Die obigen Ausführungen haben es zum Teil schon angedeutet: Der Wandel von Prämoderne
über Moderne zu Postmoderne kann selbstverständlich auch als Kreisbewegung interpretiert
werden. Hierbei erscheint die Postmoderne nicht mehr als progressive Vollendung der
Moderne, sondern als deren regressive Überwindung, die eine Renaissance prämoderner
Denkmuster ermöglicht.
Grundlage des Wandels von Moderne zu Postmoderne ist der bereits oben angedeutete
Selbstzerstörungsmechanismus der vernunftsgeleiteten Aufklärung:
Das Licht der Aufklärung hat die Welt erleuchtet, den Himmel verfinstert, die
Sterne können uns nicht mehr leiten. [...] Wie ein Stern, der, ausgeglüht, unter seinem
eigenen Gewicht zusammenbricht und alle Lichtphotonen, die in seine Nähe kommen,
aufsaugt, so stürzt die Aufklärung zum schwarzen Loch in sich zusammen und verschlingt
Vernunft. Die Vernunft verdunkelt unwiederbringlich. [...] Wir haben die Welt entzaubert,
und hinter dem Vorhang fanden wir nur uns selbst. Wir haben die Ansichten der
Vergangenheit überprüft, und sie haben nicht standgehalten. Wir haben sie ihrer
Haltlosigkeit überführt, wir haben den Schein, die Irrtümer und die Lügen der
Vergangenheit entlarvt. Uns ist nichts heilig, weil es nichts Heiliges mehr gibt. Uns ist
nichts verbindlich, weil es nichts Verbindliches mehr gibt. Alles ist beliebig."
Es war vor allem ihre Maßlosigkeit, die die siegreiche Vernunft in den Untergang
getrieben hat. Die Vernunft war - und das ist schlecht für jeden Räuber- zu erfolgreich.
Nachdem die prämoderne Beute erledigt war, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich
selbst analytisch zu sezieren. Die Operation gelang, der Patient war tot. Die Vernunft
starb in dem Moment, in dem sie sich selbst im Spiegel des Skalpells erkannte. Die sofort
anschließenden Wiederbelebungsversuche endeten tragisch, denn dabei zerbrach die Vernunft
in viele Vernünfte. Das war ihr endgültiges Ende, denn die Geburt der Vernünfte ist
notwendigerweise der Untergang der Vernunft. Welche kritische Funktion sollte Vernunft
denn noch erfüllen können, wovon sollte sie sich unterscheiden, wenn plötzlich alles
irgendwie vernünftig oder zumindest gleichermaßen unvernünftig ist? Wie kann Vernunft
leben (das heißt für sie: begründet kritisieren), wenn den postmodernen
Anything-goes-SympathisantInnen Zitronenpressen" ebenso vernünftig erscheinen
wie die Fernsehwerbung, die Popmusik, der Friseur, die Staatsgrenzen, die Banken und
die Zahnstocher", wenn Hitler" genauso vernünftig ist wie Goethe,
die Rote Armee Fraktion genauso vernünftig wie der Bundestag, die Volkshochschule, die
Gefängnisse und die Salatschleuder" ?
KritikerInnen meinen wohl zu recht, daß diese postmoderne Pluralisierung der Vernunft und
die damit verbundene Beliebigkeit alles verspielt, was die EINE Vernunft unter größtem
Aufwand gegenüber der Prämoderne erkämpft hatte: die begründete Möglichkeit zur
Unterscheidung zwischen wahr und falsch, Wirklichkeit und Illusion, Fortschritt und
Rückschritt. Sie befürchten, daß die postmoderne Offenheit und Toleranz allzu wenig
immun ist gegenüber Offenbarungsideologien und fundamentalistischen Dogmatismen, daß der
postmoderne Pluralismus allzu leicht in prämodernen Monismus übergeht, kurzum: daß die
Ambivalenzen der Postmoderne zu einer Renaissance der Prämoderne führen. (Die ungeheure
Expansion des Esoterik-Marktes scheint ja z.B. in diese Richtung zu deuten! ) Diese Gefahr
sieht - zumindest rhetorisch - selbst ein so entschiedener Befürworter der Postmoderne
wie WELSCH:
Besteht nicht die Gefahr, daß Esoterik, Hedonismus oder eine neue
Pseudospiritualität - etwa unter dem Stichwort New Age" - von der Peripherie,
wo sie interessant und belebend sein mochten, ins Zentrum vorrücken und den harten,
zweckrationalen Instrumentalismus, den wir haben, durch einen zwar weichen, aber nicht
weniger expansiven Fundamentalismus ersetzen? Ist es nicht so, daß wir durch diese
Gegenbewegungen, so gut sie auch immer gemeint sein mögen, in Wahrheit keineswegs in ein
neues Paradies geführt, sondern eher in neue Totalitarismen gestürzt zu werden drohen?
