Den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Pluralisten und Antipluralisten liegt - wie
bereits oben ausgeführt - eine Gemeinsamkeit zugrunde: Es wird allgemein davon
ausgegangen, daß die gesellschaftliche Realität zunehmend durch Pluralisierung und
Individualisierung gekennzeichnet ist und daß dieser Prozeß mit dramatischen
Veränderungen der menschlichen Lebenswelten verbunden ist, eine Beobachtung, die von
zahlreichen sozialwissenschaftlichen Arbeiten der letzten Jahre bestätigt wird.
Was ist das dramatisch Neue an dem beobachteten Trend? Warum sehen sich vermehrt
SozialwissenschaftlerInnen dazu veranlaßt, von einer neuen Qualität, gar einer neuen
Epoche zu sprechen?
BECK und BECK-GERNSHEIM führen aus:
Das historisch Neue besteht darin, daß das, was früher wenigen zugemutet wurde -
ein eigenes Leben zu führen -, nun mehr und mehr Menschen, im Grenzfall allen abverlangt
wird. Das Neue ist erstens die Demokratisierung von Individualisierungsprozessen und
zweitens (eng damit zusammenhängend) die Tatsache, daß Grundbedingungen der Gesellschaft
Individualisierungen begünstigen bzw. erzwingen [...]: die institutionalisierte
Individualisierung."
Der von BECK und BECK-GERNSHEIM analysierte, ungeheuer mächtige, gesellschaftliche Druck
zur Individualisierung ist - wie wir sehen werden - mit der gemeinhin als
postmodern" etikettierten Pluralisierung der Lebensstile eng verknüpft. Welch
merkwürdig postmoderne Blüten der Druck zur Individualisierung mitunter treibt,
beschreibt kaum jemand besser als Hans Magnus ENZENSBERGER:
Niederbayerische Marktflecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein
bevölkern sich mit Figuren, von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas
Träumen ließ. Also golfspielende Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-Männer
mit Schrebergärten, türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitees,
mercedesfahrende Landstreicher, Autonome mit Bio-Gärten, waffensammelnde Finanzbeamte,
pfauenzüchtende Kleinbauern, militante Lesbierinnen, tamilische Eisverkäufer,
Altphilologen im Warentermingeschäft, Söldner auf Heimaturlaub, extremistische
Tierschützer, Kokaindealer mit Bräunungsstudios, Dominas mit Kunden aus dem höheren
Management, Computer-Freaks, die zwischen kalifornischen Datenbanken und hessischen
Naturschutzparks pendeln, Schreiner, die goldene Türen nach Saudi-Arabien liefern,
Kunstfälscher, Karl-May-Forscher, Bodyguards, Jazz-Experten, Sterbehelfer und
Porno-Produzenten. An die Stelle der Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze und der
Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter Millionen
seinesgleichen gar nicht mehr auffällt."
Der durchschnittliche Abweichler", von dem ENZENSBERGER spricht, ist einerseits
das Resultat größerer Freiheit, andererseits aber auch Resultat eines größeren Zwangs,
eines Zwangs zu vermehrter Eigenaktivität bezüglich der Entwicklung des individuellen
Lebenskonzepts. Von Individualisierung nur im Sinne von Befreiung, Emanzipation, Zugewinn
an Autonomie zu sprechen, wäre daher reichlich verkürzt. Der Prozeß der
Individualisierung muß als ein höchst ambivalenter Prozeß der Vergesellschaftung
verstanden werden. HEITMEYER, der in einer neueren Studie zur Gewalt bei
Jugendlichen mit Nachdruck auf die Schattenseiten der Individualisierung hinweist,
listet die unterschiedlichen Dimensionen auf, die den Ambivalenz-Charakter der
Individualisierung verdeutlichen:
- Die Chancen der Lebensplanung und die Vielfalt der Optionen nehmen zu, aber die
Berechenbarkeit der Lebenswege nimmt ab.
- Die Entscheidungschancen werden größer, aber es steigt auch der Entscheidungszwang.
- Die Gleichheit in manchen Bereichen wird größer, dadurch steigt aber auch der
individuelle Konkurrenzdruck zur sozialen Plazierung und Statussicherung.
- Die Individualisierung nimmt zu, aber als Masse verschwindet sie in Standardisierung.
- Selbst wo Autonomie auftaucht, ist auch Anomie nicht weit.
- In dem Maße, in dem alte Strukturen und Umgangsformen reißen und neue Optionen sich
vervielfachen bis zur Kontingenz, wächst das Bedürfnis nach Unterscheidung.
