Die Literatur zur Neuen Unübersichtlichkeit" repräsentiert - wie bereits
ausgeführt - eben jene Unübersichtlichkeit, die sie zu beschreiben vorgibt. Dies
mag nicht stören, wenn man Postmoderne zum Partythema erkoren hat, wenn man nett und
unverbindlich zu vorgerückter Stunde miteinander plaudern will - eine wissenschaftlich
befriedigende, ergebnisorientierte Untersuchung des Phänomens oder der Phänomene, die
wir dem Begriff Postmoderne zuordnen können oder sollten, ist aber unter dieser
Voraussetzung schwierig.
Max WEBER hat mit seinen Ausführungen zum Begriff des Idealtypus" den Weg
gewiesen, der uns - wenn wir ihn konsequent zu gehen gewillt sind - potentiell in die Lage
versetzen könnte, die Unübersichtlichkeiten auf der Erscheinungsebene theoretisch besser
zu bewältigen.
WEBER zufolge wird der Idealtypus gewonnen durch
einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß
einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht,
vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten
fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde. In seiner begrifflichen Reinheit
ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine
Utopie..."
In dieser kurzen Formulierung finden wir bereits das für viele so Problematische an
WEBERs Kategorie des Idealtypus": Wenn der Idealtypus" ein
Gedankengebilde darstellt ohne feste empirische Basis, wie läßt sich der
wissenschaftliche Wert dieses Gedankengebildes messen? WEBER antwortet:
[...]ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare
Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden; es gibt auch hier nur
einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in
ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung. Nicht als Ziel,
sondern als Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht."
Die metatheoretische Position, von der WEBER in seiner Bestimmung des Idealtypus ausgeht,
kann man durchaus als konstruktivistisch/agnostizistisch" beschreiben. WEBER
glaubt nicht, daß die Sozialwissenschaften die Realität abbilden können, wie sie
an sich" ist, sondern daß sie allenfalls in der Lage sind, Gedankengebilde zu
konstruieren, die theoretisch/praktisch von Nutzen sind. Fazit: Der spezifische Wert einer
Idealtypenbildung kann nicht bestimmt werden durch den Vergleich mit der
Realität", sondern allein durch den Nutzwert, den sie verspricht.
Demnach ist die Konstruktion spezifischer Idealtypen abhängig vom jeweiligen
Erkenntnisinteresse. Dies wird auch deutlich, wenn wir an diesem Punkt moderne mit
postmodernen Arbeiten vergleichen: Wie bereits angedeutet, kann davon ausgegangen werden,
daß die Bildung abstrakter Idealtypen, also die Konstruktion vereinheitlichender
Gedankengebilde, dem modernen, auf Einheit ausgerichteten Erkenntnisinteresse eher
entspricht als dem postmodernen Willen zur Differenz". Es ist evident:
Postmoderne TheoretikerInnen müssen der Bildung abstrakter Idealtypen höchst skeptisch
gegenüberstehen, wittern sie hier doch die befürchteten Einheitsobsessionen, die auf
nichts anderes als auf die Vernichtung realer Vielfalt ausgerichtet sind. (Allerdings sind
auch postmoderne Beschreibungen der Realität von Idealtypenbildungen - wenn auch
negativ-systematischer Art - geprägt, denn selbstverständlich bilden auch postmoderne
Theorien der Wirklichkeit diese nicht ab, wie sie an sich" ist, sondern ordnen
angenommene Wirklichkeitsaspekte den spezifischen Mustern postmoderner Gedankengebilde zu,
deren Einheitlichkeit in der Betonung der Vielfalt liegt. )
Der Unterschied zwischen moderner und postmoderner Idealtypenbildung liegt demzufolge
darin, daß im modernen Kontext tendenziell höhere (positive) Abstraktions- ( =
Vielfaltsreduktions-) Grade bezüglich der Idealtypenbildung akzeptiert werden können.
