2.4.2 Die selbstzerstörerische Vernunft: Postmoderne als regressive Überwindung der Moderne


Die obigen Ausführungen haben es zum Teil schon angedeutet: Der Wandel von Prämoderne über Moderne zu Postmoderne kann selbstverständlich auch als Kreisbewegung interpretiert werden. Hierbei erscheint die Postmoderne nicht mehr als progressive Vollendung der Moderne, sondern als deren regressive Überwindung, die eine Renaissance prämoderner Denkmuster ermöglicht.
Grundlage des Wandels von Moderne zu Postmoderne ist der bereits oben angedeutete Selbstzerstörungsmechanismus der vernunftsgeleiteten Aufklärung:

 „Das Licht der Aufklärung hat die Welt erleuchtet, den Himmel verfinstert, die Sterne können uns nicht mehr leiten. [...] Wie ein Stern, der, ausgeglüht, unter seinem eigenen Gewicht zusammenbricht und alle Lichtphotonen, die in seine Nähe kommen, aufsaugt, so stürzt die Aufklärung zum schwarzen Loch in sich zusammen und verschlingt Vernunft. Die Vernunft verdunkelt unwiederbringlich. [...] Wir haben die Welt entzaubert, und hinter dem Vorhang fanden wir nur uns selbst. Wir haben die Ansichten der Vergangenheit überprüft, und sie haben nicht standgehalten. Wir haben sie ihrer Haltlosigkeit überführt, wir haben den Schein, die Irrtümer und die Lügen der Vergangenheit entlarvt. Uns ist nichts heilig, weil es nichts Heiliges mehr gibt. Uns ist nichts verbindlich, weil es nichts Verbindliches mehr gibt. Alles ist beliebig."
 
Es war vor allem ihre Maßlosigkeit, die die siegreiche Vernunft in den Untergang getrieben hat. Die Vernunft war - und das ist schlecht für jeden Räuber- zu erfolgreich. Nachdem die prämoderne Beute erledigt war, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich selbst analytisch zu sezieren. Die Operation gelang, der Patient war tot. Die Vernunft starb in dem Moment, in dem sie sich selbst im Spiegel des Skalpells erkannte. Die sofort anschließenden Wiederbelebungsversuche endeten tragisch, denn dabei zerbrach die Vernunft in viele Vernünfte. Das war ihr endgültiges Ende, denn die Geburt der Vernünfte ist notwendigerweise der Untergang der Vernunft. Welche kritische Funktion sollte Vernunft denn noch erfüllen können, wovon sollte sie sich unterscheiden, wenn plötzlich alles irgendwie vernünftig oder zumindest gleichermaßen unvernünftig ist? Wie kann Vernunft leben (das heißt für sie: begründet kritisieren), wenn den postmodernen Anything-goes-SympathisantInnen „Zitronenpressen" ebenso vernünftig erscheinen wie „die Fernsehwerbung, die Popmusik, der Friseur, die Staatsgrenzen, die Banken und die Zahnstocher", wenn „Hitler" genauso vernünftig ist „wie Goethe, die Rote Armee Fraktion genauso vernünftig wie der Bundestag, die Volkshochschule, die Gefängnisse und die Salatschleuder"  ?
KritikerInnen meinen wohl zu recht, daß diese postmoderne Pluralisierung der Vernunft und die damit verbundene Beliebigkeit alles verspielt, was die EINE Vernunft unter größtem Aufwand gegenüber der Prämoderne erkämpft hatte: die begründete Möglichkeit zur Unterscheidung zwischen wahr und falsch, Wirklichkeit und Illusion, Fortschritt und Rückschritt. Sie befürchten, daß die postmoderne Offenheit und Toleranz allzu wenig immun ist gegenüber Offenbarungsideologien und fundamentalistischen Dogmatismen, daß der postmoderne Pluralismus allzu leicht in prämodernen Monismus übergeht, kurzum: daß die Ambivalenzen der Postmoderne zu einer Renaissance der Prämoderne führen. (Die ungeheure Expansion des Esoterik-Marktes scheint ja z.B. in diese Richtung zu deuten! ) Diese Gefahr sieht - zumindest rhetorisch - selbst ein so entschiedener Befürworter der Postmoderne wie WELSCH:

„Besteht nicht die Gefahr, daß Esoterik, Hedonismus oder eine neue Pseudospiritualität - etwa unter dem Stichwort „New Age" - von der Peripherie, wo sie interessant und belebend sein mochten, ins Zentrum vorrücken und den harten, zweckrationalen Instrumentalismus, den wir haben, durch einen zwar weichen, aber nicht weniger expansiven Fundamentalismus ersetzen? Ist es nicht so, daß wir durch diese Gegenbewegungen, so gut sie auch immer gemeint sein mögen, in Wahrheit keineswegs in ein neues Paradies geführt, sondern eher in neue Totalitarismen gestürzt zu werden drohen? Denn wo die Verabschiedung verbindlicher Standards und der Übergang zu einer Vielzahl verschiedener Orientierungen eine Situation der Maßstablosigkeit schafft, da mag der Ruf nach einem Führer wieder laut und zustimmungsfähig werden - nicht von ungefähr werden mahnende Vergleiche mit der Weimarer Zeit gezogen -, und überdies treten manche der neuen Orientierungsangebote schon von sich aus mit fundamentalistischen Ansprüchen auf. Heißt also, das Theorem der Postmoderne zu vertreten, am Ende gar, „um einen Khomeini von innen zu bitten" - und ihm blauäugig auch noch den Teppich auszurollen?"