- Die Befreiung aus einem Lebenskorsett erhöht die Verlustmöglichkeiten sozialer
Verordnung. [...]
- Der Verlust von Gewißheiten entsteht, aber das Bedürfnis nach ihnen bleibt
[...]."
Auf die hier angedeuteten Ambivalenzen reagieren Individuen - wie auch der letzte Punkt
vermuten läßt - häufig mit Fluchtbewegungen, denn durch Pluralisierung und
Enttraditionalisierung von Lebensformen und der daraus resultierenden Neuen
Unübersichtlichkeit" verstärkt und verschärft sich der Wunsch nach Klarheit,
Überschaubarkeit, Einfachheit, und entsprechende gesellschaftliche Angebote stehen hoch
im Kurs." Dies hat - wie REHFUS bemerkt - einen neuen - manchmal recht obskuren
- Glaubensboom zur Folge: Man glaubt an die Wiedergeburt, den Astralleib, das
deutsche Bier, an die Weltrevolution, die Fußballnationalmannschaft, die Macht der
Frauen, den französischen Käse und trägt den Rudolf-Steiner-Gedächtnispullover."
Beispiel USA: Einer vom amerikanischen Newsweek-Magazin 1994 in Auftrag gegebenen
repräsentativen Umfrage zufolge gibt es in den USA seit Ende der achtziger Jahre wieder
einen starken Trend hin zu traditionellen religiösen Vorstellungen. Wie die Umfrage
ergab, fühlen 58 Prozent der AmerikanerInnen heute ein starkes Verlangen nach
Spirituellem, jedeR Dritte berichtet über religiöse/mystische Erlebnisse, jedeR Fünfte
hat das Gefühl, daß sich Gott ihm/ihr im letzten Jahr offenbart habe und ganze 13
Prozent sahen oder spürten gar die Gegenwart eines Engels.
Heiner KEUPP weist in Zusammenhang mit den aus der Furcht vor der
Freiheit" geborenen Fluchtbewegungen auf den NEW AGE-Psychoboom und die
Republikaner" hin. Hinzuzufügen wären zahlreiche andere, religiöse oder
weltanschauliche Gruppierungen und Sinnangebote, die durch umfassende, dogmatische
Weltdeutungsmuster vermeintlich Schutz vor postmodernen Identitätsrisiken bieten. (Wir
werden diesen Fluchtbewegungen begegnen, wenn wir die prämodernen Postmodernismusreflexe
skizzieren. )
Diejenigen, die sich nicht oder nicht vollends in prämoderne Hand begeben wollen, müssen
versuchen, die existentielle Verunsicherung, die von der radikalen Enttraditionalisierung,
der Aufhebung des Sinn-Daches" ausgeht, dadurch zu bewältigen, daß sie die
Anstrengung eines ständigen, aktiven Sinn-Bastelns" unternehmen. HITZLER und
HONER zufolge hat dieses, den postmodernen Menschen typischerweise kennzeichnende,
individuelle Sinnbasteln stets etwas von einem Patchwork bzw. von einer Collage, von
jenem ästhetisch-technischen Verfahren also, diverse Sujets zu einem neuen
Assoziationsraum zusammenzuschließen."
Der postmoderne, zur Bastelexistenz" gezwungene Mensch, der - institutionell
ausgebettet"- dazu verurteilt ist, sein Lebensstil-Paket selbst
zusammenzustellen, befindet sich dabei in einer sehr schwierigen, existentiellen
Situation:
Das ganze Leben" erscheint [...] als ein Quiz", in dem jedeR
Einzelne sich stets neu entscheiden muß, wie seine/ihre ganz persönlichen Antworten auf
die großen und kleinen Fragen des Lebens aussehen. Die Institutionen, die einst bei
vielen dieser Entscheidungen helfend zur Seite standen, haben an Bedeutung verloren. Das
Individuum wählt zunehmend autonom, ob es die Hochschule und/oder die Tanzschule
absolviert, ob es sich im Heimatverein, in der Kirche, der Familie, in einem Verein für
Pudelzucht oder einer Tantra-Selbsterfahrungsgruppe engagiert. Kurz: Im Prozeß der
Individualisierung wurden wir - zumindest auf den ersten Blick! - schonungslos verurteilt:
zur Freiheit auf Lebenszeit. Das klingt vielleicht besser, als es in Wirklichkeit ist.
Denn ob der Prozeß der Individualisierung zur Autonomie des Individuums oder zum Zustand
der Anomie führt, was letztlich eine neue Unmündigkeit zur Folge haben könnte, das ist
bislang noch keineswegs geklärt."
