1.3 Postmoderne Lebenswelt(en) oder: Die ?durchschnittliche Exotik des Alltags"


Den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Pluralisten und Antipluralisten liegt - wie bereits oben ausgeführt - eine Gemeinsamkeit zugrunde: Es wird allgemein davon ausgegangen, daß die gesellschaftliche Realität zunehmend durch Pluralisierung und Individualisierung gekennzeichnet ist und daß dieser Prozeß mit dramatischen Veränderungen der menschlichen Lebenswelten verbunden ist, eine Beobachtung, die von zahlreichen sozialwissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre bestätigt wird.
Was ist das dramatisch Neue an dem beobachteten Trend? Warum sehen sich vermehrt SozialwissenschaftlerInnen dazu veranlaßt, von einer neuen Qualität, gar einer neuen Epoche zu sprechen?
BECK und BECK-GERNSHEIM führen aus:

„Das historisch Neue besteht darin, daß das, was früher wenigen zugemutet wurde - ein eigenes Leben zu führen -, nun mehr und mehr Menschen, im Grenzfall allen abverlangt wird. Das Neue ist erstens die Demokratisierung von Individualisierungsprozessen und zweitens (eng damit zusammenhängend) die Tatsache, daß Grundbedingungen der Gesellschaft Individualisierungen begünstigen bzw. erzwingen [...]: die institutionalisierte Individualisierung."

Der von BECK und BECK-GERNSHEIM analysierte, ungeheuer mächtige, gesellschaftliche Druck zur Individualisierung ist - wie wir sehen werden - mit der gemeinhin als „postmodern" etikettierten Pluralisierung der Lebensstile eng verknüpft. Welch merkwürdig postmoderne Blüten der Druck zur Individualisierung mitunter treibt, beschreibt kaum jemand besser als Hans Magnus ENZENSBERGER:

„Niederbayerische Marktflecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein bevölkern sich mit Figuren, von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas Träumen ließ. Also golfspielende Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-Männer mit Schrebergärten, türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitees, mercedesfahrende Landstreicher, Autonome mit Bio-Gärten, waffensammelnde Finanzbeamte, pfauenzüchtende Kleinbauern, militante Lesbierinnen, tamilische Eisverkäufer, Altphilologen im Warentermingeschäft, Söldner auf Heimaturlaub, extremistische Tierschützer, Kokaindealer mit Bräunungsstudios, Dominas mit Kunden aus dem höheren Management, Computer-Freaks, die zwischen kalifornischen Datenbanken und hessischen Naturschutzparks pendeln, Schreiner, die goldene Türen nach Saudi-Arabien liefern, Kunstfälscher, Karl-May-Forscher, Bodyguards, Jazz-Experten, Sterbehelfer und Porno-Produzenten. An die Stelle der Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze und der Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter Millionen seinesgleichen gar nicht mehr auffällt."

Der „durchschnittliche Abweichler", von dem ENZENSBERGER spricht, ist einerseits das Resultat größerer Freiheit, andererseits aber auch Resultat eines größeren Zwangs, eines Zwangs zu vermehrter Eigenaktivität bezüglich der Entwicklung des individuellen Lebenskonzepts. Von Individualisierung nur im Sinne von Befreiung, Emanzipation, Zugewinn an Autonomie zu sprechen, wäre daher reichlich verkürzt. Der Prozeß der Individualisierung muß als ein höchst ambivalenter Prozeß der Vergesellschaftung verstanden werden. HEITMEYER, der in einer neueren Studie zur Gewalt bei Jugendlichen  mit Nachdruck auf die Schattenseiten der Individualisierung hinweist, listet die unterschiedlichen Dimensionen auf, die den Ambivalenz-Charakter der Individualisierung verdeutlichen:

„- Die Chancen der Lebensplanung und die Vielfalt der Optionen nehmen zu, aber die Berechenbarkeit der Lebenswege nimmt ab.
- Die Entscheidungschancen werden größer, aber es steigt auch der Entscheidungszwang.
- Die Gleichheit in manchen Bereichen wird größer, dadurch steigt aber auch der individuelle Konkurrenzdruck zur sozialen Plazierung und Statussicherung.
- Die Individualisierung nimmt zu, aber als Masse verschwindet sie in Standardisierung.
- Selbst wo Autonomie auftaucht, ist auch Anomie nicht weit.
- In dem Maße, in dem alte Strukturen und Umgangsformen reißen und neue Optionen sich vervielfachen bis zur Kontingenz, wächst das Bedürfnis nach Unterscheidung.
- Die Befreiung aus einem Lebenskorsett erhöht die Verlustmöglichkeiten sozialer Verordnung. [...]
- Der Verlust von Gewißheiten entsteht, aber das Bedürfnis nach ihnen bleibt [...]."