Die vorliegende Untersuchung, die durch das Spannungsverhältnis von Moderne und
Postmoderne geprägt ist, nähert sich der Frage des erlaubten Abstraktions- (Reduktions-)
Grades pragmatisch: Hohe Abstraktionsgrade sind dann legitimiert, wenn ihre
Erkenntnis-Kosten/Nutzen-Bilanzen positiv ausfallen. Das heißt: Auch wenn die Einwände
gegenüber hoch-abstrakter Idealtypenbildung ernstgenommen werden müssen
(selbstverständlich: je höher der Abstraktionsgrad ist, desto größer ist die
Eliminierung von Unterschieden (und damit auch die Eliminierung von Information )), so
dürfen wir nicht vergessen, daß hochgradige Abstraktionen häufig einen überaus großen
Erkenntnisgewinn versprechen. Eine Analyse, die durch hochgradig abstrakte Idealtypen
geprägt ist, ermöglicht nämlich einen distanzierteren, umfassenderen Blickwinkel. Der
entstehende Verlust an Detailgenauigkeit wird im besten Falle aufgehoben durch einen
geschärfteren Blick für den größeren Zusammenhang. Blicken wir aus einem in größerer
Höhe fliegenden Flugzeug, so können wir zwar nicht erkennen, ob Baum X kranker ist als
Baum Y, wir sehen aber möglicherweise, daß der gesamte Wald ökologisch bedroht ist.
Eine nicht unerhebliche Erweiterung des Erkenntnishorizonts.
Die in dieser Arbeit unternommene idealtypische Beschreibung der Postmoderne (die in
Abgrenzung zu den gleichermaßen abstrakten Idealtypen der Prämoderne und der Moderne
geschehen wird) befindet sich auf solch hohem Abstraktionsniveau. Sie argumentiert aus der
Vogel-, möglicherweise sogar aus der Satellitenperspektive. Viele Details, gravierende
Unterschiede zwischen einzelnen Positionen, werden mit Absicht übersehen (vgl. hierzu
meine Ausführungen zur Technik des Eindampfens" in der Einleitung). Die
einzige Entschuldigung, die ich für die damit einhergehende Entdifferenzierung der
Betrachtungsweise" habe, ist die Hoffnung, nein: die Überzeugung, daß im Zuge der
dadurch entstehenden Neuen Übersichtlichkeit" Wesentliches zutage gefördert
wird, das im Kontext postmoderner, aber auch traditionell-wissenschaftlicher
Differenzierungsgier unerkannt bleiben muß.
WEBERs Konzeption des Idealtypus wurde von verschiedener Seite kritisiert. Besonders
scharf waren die Angriffe von seiten derer, die materialistische Ansätze vertreten. Im
Marxistisch-Leninistischen Wörterbuch der Philosophie" z.B. wird der Begriff
des Idealtypus als Signum einer mystisch-irrationalistisch verbrämten
Gesellschaftskonzeption" verstanden und mit der - aus materialistischer Sicht -
schlimmstmöglichen Etikettierung versehen: ... agnostizistisch, idealistisch und
reaktionär..." Diese besondere Form der Reihung ist nicht zufällig, denn hier
wird eine eindeutig lineare Kausalverknüpfung unterstellt, und zwar in dem Sinne:
agnostizistisch und deshalb idealistisch, idealistisch und deshalb reaktionär.
Da diese vermeintliche Gleichung (agnostizistisch = idealistisch = reaktionär (bzw. ?naiv" oder ?rückschrittlich")) nicht nur im Kontext des orthodoxen Marxismus/Leninismus Geltung beansprucht , scheint eine Vorabklärung des Verhältnisses Agnostizismus/Idealismus/Materialismus unumgänglich:
Der Begriff Agnostizismus" kennzeichnet Lehren, die den epistemologischen
Standpunkt vertreten, daß die Erkenntnis des Wesens eines speziellen Gegenstandes oder
generell die Erkenntnis des Wesens der objektiven Wirklichkeit prinzipiell unmöglich ist.
Die Quintessenz des Agnostizismus, der eine sehr reichhaltige, philosophische Tradition
darstellt , läßt sich, wie ich an anderer Stelle einmal formulierte, in einem
einzigen Satz ausdrücken, den zu beherzigen erste WeltbürgerInnen-Pflicht sein sollte:
Wir können die Welt nicht wahrnehmen, wie sie losgelöst von unserer Wahrnehmung
existiert."
