine gelingende Aufhebung der philosophischen Sackgassen Materialismus und Idealismus. Die hier vertretene scharfe Ablehnung der Idee der Willensfreiheit ist also nicht das Resultat eines naiven Materialismus.

Nach diesen - notwendigerweise verkürzten - Darlegungen zum Problem des Verhältnisses von Materialismus und Idealismus liegt eine Konsequenz für die vorliegende Untersuchung auf der Hand: Wenn im folgenden Prämoderne, Moderne und Postmoderne als Denksysteme mit mitunter gesellschaftsprägender Bedeutung geschildert werden, so werden stets die sozio-ökonomischen Strukturen mitbedacht, die zur Entstehung dieser Denksysteme beitragen und die die mögliche Implementierung der aus ihnen entstehenden normativen Regelungen mitsteuern. Die jeweiligen, gesellschaftlichen Selektionsdrücke werden keinesfalls unter den Teppich gekehrt: Es ist leicht einsichtig, daß der Feudalismus eine Affinität zu prämodernen Denkmustern entwickelte, der am Bürgertum orientierte Frühkapitalismus zu modernen Auffassungen tendierte und der blühende Spätkapitalismus postmodernes Denken hervorbringen mußte.  Die aufgeführten Denkungsarten entfalten in den jeweiligen Systemen nicht zu unterschätzende, systemstabilisierende Kraft.

 

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