3.2 Neomodernen Boden unter den Füßen: Der Standpunkt des radikalen Humanismus

 

3.2.1 Am Anfang steht das Axiom: Die Humanistische Basis-Setzung (HBS)


Wie oben angedeutet: Die neomoderne Position unterscheidet sich von ihren prämodernen, modernen und postmodernen Vorläuferinnen darin, daß die Letztbegründung, auf der sie aufbaut, ganz bewußt sichtbar gemacht wird. Das Engagement, auf dem neomodernes Denken, neomoderne Erkenntnis beruht, ist schonungslos offengelegt.
Das heißt: Es wird nicht verschwiegen, daß neomodernes Denken - wie jedes Denken - notwendigerweise auf willkürlich festgelegten, moralischen Axiomen  gründet. Ein solches Axiom ist nicht zu begründen, denn es bildet erst die Grundlage für Begründungen. Es befindet sich also sozusagen im „argumentationsfreien Raum", muß losgelöst von Argumentation eingesehen werden. (Der Begriff „axiomatische Evidenz" versucht bekanntlich (mehr schlecht als recht?) aus dieser Not eine Tugend zu machen.)
Wenn aber nun Axiome aus gutem Grund unbegründet und damit beliebig sind, so ist es sinnvoll, so wenige axiomatische Setzungen vorzunehmen, wie das nur irgend möglich ist. (Man sollte den axiomatischen Schopf Münchhausens auf keinen Fall überstrapazieren!) Die hier zu entwickelnde neomoderne Position beruht daher auf einer einzigen, wenn auch komplexen, axiomatischen Setzung, einer Setzung, die ich in kritischer Anlehnung an M. N. ROY und Erich FROMM als radikal-humanistisch bezeichne:




Die Humanistische Basis-Setzung (HBS) ALLE MENSCHEN (ungeachtet welcher Gruppe sie angehören - auch die kommenden Generationen werden hier mit einbezogen!) SIND GLEICHBERECHTIGT UND FREI IN IHREM STREBEN, IHRE INDIVIDUELLEN VORSTELLUNGEN VOM GUTEN LEBEN IM DIESSEITS ZU VER-WIRKLICHEN, SOFERN DADURCH NICHT DIE GLEICHBERECHTIGTEN INTERESSEN ANDERER IN MITLEIDENSCHAFT GEZOGEN WERDEN, UND ES IST DIE UNAUFKÜNDBARE AUFGABE EINES JEDEN MENSCHEN MIT ALLEN ZUR VERFÜGUNG STEHENDEN KRÄFTEN DAZU BEIZUTRAGEN, DASS MÖGLICHST WENIGEN (IM IDEALFALL: NIEMANDEM) DIE INANSPRUCHNAHME DIESES FUNDAMENTALEN RECHTS VERSAGT BLEIBT.



Wie gesagt: Dieser Satz, der als wahr und universell gültig gesetzt wird, kann als Axiom nicht bewiesen, nicht begründet werden. Ich möchte jedoch einige Aspekte erläutern:
Der Konstruktivismus nötigt uns zu der Einsicht, daß wir keine gültigen Kriterien besitzen, um genau inhaltlich zu definieren, was gutes Leben im Diesseits sei.  Die Bandbreite der unterschiedlichen Konstruktionen von gutem Leben wird neomodern also zunächst nicht begrenzt durch die Überzeugung, daß es eine einheitlich-verbindliche Vorstellung von gutem Leben gibt oder geben sollte.  Hier gilt - ich betone: zunächst!- der postmoderne Maßstab des subjektiven Geschmacks. Die zentrale Frage lautet: Does ist feel good?
Allerdings - und das ist nun der entscheidende Unterschied zur Ethik der Postmoderne - findet diese postmoderne Beliebigkeit ihre Grenzen dort, wo die Möglichkeiten anderer, ihre Vorstellungen von gutem Leben zu verwirklichen, in Mitleidenschaft gezogen werden. Aus dem Recht, dem Anspruch auf die Möglichkeit der Verwirklichung individueller Lebenskonzepte, einem Recht, das für alle gilt, erwächst auch eine Pflicht, die für alle gelten muß: Der radikale Humanismus der Neomoderne verpflichtet den Menschen dazu, nicht nur Rücksicht auf die gleichberechtigten Ansprüche anderer zu nehmen, sondern auch nach Kräften verändernd tätig zu werden, wenn erkennbar ist, daß die Rechtsansprüche anderer ungerechtfertigt durch direkte, strukturelle oder kulturelle Gewalt  bedroht werden. Die politische Maxime des Radikalen Humanismus entspricht also dem MARXschen kategorischen Imperativ, der verlangt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist."  Hierbei ist wichtig anzumerken, daß die Formulierung „alle Verhältnisse" in der hier vorgeschlagenen Konzeption auch wirklich alle Verhältnisse meint. Das heißt: Nicht nur die ökonomischen Verhältnisse werden angegriffen, sondern auch die Geschlechterverhältnisse, die Beziehungsverhältnisse von Eltern und Kindern, LehrerInnen/SchülerInnen usw. Mit anderen Worten: Die hier verhandelte Maxime bezieht sich auf alle Ebenen des menschlichen Lebens, auf das Gebiet des Mikro-, Meso- und Makrokosmos, das heißt: auf die Ebene des Individuums, die Ebene der face-to-face-Beziehungen, sowie auf die Ebene der sozialen Strukturen/Institutionen, die über face-to-face-Kontakte hinausgehen.  Es gibt kein Gebiet, auf dem Verstöße gegen die Humanität einfach hingenommen werden können.