Der Zugang zur olympischen Perspektive, zur Erkenntnis der Dinge, wie sie ?an sich" existieren, bleibt - dem agnostizistischen Ansatz zufolge - verschlossen. Das heißt: Wir können nur über unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit berichten, diese Vorstellungen aber nicht an der Wirklichkeit messen, so wie sie losgelöst von unseren Vorstellungen existieren mag. Dies ist der Grund, warum sich AgnostizistInnen weigern, Aussagen über das Wesen der Dinge zu machen. Sie sehen sich, - wie ich meine: aus guten Gründen - dazu nicht berechtigt.
Der Begriff Idealismus" kennzeichnet philosophische Strömungen, die davon
ausgehen, daß Ideen gegenüber der Materie das in letzter Instanz Bestimmende,
Entscheidende seien. Idealistische Vorstellungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie vom
Primat des Geistes, des Bewußtseins, des Psychischen usw. ausgehen und Materie als bloß
sekundäre Erscheinung ansehen.
Der Begriff ?Materialismus" bezeichnet philosophische Strömungen, die in der Materie das in letzter Instanz Bestimmende, Entscheidende sehen. Materialistische Vorstellungen gehen aus vom Primat der sozio-ökonomischen Verhältnisse, der dinglich-materiellen Lebenssituation. Ideen haben aus materialistischer Sicht nur den Charakter von Epiphänomenen.
Die enge Verbindung, die immer wieder zwischen Agnostizismus und Idealismus hergestellt
wird, ist wohl wesentlich darauf zurückzuführen, daß man unterstellt, daß jemand, der
glaubt, daß er nur Vorstellungen (= Ideen) von der Wirklichkeit haben kann (=
Agnostizismus), notwendigerweise auch glauben muß, daß die Wirklichkeit durch die
Entstehung und Entwicklung von Ideen bestimmt sei (= Idealismus).
Was hier auf den ersten Blick so einleuchtend klingen mag, ist in Wahrheit jedoch auf eine
unzulässige Vermischung der Theorie-Ebenen zurückzuführen, denn natürlich kann man im
Sinne des Agnostizismus abstrakt davon ausgehen, daß die Wirklichkeit" eine
individuelle Konstruktion ist, und gleichermaßen auf praktischerer Ebene innerhalb der
eigenen Weltkonstruktion den materiellen Bedingungen bestimmendes Gewicht einräumen (=
Materialismus). Mit anderen Worten: Man kann - ohne jeglichen theoretischen Widerspruch -
zugleich Agnostiker UND Materialist sein. Der bedeutsame Unterschied zwischen einem
agnostischen und einem gnostischen Materialisten besteht im wesentlichen darin, daß der
agnostische Materialist im Gegensatz zum Letzteren seinen Materialismus nicht als
unanfechtbare Wahrheit, sondern als eine bloße Arbeitshypothese begreift, die er ohne
größere Probleme fallenlassen kann, wenn bessere Erklärungsmöglichkeiten bereitstehen.
Fazit: Der radikale Gegensatz zwischen Agnostizismus und Materialismus ist ein
Scheingegensatz, der allerdings - dies muß eingestanden werden - dadurch genährt wird,
daß agnostizistische Positionen meist im idealistischen Kontext erfolgten. Dennoch:
Agnostizistische Argumentation ist nicht per se idealistisch. Dies gilt auch für die
vorliegende Untersuchung, die zwar agnostizistisch, aber keineswegs idealistisch
ausgerichtet ist.
Der Idealismusvorwurf wird dennoch erhoben werden. Wahrscheinlich jedoch aus anderem
Grund, und zwar, weil ich (ab Kapitel 2.3) Prämoderne, Moderne und Postmoderne als
idealtypische, gesellschaftsprägende Denksysteme beschreiben werde, die in der
Ideengeschichte immer wiederkehren. Unkritische MaterialistInnen finden hier gleich zwei
Schlüsselreize, die sie - quasi im Reflex - zu kritischen Rundumschlägen"
nötigen werden: Zum einen wird hier die Bedeutung von Denksystemen (Ideen) betont, zum
anderen wird die Erkenntnis der historischen Determiniertheit von Vorstellungen scheinbar
völlig ignoriert. Der Idealismus-Vorwurf liegt - das gebe ich zu - nahe. Ich hoffe aber,
ihn mit den folgenden Ausführungen plausibel entkräften zu können.
