Wie oben angedeutet: Die neomoderne Position unterscheidet sich von ihren prämodernen,
modernen und postmodernen Vorläuferinnen darin, daß die Letztbegründung, auf der sie
aufbaut, ganz bewußt sichtbar gemacht wird. Das Engagement, auf dem neomodernes Denken,
neomoderne Erkenntnis beruht, ist schonungslos offengelegt.
Das heißt: Es wird nicht verschwiegen, daß neomodernes Denken - wie jedes Denken -
notwendigerweise auf willkürlich festgelegten, moralischen Axiomen gründet. Ein
solches Axiom ist nicht zu begründen, denn es bildet erst die Grundlage für
Begründungen. Es befindet sich also sozusagen im argumentationsfreien Raum",
muß losgelöst von Argumentation eingesehen werden. (Der Begriff axiomatische
Evidenz" versucht bekanntlich (mehr schlecht als recht?) aus dieser Not eine Tugend
zu machen.)
Wenn aber nun Axiome aus gutem Grund unbegründet und damit beliebig sind, so ist es
sinnvoll, so wenige axiomatische Setzungen vorzunehmen, wie das nur irgend möglich ist.
(Man sollte den axiomatischen Schopf Münchhausens auf keinen Fall überstrapazieren!) Die
hier zu entwickelnde neomoderne Position beruht daher auf einer einzigen, wenn auch
komplexen, axiomatischen Setzung, einer Setzung, die ich in kritischer Anlehnung an M. N.
ROY und Erich FROMM als radikal-humanistisch bezeichne:
Die Humanistische Basis-Setzung (HBS) ALLE MENSCHEN (ungeachtet welcher Gruppe sie angehören - auch die kommenden Generationen werden hier mit einbezogen!) SIND GLEICHBERECHTIGT UND FREI IN IHREM STREBEN, IHRE INDIVIDUELLEN VORSTELLUNGEN VOM GUTEN LEBEN IM DIESSEITS ZU VER-WIRKLICHEN, SOFERN DADURCH NICHT DIE GLEICHBERECHTIGTEN INTERESSEN ANDERER IN MITLEIDENSCHAFT GEZOGEN WERDEN, UND ES IST DIE UNAUFKÜNDBARE AUFGABE EINES JEDEN MENSCHEN MIT ALLEN ZUR VERFÜGUNG STEHENDEN KRÄFTEN DAZU BEIZUTRAGEN, DASS MÖGLICHST WENIGEN (IM IDEALFALL: NIEMANDEM) DIE INANSPRUCHNAHME DIESES FUNDAMENTALEN RECHTS VERSAGT BLEIBT.
Wie gesagt: Dieser Satz, der als wahr und universell gültig gesetzt wird, kann als Axiom
nicht bewiesen, nicht begründet werden. Ich möchte jedoch einige Aspekte erläutern:
Der Konstruktivismus nötigt uns zu der Einsicht, daß wir keine gültigen Kriterien
besitzen, um genau inhaltlich zu definieren, was gutes Leben im Diesseits sei. Die
Bandbreite der unterschiedlichen Konstruktionen von gutem Leben wird neomodern also
zunächst nicht begrenzt durch die Überzeugung, daß es eine einheitlich-verbindliche
Vorstellung von gutem Leben gibt oder geben sollte. Hier gilt - ich betone:
zunächst!- der postmoderne Maßstab des subjektiven Geschmacks. Die zentrale Frage
lautet: Does ist feel good?
Allerdings - und das ist nun der entscheidende Unterschied zur Ethik der Postmoderne -
findet diese postmoderne Beliebigkeit ihre Grenzen dort, wo die Möglichkeiten anderer,
ihre Vorstellungen von gutem Leben zu verwirklichen, in Mitleidenschaft gezogen werden.