Wir sehen: Der neomoderne Ansatz führt - wie aus den obigen Ausführungen leicht zu erkennen ist - zu einer - in gewisser Hinsicht zumindest - deutlich antirelativistischen Einstellung, also zu einer Position, die dem Idealtypus der Postmoderne zumindest in diesem Punkt scharf widerspricht. Wo aber liegen die wesentlichen Unterschiede von Neomoderne und Moderne?
Auf den kürzesten Nenner gebracht: Der neomoderne Ansatz entspricht dem postmodernen in dem Bestreben, in größerem Umfang moralische Werte zu dekonstruieren, zu entzaubern, zu relativieren. Wie die Postmoderne, so sieht auch die Neomoderne in den Werten, die für die Moderne noch unantastbar waren, nichts Heiliges, Unantastbares mehr. Die alles überwuchernden, moralischen Werte (Axiome) der Moderne werden auf ein erträgliches Maß zurückgestutzt, genauer: sie werden verstanden als bloße (Über-) Lebenstechniken, die unter den veränderten Umständen gründlicher Revision bedürfen. Für die Neomoderne gibt es ja im Gegensatz zur Moderne nur EINEN moralischen Wert, nur EINE unantastbare Zweckdefinition: die oben aufgeführte moralische Humanistische Basis-Setzung (HBS). All das, was sich sonst noch im Moralkodex der Moderne befand (willkürlich herausgegriffene Beispiele: Treue, Vaterlandsliebe, Wahrheitsliebe, Familiensinn, Demut, Friedfertigkeit etc.) wird vom unantastbaren Sockel der Moral gestoßen. Treue, Vaterlandsliebe etc. werden als technische Hilfsinstrumente begriffen, die allein daran gemessen werden, ob sie unter konkreten Bedingungen zur Realisierung der neomodern-humanistischen Zielvorgabe taugen oder nicht. Die neomodern geforderte Entzauberung der Werte bedeutet also eine weitgehende Transformation des Moralischen (der Zielvorgaben) ins Technische (Zieldienliche) und damit ins begründet Hinterfragbare.
Wir sind durch diese Technisierung (= Entmoralisierung) der Debatte in der Lage, falsche Ideen (z.B. die Idee der offenbarten, objektiven Wahrheit) sterben zu lassen, bevor wir für falsche Ideen (z.B. in einem Glaubenskrieg) sterben müssen, realisieren also in diesem Punkte genau das, was Karl POPPER sich von einer „offenen Gesellschaft" erwünschte. Mit anderen Worten: Die neomoderne Position ermöglicht, ja verlangt gegenüber der modernen eine wesentlich größere Offenheit und Experimentierfreudigkeit, einen größeren technischen Pluralismus. Sie ist den ständig sich ändernden Bedingungen unseres Lebens besser angepaßt. Im Gegensatz zum behäbigen Oldtimer „Moderne" ist sie also kompatibel zur unaufhaltsamen - aber steuerungsbedürftigen!- digitalen Revolutionierung aller Lebensverhältnisse.

 

 home.gif (20220 Byte)