Zunächst zur Frage der historischen Determiniertheit: Die Einschätzung, daß
postmodernes Gedankengut keine einmalige, nur in unserer Gesellschaft auftretende
Erscheinung ist, ist beileibe keine revolutionär neue Erkenntnis. LYOTARD z.B. verwies
bereits vor Jahren darauf, ausgerechnet in dem alten Griechen ARISTOTELES den geistigen
Urahnen des Postmodernen gefunden zu haben. Und tatsächlich: Ein unvoreingenommener
Blick in die Philosophiegeschichte lehrt uns, daß radikale Pluralisten bereits in der
Antike für Unruhe sorgten. Nach allem was wir von ihr wissen, war die Philosophie
des SEXTUS EMPIRICUS z.B. von einem so radikalem Pluralismus, einem so konsequenten
Anything goes"- Prinzip geprägt, daß viele heutige, postmoderne Philosophien
dem kaum nachfolgen können.
Wir sehen hieran, daß die Begriffe Prämoderne, Moderne und Postmoderne nicht gerade
unproblematisch sind. Die Präfixe implizieren eine lineare zeitliche Abfolge, die - wie
es scheint - kaum aufrecht erhalten werden kann. Oder vielleicht doch?
Es ist hilfreich, hier die Doppeldeutigkeit des Begriffs Postmoderne" wieder
ins Gedächtnis zu rufen: Der Begriff Postmoderne" kennzeichnet - wie wir in
Kapitel 1.2 feststellten - einerseits ein bestimmtes Realitätsmerkmal, also eine
bestimmte Struktur der Verhältnisse, andererseits eine bestimmte Denkungsart, also eine
bestimmte Einstellung zu dieser Struktur der Verhältnisse. Die gleiche
Doppeldeutigkeit zeichnet auch die Begriffe Prämoderne und Moderne aus.
Hieraus können wir folgern: Es kann zwar möglicherweise eine mehr oder weniger lineare ,
gesamtgesellschaftliche Entwicklung von der Prämoderne über die Moderne zur Postmoderne
gegeben haben, das schließt jedoch nicht aus, daß es immer wieder Störenfriede gab, die
dem Trend ihrer Zeit nicht angepaßt waren, die etwas dachten, was entweder längst
vergangenen oder noch nicht eingetroffenen Zeiten entsprach. Es gab (bzw. gibt) also
postmodern Denkende in Prämoderne und Moderne, modern Denkende in Prä- und Postmoderne,
prämodern Denkende in Moderne und Postmoderne. Wir müssen also unterscheiden zwischen
dem jeweils historisch geltenden, gesellschaftlichen Megatrend und den individuellen
Anschauungen, die von diesem Trend radikal abweichen können.
Hieran schließen sich zwei Fragen an:
1. Wie kommt es, daß einzelne Menschen auf eine Art und Weise denken, die dem
gesellschaftlichen Trend ihrer Zeit so gar nicht entsprechen will?