Aus dem Recht, dem Anspruch auf die Möglichkeit der Verwirklichung individueller
Lebenskonzepte, einem Recht, das für alle gilt, erwächst auch eine Pflicht, die für
alle gelten muß: Der radikale Humanismus der Neomoderne verpflichtet den Menschen dazu,
nicht nur Rücksicht auf die gleichberechtigten Ansprüche anderer zu nehmen, sondern auch
nach Kräften verändernd tätig zu werden, wenn erkennbar ist, daß die Rechtsansprüche
anderer ungerechtfertigt durch direkte, strukturelle oder kulturelle Gewalt bedroht
werden. Die politische Maxime des Radikalen Humanismus entspricht also dem MARXschen
kategorischen Imperativ, der verlangt, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen
ist." Hierbei ist wichtig anzumerken, daß die Formulierung alle
Verhältnisse" in der hier vorgeschlagenen Konzeption auch wirklich alle
Verhältnisse meint. Das heißt: Nicht nur die ökonomischen Verhältnisse werden
angegriffen, sondern auch die Geschlechterverhältnisse, die Beziehungsverhältnisse von
Eltern und Kindern, LehrerInnen/SchülerInnen usw. Mit anderen Worten: Die hier
verhandelte Maxime bezieht sich auf alle Ebenen des menschlichen Lebens, auf das Gebiet
des Mikro-, Meso- und Makrokosmos, das heißt: auf die Ebene des Individuums, die Ebene
der face-to-face-Beziehungen, sowie auf die Ebene der sozialen Strukturen/Institutionen,
die über face-to-face-Kontakte hinausgehen. Es gibt kein Gebiet, auf dem Verstöße
gegen die Humanität einfach hingenommen werden können.
Wir sehen: Der neomoderne Ansatz führt - wie aus den obigen Ausführungen leicht zu
erkennen ist - zu einer - in gewisser Hinsicht zumindest - deutlich antirelativistischen
Einstellung, also zu einer Position, die dem Idealtypus der Postmoderne zumindest in
diesem Punkt scharf widerspricht. Wo aber liegen die wesentlichen Unterschiede von
Neomoderne und Moderne?
Auf den kürzesten Nenner gebracht: Der neomoderne Ansatz entspricht dem postmodernen in
dem Bestreben, in größerem Umfang moralische Werte zu dekonstruieren, zu entzaubern, zu
relativieren. Wie die Postmoderne, so sieht auch die Neomoderne in den Werten, die für
die Moderne noch unantastbar waren, nichts Heiliges, Unantastbares mehr. Die alles
überwuchernden, moralischen Werte (Axiome) der Moderne werden auf ein erträgliches Maß
zurückgestutzt, genauer: sie werden verstanden als bloße (Über-) Lebenstechniken, die
unter den veränderten Umständen gründlicher Revision bedürfen. Für die Neomoderne
gibt es ja im Gegensatz zur Moderne nur EINEN moralischen Wert, nur EINE unantastbare
Zweckdefinition: die oben aufgeführte moralische Humanistische Basis-Setzung (HBS). All
das, was sich sonst noch im Moralkodex der Moderne befand (willkürlich herausgegriffene
Beispiele: Treue, Vaterlandsliebe, Wahrheitsliebe, Familiensinn, Demut, Friedfertigkeit
etc.) wird vom unantastbaren Sockel der Moral gestoßen. Treue, Vaterlandsliebe etc.
werden als technische Hilfsinstrumente begriffen, die allein daran gemessen werden, ob sie
unter konkreten Bedingungen zur Realisierung der neomodern-humanistischen Zielvorgabe
taugen oder nicht. Die neomodern geforderte Entzauberung der Werte bedeutet also eine
weitgehende Transformation des Moralischen (der Zielvorgaben) ins Technische
(Zieldienliche) und damit ins begründet Hinterfragbare.
Wir sind durch diese Technisierung (= Entmoralisierung) der Debatte in der Lage, falsche
Ideen (z.B. die Idee der offenbarten, objektiven Wahrheit) sterben zu lassen, bevor wir
für falsche Ideen (z.B. in einem Glaubenskrieg) sterben müssen, realisieren also in
diesem Punkte genau das, was Karl POPPER sich von einer offenen Gesellschaft"
erwünschte. Mit anderen Worten: Die neomoderne Position ermöglicht, ja verlangt
gegenüber der modernen eine wesentlich größere Offenheit und Experimentierfreudigkeit,
einen größeren technischen Pluralismus. Sie ist den ständig sich ändernden Bedingungen
unseres Lebens besser angepaßt. Im Gegensatz zum behäbigen Oldtimer Moderne"
ist sie also kompatibel zur unaufhaltsamen - aber steuerungsbedürftigen!- digitalen
Revolutionierung aller Lebensverhältnisse.