HITZLER/HONER charakterisieren die existentielle Problematik des Sinnbastlers"
wie folgt:
Er ist nicht mehr zu Hause" in einem stimmigen Sinn-Kosmos, er ähnelt
eher einem Vagabunden (oder allenfalls einem Nomaden) auf der Suche nach geistiger und
gefühlsmäßiger Heimat. Sein Tages- und Lebenslauf ist gleichsam eine unstete und
manchmal auch unsichere Wanderung, die er durch eine Vielzahl von Sinnprovinzen
unternimmt. Er ist darauf angewiesen, die Drehbücher seines individuellen Lebens selber
zu schreiben, die Landkarten für seine Orientierung in der Gesellschaft selber zu
zeichnen, über seine Biographie, seine Persönlichkeit, sein Selbstverständnis selber
Regie zu führen."
Der hier beschriebene Druck zum individuellen Sinnbasteln führt - da es keine
allgemeinverbindliche Bastelanleitung gibt - zu dem oben von ENZENSBERGER eloquent
beschriebenen Typus des durchschnittlichen Abweichlers".
Dennoch: Die empirisch festzustellende, zunehmende Verschiedenartigkeit der Menschen ist
unverkennbar auch Ausdruck einer neuen, großen Gemeinsamkeit: Die Menschen gleichen sich
darin, daß sie äußere Umstände für das Innenleben funktionalisieren, ein Prinzip, das
Gerhard SCHULZE mit dem Begriff Erlebnisrationalität" umschreibt. Er
versteht unter dem Begriff Erlebnisrationalität" eine Systematisierung
der Erlebni-s-o-rientierung. Das Subjekt wird sich selbst zum Objekt, indem es Situationen
zu Erlebniszwecken instrumentalisiert. Erlebnisrationalität ist der Versuch, durch
Beeinflussung äußerer Bedingungen gewünschte subjektive Prozesse auszulösen. Der
Mensch wird zum Manager seiner eigenen Subjektivität, zum Manipulator seines
Innenlebens."
Erlebnisrationalität" kennzeichnet einen spezifischen Selbstbezug des
Menschen, der charakteristisch für die Postmoderne zu sein scheint. Das mit
Erlebnisrationalität" gekoppelte Projekt des schönen Lebens" ist -
wie SCHULZE betont - nämlich alles andere als eine Selbstverständlichkeit:
Es gab und gibt Gesellschaften mit anderen Selbstverständlichkeiten: Leben als
Überleben; Leben als Dienen, Pflicht, Selbstaufopferung; Leben als Existenz mit
metaphysischen Bezug. Bei solchen Lebensauffassungen ergeben sich schöne Erlebnisse
allenfalls als Nebeneffekt, ohne zentrales Lebensziel zu sein.
Erlebnisrationalität" bringt eine Besonderheit unserer Gesellschaft auf den
Begriff."
Fassen wir zusammen, so können wir sagen, daß
Erlebnisrationalität/Erlebnisorientie-rung der rote Faden ist, der die so unterschiedlich
erscheinenden Lebenstil-Pakete der Sinn-Bastler in der postmodernen Gesellschaft
zusammenschnürt. Erlebnisorientie-rung!", lautet das einheitliche Motto, von
dem nur die wenigsten unter den durchschnittlichen Abweichlern" abweichen. Die
unmittelbare Suche nach individuellem Glück, der Versuch, die eigenen Bedürfnisse
unmittelbar, im Hier und Jetzt zu befriedigen (we want it all and we want it
now!") - dies ist die große Gemeinsamkeit, die umfassende Einheit, die postmoderne
Pluralität erst sich entfalten läßt.
Interessant ist die Kontrastierung des postmodernen Handlungsmusters der
Erlebnisorientierung mit dem alt-traditionellen (modernen!) Handlungsmuster der
aufgeschobenen Befriedigung, kennzeichnend etwa für das Sparen, das langfristige
Liebeswerben, den zähen politischen Kampf, für vorbeugendes Verhalten aller Art, für
hartes Training, für ein arbeitsreiches Leben, für Entsagung und Askese."
SCHULZE führt aus:
Bei Handlungen dieses Typs wird die Glückshoffnung in eine ferne Zukunft
projiziert, beim erlebnisorientierten Handeln richtet sich der Anspruch ohne
Zeitverzögerung auf die aktuelle Handlungssituation. Man investiert Geld, Zeit,
Aktivität und erwartet fast im selben Moment den Gegenwert."
In dieser Beschreibung der institutionell erzwungenen, individuellen Erlebnisorientierung
finden wir bereits zentrale Punkte, die ab Kapitel 2.3 mit dem Idealtypus des Postmodernen
in Zusammenhang gebracht werden.