2. Wodurch werden Ideen zu Megatrends und damit zu gesellschaftsprägenden Kräften?
Zur Klärung der unter Punkt 1 aufgeführten Frage müssen wir nicht die idealistische
Vorstellung einer Willens- und Gedankenfreiheit herbeibemühen. Wir können MARXens
Auffassung teilen, daß der Mensch - auch der Störenfried - kein abstraktes, außer
der Welt hockendes Wesen" ist. Allerdings müssen wir hinzufügen, daß die
Vorstellung von der Welt des Menschen" aus einer hochgradig distanzierten
Betrachtung gewonnen wird, die eine Eliminierung von Unterschieden notwendigerweise zur
Folge hat. Wenn wir die Unterschiede von Menschen erfassen wollen (und nur so können wir
die Existenz von Störenfrieden erklären), müssen wir näher an das konkrete Leben
herangehen. Dabei werden wir feststellen, daß die Welten von Menschen, die zur gleichen
Zeit, am gleichen Ort, vielleicht sogar in der gleichen Familie leben, höchst
unterschiedlich aussehen können, selbst wenn ihre Stellung zu den Produktivkräften
absolut identisch ist. (Der vulgär-marxistische, ökonomische Überdeterminismus hilft
uns daher nicht zu verstehen, warum Person A dem Trend ihrer Zeit entspricht, während B
zum Sonderling und Störenfried wird. Gewiß spielt die ökonomische
Lebenssituation" eine zentrale Rolle im Prozeß der Persönlichkeitsentwicklung. Aber
wir müssen uns verdeutlichen, daß auch der Begriff ökonomische
Lebenssituation", der den Begriff Welt des Menschen" konkretisieren soll,
höchst problematisch ist, denn zum einen blendet er die nicht-ökonomischen Faktoren aus,
zum anderen stellt er selbst eine extrem hochgradige Abstraktion dar, die möglicherweise
mehr Informationen verdeckt, als sie uns verschafft. )
Wenn wir nun aus heuristischen Gründen an dieser Stelle von hochgradigen Abstraktionen
absehen und das konkretisieren, was im Prozeß der Sozialisation abläuft, so erhalten wir
ein wesentlich komplexeres Bild, daß die Unterschiedlichkeit von Menschen besser
erklärt, weil es eben diese Unterschiedlichkeit fokussiert. Ein solches Bild
berücksichtigt neben der genetischen Ausstattung des Individuums, neben dem
Verhalten von Eltern, Großeltern, Geschwistern, Nachbarskindern, Freunden, Freundinnen,
neben der Klassen- oder Schichtherkunft möglicherweise auch folgende Faktoren: die Musik,
die man hörte (oder nicht hörte), die Fernsehsendungen, die man sah (oder nicht sah),
die langen Unterhosen, die man im Winter anziehen mußte und die so fürchterlich
kratzten, die Brandung des Meeres, der man lauschen durfte, der Anblick des Kindes, das im
Schwimmbad von seinem Vater geschlagen wurde, der Sauerbraten von Tante Erna und die in
der Geschichtsstunde vermittelte Erfahrung der Judenverfolgung, die Lyrik Brechts und die
Tanzschritte von Michael Jackson, der Geschmack von Hustenbonbons; das Durchleben von
Masern, und Röteln ebenso wie der erste Kuß, der erste Orgasmus, die schmachvolle
Niederlage des Lieblingsvereins im DFB-Pokal, die durchzechten Nächte nach dem Verlust
der ersten Liebe, die verlorenen Brillen, Feuerzeuge, Illusionen und Wünsche, und nicht
zu vergessen: die übertünchten Akne-Pickel, die kunstvoll konservierten Haarfrisuren und
die Sonderbriefmarke der Bundespost zum Tag der Deutschen Einheit usw."
Dieses komplexere, auf Differenz ausgerichtete Bild vom Menschen geht davon aus, daß bei
der Persönlichkeitsentwicklung jedes Individuums Abermilliarden determinierender,
untereinander höchst komplex vernetzter Faktoren beteiligt sind. Und dieses
undurchschaubare Faktorennetz, das man nicht eindimsensional (zum Beispiel unter
ökonomischen Gesichtspunkten) beschreiben kann, ist von Mensch zu Mensch hochgradig
verschieden. In der hier angedeuteten Sichtweise, die ich mit dem Begriff
systemischer Kontextualismus" kennzeichne, wird die Individualität
menschlicher Wirklichkeitskonstruktionen (und damit die Existenz von Sonderlingen) daher
nicht erklärt durch Zuhilfenahme des idealistischen Konzepts vom freien Willen. Sie
versteht den Menschen vielmehr als Teil eines hochkomplexen,
chaotisch-deterministischen Gesamtsystems, innerhalb dessen er selbstorganisierend agiert.
Dabei ist das Prinzip der Selbstorganisation nicht mit dem Prinzip der inneren Freiheit zu
verwechseln. Die menschliche Selbstorganisation ist nicht frei, beliebig und unbegründet,
sondern bestimmt durch die Geschichte der strukturellen Kopplungen, die das Individuum
durchlebt hat. Die Einzigartigkeit der individuellen Geschichte struktureller Kopplungen
bedingt dabei die Einzigartigkeit jedes menschlichen Individuums. Jeder Mensch [auch der
Sonderling!] lebt in seiner Welt, die er nicht beliebig konstruiert hat, sondern die das
notwendige Resultat seiner geschichtlichen Erfahrungen ist."