2.4.3 Ist postmodernes Denken neokonservativ?


Es ist sinnvoll, in diesem Zusammenhang die HABERMASsche Rede von der Postmoderne als Neokonservatismus aufzugreifen. HABERMAS zufolge betreiben die Postmodernen bekanntlich: „eine Politik der Entschärfung der explosiven Gehalte der kulturellen Moderne":

„Mit der definitiven Eingrenzung von Wissenschaft, Moral und Kunst in den autonomen, von der Lebenswelt abgespalteten, spezialistisch verwalteten Sphären bleibt von der kulturellen Moderne nur noch zurück, was von ihr unter dem Verzicht auf das Projekt der Moderne zu haben ist. Für den freigewordenen Platz sind Traditionen vorgesehen, die nun von Begründungsformen verschont bleiben."

HABERMAS entdeckt den neokonservativen Zug postmodernen Denkens zu recht in seinem - aus moderner Perspektive - unkritischen Verhältnis zu Traditionen. Man kann tatsächlich sagen, daß postmodernes Denken vor allem deshalb konservativ ist, weil es auf eine recht merkwürdige Weise traditionalistisch ist. Es schützt nämlich indirekt Traditionen, weil es kein universalistisches Kriterium kennt, Traditionen zu kritisieren.
Dabei scheint die postmoderne Argumentation auf den ersten Blick höchst plausibel zu sein, denn: Wenn ich andere Traditionen kritisiere, so verwende ich in meiner Kritik ja notwendigerweise Kriterien, die meiner Tradition entstammen. Wenn jemand anderes mich und meine Tradition kritisiert, so verwendet er in seiner Kritik Elemente seiner Tradition. Unsere Kritik kann also nur relativ zu unseren Traditionen verstanden werden. Damit ist Kritik aber beliebig, theoretisch wie praktisch unfruchtbar. Sie führt nicht zur Veränderung von Standpunkten und kann somit eigentlich unterbleiben.
Dieser merkwürdig traditionalistische Charakter postmodernen Denkens wird besonders deutlich bei Paul FEYERABEND, dessen Schriften - wie bereits angedeutet - dem postmodernen Idealtypus besonders nahe kommen. FEYERABEND schreibt:

„Traditionen sind weder gut noch schlecht; sie existieren einfach. „Objektiv", das heißt unabhängig von Traditionen, gibt es keine Wahl zwischen einer humanitären Einstellung und dem Antisemitismus."

Er fährt fort:

„Eine Tradition erhält erwünschte und unerwünschte Züge nur, wenn man sie auf eine Tradition bezieht, das heißt, wenn man sie als Teilnehmer einer Tradition betrachtet und aufgrund der Werte dieser Tradition beurteilt."

Nimmt man diese Argumente ernst, so führt dies nach Meinung FEYERABENDs notwendigerweise „zu einem Relativismus von genau der Art, wie ihn Protagoras verteidigt zu haben scheint."
Der FEYERABENDsche Relativismusbegriff umfaßt dabei nicht nur Ziele, sondern auch die Mittel einer Tradition:

„Traditionen haben verschiedene Mittel, um Anhänger zu gewinnen. Es gibt Traditionen, die diese Mittel untersuchen und je nach der eintretenden Situation modifizieren. Andere Traditionen nehmen an, daß es einen Königsweg zur Propaganda gibt, der immer und unter allen Umständen funktioniert. [...] Die Methoden einer Tradition sind akzeptabel, lächerlich, „rational", närrisch, je nach der Tradition, von der aus man sie beurteilt."

Letzteres bedeutet, daß für FEYERABEND - im Gegensatz zum POPPERschen Rationalismus und zur HABERMASschen/APELschen Diskurstheorie - rationale Argumentation nicht der Königsweg zur Verständigung sein kann, denn:

„Argumentieren ist für den einen Beobachter Propaganda, für den anderen das Wesen menschlicher Verständigung"

Das aber heißt: Konsens im HABERMASschen Sinne zwischen VertreterInnen verschiedener Traditionen ist in vielen Fällen nahezu ausgeschlossen. Schlimmer noch: Der HABERMASsche Aufruf zur rationalen Verständigung ist in dieser Perspektive nicht nur hochgradig unsinnig, sondern geradezu gefährlich demagogisch, ein Ausdruck ideologisch kaschierter Herrschaftsansprüche von Seiten der rationalistischen Tradition.
Praktische, politische Konsequenz des von FEYERABEND auf solche Weise verschärften Relativismus ist die Forderung nach einer „freien Gesellschaft", die FEYERABEND folgendermaßen definiert.