Denn wo die Verabschiedung verbindlicher Standards und der Übergang zu einer Vielzahl
verschiedener Orientierungen eine Situation der Maßstablosigkeit schafft, da mag der Ruf
nach einem Führer wieder laut und zustimmungsfähig werden - nicht von ungefähr werden
mahnende Vergleiche mit der Weimarer Zeit gezogen -, und überdies treten manche der neuen
Orientierungsangebote schon von sich aus mit fundamentalistischen Ansprüchen auf. Heißt
also, das Theorem der Postmoderne zu vertreten, am Ende gar, um einen Khomeini von
innen zu bitten" - und ihm blauäugig auch noch den Teppich auszurollen?"
Es ist sinnvoll, in diesem Zusammenhang die HABERMASsche Rede von der Postmoderne als
Neokonservatismus aufzugreifen. HABERMAS zufolge betreiben die Postmodernen bekanntlich:
eine Politik der Entschärfung der explosiven Gehalte der kulturellen Moderne":
Mit der definitiven Eingrenzung von Wissenschaft, Moral und Kunst in den autonomen,
von der Lebenswelt abgespalteten, spezialistisch verwalteten Sphären bleibt von der
kulturellen Moderne nur noch zurück, was von ihr unter dem Verzicht auf das Projekt der
Moderne zu haben ist. Für den freigewordenen Platz sind Traditionen vorgesehen, die nun
von Begründungsformen verschont bleiben."
HABERMAS entdeckt den neokonservativen Zug postmodernen Denkens zu recht in seinem - aus
moderner Perspektive - unkritischen Verhältnis zu Traditionen. Man kann tatsächlich
sagen, daß postmodernes Denken vor allem deshalb konservativ ist, weil es auf eine recht
merkwürdige Weise traditionalistisch ist. Es schützt nämlich indirekt Traditionen, weil
es kein universalistisches Kriterium kennt, Traditionen zu kritisieren.
Dabei scheint die postmoderne Argumentation auf den ersten Blick höchst plausibel zu
sein, denn: Wenn ich andere Traditionen kritisiere, so verwende ich in meiner Kritik ja
notwendigerweise Kriterien, die meiner Tradition entstammen. Wenn jemand anderes mich und
meine Tradition kritisiert, so verwendet er in seiner Kritik Elemente seiner Tradition.
Unsere Kritik kann also nur relativ zu unseren Traditionen verstanden werden. Damit ist
Kritik aber beliebig, theoretisch wie praktisch unfruchtbar. Sie führt nicht zur
Veränderung von Standpunkten und kann somit eigentlich unterbleiben.
Dieser merkwürdig traditionalistische Charakter postmodernen Denkens wird besonders
deutlich bei Paul FEYERABEND, dessen Schriften - wie bereits angedeutet - dem postmodernen
Idealtypus besonders nahe kommen. FEYERABEND schreibt:
Traditionen sind weder gut noch schlecht; sie existieren einfach.
Objektiv", das heißt unabhängig von Traditionen, gibt es keine Wahl zwischen
einer humanitären Einstellung und dem Antisemitismus."
Er fährt fort:
Eine Tradition erhält erwünschte und unerwünschte Züge nur, wenn man sie auf
eine Tradition bezieht, das heißt, wenn man sie als Teilnehmer einer Tradition betrachtet
und aufgrund der Werte dieser Tradition beurteilt."
Nimmt man diese Argumente ernst, so führt dies nach Meinung FEYERABENDs notwendigerweise
zu einem Relativismus von genau der Art, wie ihn Protagoras verteidigt zu haben
scheint."
Der FEYERABENDsche Relativismusbegriff umfaßt dabei nicht nur Ziele, sondern auch die
Mittel einer Tradition:
Traditionen haben verschiedene Mittel, um Anhänger zu gewinnen. Es gibt
Traditionen, die diese Mittel untersuchen und je nach der eintretenden Situation
modifizieren. Andere Traditionen nehmen an, daß es einen Königsweg zur Propaganda gibt,
der immer und unter allen Umständen funktioniert. [...] Die Methoden einer Tradition sind
akzeptabel, lächerlich, rational", närrisch, je nach der Tradition, von der
aus man sie beurteilt."
Letzteres bedeutet, daß für FEYERABEND - im Gegensatz zum POPPERschen Rationalismus und
zur HABERMASschen/APELschen Diskurstheorie - rationale Argumentation nicht der Königsweg
zur Verständigung sein kann, denn:
Argumentieren ist für den einen Beobachter Propaganda, für den anderen das Wesen
menschlicher Verständigung"
Das aber heißt: Konsens im HABERMASschen Sinne zwischen VertreterInnen verschiedener
Traditionen ist in vielen Fällen nahezu ausgeschlossen. Schlimmer noch: Der HABERMASsche
Aufruf zur rationalen Verständigung ist in dieser Perspektive nicht nur hochgradig
unsinnig, sondern geradezu gefährlich demagogisch, ein Ausdruck ideologisch kaschierter
Herrschaftsansprüche von Seiten der rationalistischen Tradition.
Praktische, politische Konsequenz des von FEYERABEND auf solche Weise verschärften
Relativismus ist die Forderung nach einer freien Gesellschaft", die FEYERABEND
folgendermaßen definiert.
Eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der alle Traditionen gleiche
Rechte und gleichen Zugang zu den Zentren der Erziehung haben. Wenn Traditionen Vorteile
und Nachteile nur dann haben, wenn man sie vom Standpunkt anderer Traditionen aus
betrachtet, dann ist die Wahl einer Tradition als Grundlage einer freien Gesellschaft ein
Akt der Willkür, der entweder mit Gewalt durchgesetzt werden muß oder durch einen freien
Austausch zwischen den die Gesellschaft bewohnenden Traditionen begründet werden
kann."
Freier Austausch" meint hierbei:
Nicht rationalistische Maßstäbe, nicht religiöse Überzeugungen, nicht humane
Regungen, sondern Bürgerinitiativen sind das Filter, das brauchbare von unbrauchbaren
Ideen und Maßnahmen trennt. Empfohlen wird eine prinzipienlose Gesellschaft, die
Traditionen nicht nur respektiert, sondern zur Mitarbeit auffordert, und Prinzipien von
Fall zu Fall durchsetzt".
[...]
Doch kommen wir nun zurück zum HABERMASschen Vorwurf, postmodernes Denken sei
neokonservativ, gegen möglichen und nötigen Fortschritt gerichtet:
In der Tat regiert im postmodernen Denken aufgrund seiner Unfähigkeit, Traditionen zu
kritisieren, ausschließlich das Hier und Jetzt", das gegenwärtig Bestehende.
Dieses Bestehende ist allmächtig, kann nicht überschritten, nicht hinreichend begründet
kritisiert werden. Alles Utopische, aller Wunsch nach tiefgreifender Veränderung der
Verhältnisse in Richtung des gänzlich Anderen", des
Fortschrittlichen", Humanen" ist postmodern ja als
Einheitsobsession" diskreditiert. DAIBER schreibt:
Während das moderne Bewußtsein das jeweils Neue dem Älteren gegenüber als
zumindest für den Augenblick überlegen versteht, ist dies von einer postmodernen
Orientierung her nicht mehr möglich: die pluralen Orientierungen, wie sie innerhalb einer
geschichtlichen Situation beobachtet werden können, sind nicht gegeneinander
verrechenbar, jede Möglichkeit des Selbst- und Weltverständnisses, der Selbst- und
Weltbewältigung hat ihr eigenes Gewicht, ihre eigene Legitimität. Der Versuch, sie
zueinander in Beziehung zu setzen, führt bereits zu einer gefährlichen Suche nach einer
ideologischen Einheit."
Folge dieser relativistischen Aufhebung der utopischen Idee: Die normative Kraft des
Faktischen" (HABERMAS) bestimmt das postmoderne Bewußtsein, das damit unbestreitbar
verhältnisstabilisierende Wirkung hat. Insofern stimmt HABERMAS´ Vorwurf, Postmoderne
sei neokonservativ.
Allerdings: Ein ganz entscheidender Unterschied zum herkömmlichen Konservatismus darf
nicht übersehen werden: Während der alte Konservatismus nämlich versucht, das
Bestehende in die Zukunft hinüberzuretten (das Alte also zu konservieren!), ist der
Postmoderne ein solches Engagement völlig fremd, weil ihr die Idee einer
steuerungsbedürftigen und -fähigen Zukunft fremd ist. Mit anderen Worten: Die Postmoderne ist ein Konservatismus, dem die Fähigkeit zu konservieren abhanden gekommen ist. Das heißt: Postmoderne leitet zwar aus dem, was ist, ab, was sein soll, aber -
und das ist der zentrale Unterschied - sie tut dies nur für diesen Moment - nicht für
die Zukunft! Ergo: Wenn sich in der Zukunft die Dinge geändert haben, so wird sie dann
aus den veränderten Umständen ableiten, was in dieser zukünftigen Gegenwart sein soll.
Es ist die hier zum Ausdruck kommende Diktatur des Hier und Jetzt, die postmodern Denkende von einem ?Ende der Geschichte" (Posthistoire) hat sprechen lassen. Damit meinen sie (gewöhnlich) nicht, daß sich in Zukunft überhaupt nichts mehr ereignen wird, sondern daß sich die zu erwartenden, vielfältigen Wandlungsprozesse nicht mehr von menschlichen Subjekten werden steuern lassen. Das postmoderne Reden von einem ?Ende der Geschichte" resultiert dabei möglicherweise aus dem Ohnmachtserleben des Individuums gegenüber hochkomplexen, kaum mehr überschaubaren, gesellschaftlichen Systemen und Subsytemen. Der besondere Trick der Postmoderne - ein Hauptgrund für ihre Attraktivität - scheint darin zu bestehen, daß sie in einer geschickten Flucht nach vorne, aus dem Ohnmachtserleben ihre eigentliche Potenz schöpft. Die vermeintliche Tatsache, daß man nichts gegen all das Unrecht auf der Welt tun kann, wird postmodern benutzt, um zu rechtfertigen, daß man nichts gegen all das Unrecht tun muß. Anders formuliert: Die unterstellte Ohnmacht ermächtigt den postmodernen Menschen damit zu einem friedvollen, hinreichend theoretisch abgesicherten Rückzug ins Private, ins Ästhetische. Doch dazu an anderer Stelle mehr.