Fazit:
Wir können nicht wollen, was wir wollen, sondern wollen das, was wir aufgrund
unserer Erfahrungen wollen müssen."
Wir werden weiter unten sehen, daß die hier vorgenommene - und vor allem in Kapitel 7.2.3
näher erläuterte Aufhebung des Willensfreiheitspostulats - eine wichtige Voraussetzung
für die angestrebte Aufhebung des Gegensatzes von Idealismus und Materialismus ist.
Von Victor HUGO stammt der Ausspruch, daß nichts so gewaltig wirke, wie eine Idee, deren
Zeit gekommen sei. Was ist damit gemeint? Wann ist für eine Idee die Zeit
gekommen", das heißt: wann ist sie reif für eine gesellschaftliche Umsetzung?
Eine befriedigende Antwort auf diese Fragen fällt ebenso schwer, wie die Beantwortung der
oben gestellten Frage, wie ein Mensch zu dem wird, was er ist. Selbstverständlich sind
auch hier Abermilliarden determinierender, untereinander vernetzter Faktoren beteiligt.
Die Konstruktion hochgradiger Abstraktionen, die angesichts dieser Komplexität Übersicht
verschaffen können, ist erlaubt, wenn man im Auge behält, daß diese Übersicht allein
auf die Eliminierung von Unterschieden, also die Eliminierung von Information,
zurückzuführen ist.
Auf eine solch hilfreiche, hochgradige Abstraktion treffen wir in Rolf SCHWENDTERs
Analysen zur Geschichte bzw. Zeitgeschichte der Zukunft. SCHWENDTER unterteilt die
Zeit von 1793 bis 1989 - Ernest MANDEL folgend - in acht Akkumulationszyklen des Kapitals:
1. Aufsteigender Dampfmaschinenzyklus (1793-1825)
2. Absteigender Dampfmaschinenzyklus (1826-1847)
3. Aufsteigender Eisenbahnzyklus (1848-1873)
4. Absteigender Eisenbahnzyklus (1874-1893)
5. Aufsteigender Imperialismuszyklus (1894-1913)
6. Absteigender Imperialismuszyklus (1914-1939)
7. Aufsteigender Elektronikzyklus (1940-1966)
8. Absteigender Elektronikzyklus 1967-1989)
Jeder dieser Akkumulationszyklen zeichnet sich durch eine spezifische
Haupttonalität" aus, die sich in einer bestimmten Entwicklungbestrebung des
Kapitals äußert, was wiederum politische und ideologische Folgen hat. Dies sei am
Beispiel des aufsteigenden Dampfmaschinenzyklus" demonstriert : Die Jahre
1793-1825 zeichnen sich durch eine steigende Profitrate und raschen, industriellen
Fortschritt aus. Basisinnovationen sind: Kokshochofen (1796), Herstellung von
Elektrizität (1800), Tiegelgußstahl (1811), Bleikammerverfahren (1819),
Chininherstellung (1820), gewalzter Draht (1820), isolierte Stromleitung (1820),
Lokomotive (1824), Portlandzement (1824).
Folge des industriellen Fortschritts:
[...] nie wurde optimistischer vom Menschen und seinen Möglichkeiten gedacht -
Fortschritt der menschlichen Sitten zur Vollkommenheit" (Turgot),
schrittweiser Fortschritt der menschlichen Vernunft" (Condocret),
Fortschritt der Moral" (Voltaire), Fortschritt im Bewußtsein der
Freiheit" (Hegel), Ausgang des Menschen aus selbstverschuldeter
Unmündigkeit" (Kant)."
Allerdings hat der industrielle Fortschritt nicht nur Gewinner, sondern auch Verlierer.