Auf die hier angedeuteten Ambivalenzen reagieren Individuen - wie auch der letzte Punkt vermuten läßt - häufig mit Fluchtbewegungen, denn durch Pluralisierung und Enttraditionalisierung von Lebensformen und der daraus resultierenden „Neuen Unübersichtlichkeit" „verstärkt und verschärft sich der Wunsch nach Klarheit, Überschaubarkeit, Einfachheit, und entsprechende gesellschaftliche Angebote stehen hoch im Kurs."  Dies hat - wie REHFUS bemerkt - einen neuen - manchmal recht obskuren - Glaubensboom zur Folge: „Man glaubt an die Wiedergeburt, den Astralleib, das deutsche Bier, an die Weltrevolution, die Fußballnationalmannschaft, die Macht der Frauen, den französischen Käse und trägt den Rudolf-Steiner-Gedächtnispullover."
Beispiel USA: Einer vom amerikanischen Newsweek-Magazin 1994 in Auftrag gegebenen repräsentativen Umfrage zufolge gibt es in den USA seit Ende der achtziger Jahre wieder einen starken Trend hin zu traditionellen religiösen Vorstellungen. Wie die Umfrage ergab, fühlen 58 Prozent der AmerikanerInnen heute ein starkes Verlangen nach Spirituellem, jedeR Dritte berichtet über religiöse/mystische Erlebnisse, jedeR Fünfte hat das Gefühl, daß sich Gott ihm/ihr im letzten Jahr offenbart habe und ganze 13 Prozent sahen oder spürten gar die Gegenwart eines Engels.

Heiner KEUPP weist in Zusammenhang mit den aus der „Furcht vor der Freiheit"  geborenen Fluchtbewegungen auf den NEW AGE-Psychoboom und die „Republikaner" hin. Hinzuzufügen wären zahlreiche andere, religiöse oder weltanschauliche Gruppierungen und Sinnangebote, die durch umfassende, dogmatische Weltdeutungsmuster vermeintlich Schutz vor postmodernen Identitätsrisiken bieten. (Wir werden diesen Fluchtbewegungen begegnen, wenn wir die prämodernen Postmodernismusreflexe skizzieren. )
Diejenigen, die sich nicht oder nicht vollends in prämoderne Hand begeben wollen, müssen versuchen, die existentielle Verunsicherung, die von der radikalen Enttraditionalisierung, der Aufhebung des „Sinn-Daches" ausgeht, dadurch zu bewältigen, daß sie die Anstrengung eines ständigen, aktiven „Sinn-Bastelns" unternehmen. HITZLER und HONER zufolge hat dieses, den postmodernen Menschen typischerweise kennzeichnende, individuelle Sinnbasteln „stets etwas von einem Patchwork bzw. von einer Collage, von jenem ästhetisch-technischen Verfahren also, diverse Sujets zu einem neuen Assoziationsraum zusammenzuschließen."
Der postmoderne, zur „Bastelexistenz" gezwungene Mensch, der - institutionell „ausgebettet"- dazu verurteilt ist, sein Lebensstil-Paket selbst zusammenzustellen, befindet sich dabei in einer sehr schwierigen, existentiellen Situation:

„Das „ganze Leben" erscheint [...] als „ein Quiz", in dem jedeR Einzelne sich stets neu entscheiden muß, wie seine/ihre ganz persönlichen Antworten auf die großen und kleinen Fragen des Lebens aussehen. Die Institutionen, die einst bei vielen dieser Entscheidungen helfend zur Seite standen, haben an Bedeutung verloren. Das Individuum wählt zunehmend autonom, ob es die Hochschule und/oder die Tanzschule absolviert, ob es sich im Heimatverein, in der Kirche, der Familie, in einem Verein für Pudelzucht oder einer Tantra-Selbsterfahrungsgruppe engagiert. Kurz: Im Prozeß der Individualisierung wurden wir - zumindest auf den ersten Blick! - schonungslos verurteilt: zur Freiheit auf Lebenszeit. Das klingt vielleicht besser, als es in Wirklichkeit ist. Denn ob der Prozeß der Individualisierung zur Autonomie des Individuums oder zum Zustand der Anomie führt, was letztlich eine neue Unmündigkeit zur Folge haben könnte, das ist bislang noch keineswegs geklärt."