„Eine freie Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der alle Traditionen gleiche Rechte und gleichen Zugang zu den Zentren der Erziehung haben. Wenn Traditionen Vorteile und Nachteile nur dann haben, wenn man sie vom Standpunkt anderer Traditionen aus betrachtet, dann ist die Wahl einer Tradition als Grundlage einer freien Gesellschaft ein Akt der Willkür, der entweder mit Gewalt durchgesetzt werden muß oder durch einen freien Austausch zwischen den die Gesellschaft bewohnenden Traditionen begründet werden kann."

Freier Austausch" meint hierbei:

„Nicht rationalistische Maßstäbe, nicht religiöse Überzeugungen, nicht humane Regungen, sondern Bürgerinitiativen sind das Filter, das brauchbare von unbrauchbaren Ideen und Maßnahmen trennt. Empfohlen wird eine prinzipienlose Gesellschaft, die Traditionen nicht nur respektiert, sondern zur Mitarbeit auffordert, und Prinzipien von Fall zu Fall durchsetzt".


[...]
 
Doch kommen wir nun zurück zum HABERMASschen Vorwurf, postmodernes Denken sei neokonservativ, gegen möglichen und nötigen Fortschritt gerichtet:
In der Tat regiert im postmodernen Denken aufgrund seiner Unfähigkeit, Traditionen zu kritisieren, ausschließlich das „Hier und Jetzt", das gegenwärtig Bestehende. Dieses Bestehende ist allmächtig, kann nicht überschritten, nicht hinreichend begründet kritisiert werden. Alles Utopische, aller Wunsch nach tiefgreifender Veränderung der Verhältnisse in Richtung des „gänzlich Anderen", des „Fortschrittlichen", „Humanen" ist postmodern ja als „Einheitsobsession" diskreditiert. DAIBER schreibt:

„Während das moderne Bewußtsein das jeweils Neue dem Älteren gegenüber als zumindest für den Augenblick überlegen versteht, ist dies von einer postmodernen Orientierung her nicht mehr möglich: die pluralen Orientierungen, wie sie innerhalb einer geschichtlichen Situation beobachtet werden können, sind nicht gegeneinander verrechenbar, jede Möglichkeit des Selbst- und Weltverständnisses, der Selbst- und Weltbewältigung hat ihr eigenes Gewicht, ihre eigene Legitimität. Der Versuch, sie zueinander in Beziehung zu setzen, führt bereits zu einer gefährlichen Suche nach einer ideologischen Einheit."

Folge dieser relativistischen Aufhebung der utopischen Idee: Die „normative Kraft des Faktischen" (HABERMAS) bestimmt das postmoderne Bewußtsein, das damit unbestreitbar verhältnisstabilisierende Wirkung hat. Insofern stimmt HABERMAS´ Vorwurf, Postmoderne sei neokonservativ.
Allerdings: Ein ganz entscheidender Unterschied zum herkömmlichen Konservatismus darf nicht übersehen werden: Während der alte Konservatismus nämlich versucht, das Bestehende in die Zukunft hinüberzuretten (das Alte also zu konservieren!), ist der Postmoderne ein solches Engagement völlig fremd, weil ihr die Idee einer steuerungsbedürftigen und -fähigen Zukunft fremd ist. Mit anderen Worten: Die Postmoderne ist ein Konservatismus, dem die Fähigkeit zu konservieren abhanden gekommen ist. Das heißt: Postmoderne leitet zwar aus dem, was ist, ab, was sein soll, aber - und das ist der zentrale Unterschied - sie tut dies nur für diesen Moment - nicht für die Zukunft! Ergo: Wenn sich in der Zukunft die Dinge geändert haben, so wird sie dann aus den veränderten Umständen ableiten, was in dieser zukünftigen Gegenwart sein soll.

Es ist die hier zum Ausdruck kommende Diktatur des Hier und Jetzt, die postmodern Denkende von einem ?Ende der Geschichte" (Posthistoire) hat sprechen lassen.  Damit meinen sie (gewöhnlich) nicht, daß sich in Zukunft überhaupt nichts mehr ereignen wird, sondern daß sich die zu erwartenden, vielfältigen Wandlungsprozesse nicht mehr von menschlichen Subjekten werden steuern lassen. Das postmoderne Reden von einem ?Ende der Geschichte" resultiert dabei möglicherweise aus dem Ohnmachtserleben des Individuums gegenüber hochkomplexen, kaum mehr überschaubaren, gesellschaftlichen Systemen und Subsytemen. Der besondere Trick der Postmoderne - ein Hauptgrund für ihre Attraktivität - scheint darin zu bestehen, daß sie in einer geschickten Flucht nach vorne, aus dem Ohnmachtserleben ihre eigentliche Potenz schöpft. Die vermeintliche Tatsache, daß man nichts gegen all das Unrecht auf der Welt tun kann, wird postmodern benutzt, um zu rechtfertigen, daß man nichts gegen all das Unrecht tun muß. Anders formuliert: Die unterstellte Ohnmacht ermächtigt den postmodernen Menschen damit zu einem friedvollen, hinreichend theoretisch abgesicherten Rückzug ins Private, ins Ästhetische. Doch dazu an anderer Stelle mehr.

 

 home.gif (20220 Byte)