Die Lage des Proletariats verschlechtert sich zunehmend. Ähnlich ergeht es verschiedenen
Gruppen des Kleinbürgertums. Selbst die Aristokratie ist negativ betroffen, ist die
bürgerliche Aufwärtsbewegung doch mit einem Machtverlust auf der Seite des Adels
verbunden. Hieraus ergeben sich verschiedene Formen der Negation der
Haupttonalität" (SCHWENDTER), u.a. die proletarische Opposition BABEUFs, die
aristokratische Opposition von MALTHUS, den utopischen Sozialismus FOURIERs und die
Opposition der Romantiker wider die aufkommende Epoche des Industrialismus (nach
SCHWENDTER handelt es sich hier um eine Opposition, die im Umkreis des Kleinbürgertums
entsteht).
Schauen wir uns die Zeitgeist-Strömung der Romantik genauer an: Wir können die
Entstehung der Romantik nicht nur als negative Reaktion auf die zunehmende
Industrialisierung verstehen, sondern auch ihr Scheitern als gesellschaftsprägende
Leitidee aus den damit nicht zusammengehenden sozio-ökonomischen Verhältnissen
nachvollziehen. Die romantische Beseelung der Dinge war Ausdruck einer recht hilflosen
Rebellion gegen die fortschreitende, industrielle Verdinglichung der Seelen, ein
notwendigerweise zum Scheitern verurteilter Versuch, die modern-kapitalistische
Trennung von Kopf- und Handarbeit, von Produktions- und Privatsphäre, von Kindheit
und erwachsenem" Dasein, von Individuum und Gemeinschaft [...] aufzuhalten und
aufzuheben".
Wir sehen: Die Romantiker waren im Kern durchaus antikapitalistisch, aber sie empfanden -
ausgehend von einer rückwärtsgewandten Utopie - das als schmerzhaft, was die nach vorne
gerichteten MARX und ENGELS als revolutionäre Kraft der Bourgeoisie mehr oder weniger
priesen:
Die Bourgeoisie [...] hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der
ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser
egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tausch-wert
aufgelöst, und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die
Eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit
religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte,
direkte, dürre Ausbeutung gesetzt.[...] Alles Ständische und Stehende verdampft, alles
Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre
gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen."
Das Scheitern der Romantiker ist ein gutes Beispiel dafür, daß Ideen nur dann
gesellschaftliche Macht erlangen können, wenn ihre Umsetzung innerhalb der sich
entwickelnden ökonomischen Verhältnisse Sinn macht. Dies bedeutet nicht, daß das
gesellschaftliche Sein, die Materie, generell das in letzter Instanz Bestimmende sei.
Dieser Eindruck entsteht nur, wenn wir die Frage der Entwicklung und Durchsetzung von
Ideen fokussieren.
Fragen wir uns hingegen umgekehrt, wodurch das gesellschaftliche Sein geprägt wird, so
gerät plötzlich die Macht der Gedanken/Ideen in den Blickpunkt. So gelang es Max WEBER,
die Entstehungszusammenhänge des modernen Kapitalismus aus einer vom Akzent her eher
idealistischen Perspektive heraus plausibel zu erklären. WEBER konnte aufzeigen,
daß die asketische Lebensführung im Kontext des Calvinismus entscheidenden Einfluß auf
die Entstehung des modernen Kapitalismus hatte. Die protestantische Ethik entsprach im
besonderem Maße dem Geist des modernen Kapitalismus. Sie machte den Beruf zum
Selbstzweck, zur Berufung (Prädestinationslehre!) und war durch das asketische Ideal eine
hervorragende Grundlage für die im Kapitalismus notwendig werdende rationale
Arbeitsorganisation und Kapitalverwertung. So war es auch kein Wunder, daß WEBER auf die
empirische Tatsache verweisen konnte, daß die rational-legal ausgerichteten Protestanten
im Ausgang des 19. Jahrhunderts ökonomisch erfolgreicher waren als ihre stärker
prämodern geprägten, katholischen GlaubensgenossInnen.