HITZLER/HONER charakterisieren die existentielle Problematik des „Sinnbastlers" wie folgt:

„Er ist nicht mehr „zu Hause" in einem stimmigen Sinn-Kosmos, er ähnelt eher einem Vagabunden (oder allenfalls einem Nomaden) auf der Suche nach geistiger und gefühlsmäßiger Heimat. Sein Tages- und Lebenslauf ist gleichsam eine unstete und manchmal auch unsichere Wanderung, die er durch eine Vielzahl von Sinnprovinzen unternimmt. Er ist darauf angewiesen, die Drehbücher seines individuellen Lebens selber zu schreiben, die Landkarten für seine Orientierung in der Gesellschaft selber zu zeichnen, über seine Biographie, seine Persönlichkeit, sein Selbstverständnis selber Regie zu führen."

Der hier beschriebene Druck zum individuellen Sinnbasteln führt - da es keine allgemeinverbindliche Bastelanleitung gibt - zu dem oben von ENZENSBERGER eloquent beschriebenen Typus des „durchschnittlichen Abweichlers".
Dennoch: Die empirisch festzustellende, zunehmende Verschiedenartigkeit der Menschen ist unverkennbar auch Ausdruck einer neuen, großen Gemeinsamkeit: Die Menschen gleichen sich darin, daß sie äußere Umstände für das Innenleben funktionalisieren, ein Prinzip, das Gerhard SCHULZE mit dem Begriff „Erlebnisrationalität" umschreibt.  Er versteht unter dem Begriff „Erlebnisrationalität" eine „Systematisierung der Erlebni-s-o-rientierung. Das Subjekt wird sich selbst zum Objekt, indem es Situationen zu Erlebniszwecken instrumentalisiert. Erlebnisrationalität ist der Versuch, durch Beeinflussung äußerer Bedingungen gewünschte subjektive Prozesse auszulösen. Der Mensch wird zum Manager seiner eigenen Subjektivität, zum Manipulator seines Innenlebens."
„Erlebnisrationalität" kennzeichnet einen spezifischen Selbstbezug des Menschen, der charakteristisch für die Postmoderne zu sein scheint. Das mit „Erlebnisrationalität" gekoppelte „Projekt des schönen Lebens" ist - wie SCHULZE betont - nämlich alles andere als eine Selbstverständlichkeit:

„Es gab und gibt Gesellschaften mit anderen Selbstverständlichkeiten: Leben als Überleben; Leben als Dienen, Pflicht, Selbstaufopferung; Leben als Existenz mit metaphysischen Bezug. Bei solchen Lebensauffassungen ergeben sich schöne Erlebnisse allenfalls als Nebeneffekt, ohne zentrales Lebensziel zu sein. „Erlebnisrationalität" bringt eine Besonderheit unserer Gesellschaft auf den Begriff."

Fassen wir zusammen, so können wir sagen, daß Erlebnisrationalität/Erlebnisorientie-rung der rote Faden ist, der die so unterschiedlich erscheinenden Lebenstil-Pakete der Sinn-Bastler in der postmodernen Gesellschaft zusammenschnürt. „Erlebnisorientie-rung!", lautet das einheitliche Motto, von dem nur die wenigsten unter den „durchschnittlichen Abweichlern" abweichen. Die unmittelbare Suche nach individuellem Glück, der Versuch, die eigenen Bedürfnisse unmittelbar, im Hier und Jetzt zu befriedigen („we want it all and we want it now!") - dies ist die große Gemeinsamkeit, die umfassende Einheit, die postmoderne Pluralität erst sich entfalten läßt.
Interessant ist die Kontrastierung des postmodernen Handlungsmusters der Erlebnisorientierung mit dem alt-traditionellen (modernen!) „Handlungsmuster der aufgeschobenen Befriedigung, kennzeichnend etwa für das Sparen, das langfristige Liebeswerben, den zähen politischen Kampf, für vorbeugendes Verhalten aller Art, für hartes Training, für ein arbeitsreiches Leben, für Entsagung und Askese."  SCHULZE führt aus:

„Bei Handlungen dieses Typs wird die Glückshoffnung in eine ferne Zukunft projiziert, beim erlebnisorientierten Handeln richtet sich der Anspruch ohne Zeitverzögerung auf die aktuelle Handlungssituation. Man investiert Geld, Zeit, Aktivität und erwartet fast im selben Moment den Gegenwert."

In dieser Beschreibung der institutionell erzwungenen, individuellen Erlebnisorientierung finden wir bereits zentrale Punkte, die ab Kapitel 2.3 mit dem Idealtypus des Postmodernen in Zusammenhang gebracht werden.

 

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