Was schließen wir aus diesen Ausführungen? Doch wohl nur eines, nämlich daß es vernünftig ist, davon auszugehen, daß Idee und Materie niemals isoliert voneinander betrachtet werden können, weil sie notwendigerweise in einem ständigem, unaufhebbaren Wechselwirkungsverhältnis stehen. Hier zu entscheiden, was das eigentlich Bestimmende sei, ist ebenso unmöglich, wie es unmöglich ist, zu klären, ob zuerst die Henne oder das Ei da war. Sein oder Bewußtsein?, das ist eben nicht die Frage, die wir uns zu stellen haben. Die Welt des menschlichen Geistes und die Welt der menschlichen Lebensverhältnisse sind zwei einander notwendig bedingende Aspekte ein und desselben Prozesses. Dies wird übrigens bereits am MARXschen Begriff der Produktivkräfte deutlich, der sowohl die natürlichen und dinglichen Ressourcen (Materie) als auch das jeweils entwickelte, menschliche Wissen (Ideen) umfaßt.
Wir müssen versuchen, eine Perspektive jenseits von Materialismus und Idealismus zu
entwickeln. Dabei ist allerdings zu beachten, daß die Synthese beider Denksysteme nur
unter der Voraussetzung möglich ist, daß zuvor die Idee der Willensfreiheit radikal
dekonstruiert wurde. Die Gegenübersetzung der Scheinalternativen Idealismus und
Materialismus erhält nämlich ihre eigentliche Brisanz dadurch, daß hierbei meist
unterschwellig der Gegensatz zwischen Freiheit und Determinismus mitschwingt.
Während MaterialistInnen stets von einem - wie auch immer gearteten -
kausal-deterministischen Zusammenhang aller Erscheinungen ausgingen, wurde im Kontext des
Idealismus immer wieder der angebliche Indeterminismus des menschlichen Willens und -
damit zusammenhängend - der menschlichen Ideenproduktion betont. Dies führte dazu, daß
man die Theorie der Willensfreiheit eigentlich nur noch kritisieren konnte, wenn man die
gesellschaftliche Bedeutung von Ideen im materialistischen Sinne gering schätzte.
Umgekehrt mußte man, wenn man Ideen gesellschaftsprägende Bedeutung zukommenließ, sich
beinahe notgedrungen mit der Theorie der Willensfreiheit anfreunden. Der Grund für diese
Vermischung war die von vielen Philosophen geteilte Einschätzung, daß im Bereich der
Ideen das Prinzip der Kausalität, das im Bereich der Materie herrscht, nicht gelte.
Ich habe an anderer Stelle darauf hingewiesen, daß diese Unterscheidung/Zuordnung
theoretisch wie praktisch nicht sinnvoll ist und nahegelegt, sie und die damit verbundene
Vorstellung von der menschlichen Willensfreiheit radikal fallenzulassen.
Wichtig in dem hier diskutierten Zusammenhang: Die radikale Dekonstruktion der
Willensfreiheitslehre im Sinne des oben angedeuteten systemischen
Kontextualismus" ist die notwendige Grundlage für eine gelingende Aufhebung der
philosophischen Sackgassen Materialismus und Idealismus. Die hier vertretene scharfe
Ablehnung der Idee der Willensfreiheit ist also nicht das Resultat eines naiven
Materialismus.
Nach diesen - notwendigerweise verkürzten - Darlegungen zum Problem des Verhältnisses von Materialismus und Idealismus liegt eine Konsequenz für die vorliegende Untersuchung auf der Hand: Wenn im folgenden Prämoderne, Moderne und Postmoderne als Denksysteme mit mitunter gesellschaftsprägender Bedeutung geschildert werden, so werden stets die sozio-ökonomischen Strukturen mitbedacht, die zur Entstehung dieser Denksysteme beitragen und die die mögliche Implementierung der aus ihnen entstehenden normativen Regelungen mitsteuern. Die jeweiligen, gesellschaftlichen Selektionsdrücke werden keinesfalls unter den Teppich gekehrt: Es ist leicht einsichtig, daß der Feudalismus eine Affinität zu prämodernen Denkmustern entwickelte, der am Bürgertum orientierte Frühkapitalismus zu modernen Auffassungen tendierte und der blühende Spätkapitalismus postmodernes Denken hervorbringen mußte. Die aufgeführten Denkungsarten entfalten in den jeweiligen Systemen nicht zu unterschätzende, systemstabilisierende Kraft.