Michael Schmidt-Salomon

Die Kannibalen kommen!

Editorial zu MIZ 3/2003
Heft-Schwerpunkt:
"Heilige Kühe: Wie lange wird der Staat die Kirchen noch subventionieren?"
(siehe auch: www.miz-online.de/)

Man mag es nicht glauben, aber auch dauergestresste MIZ-Redakteure fahren gelegentlich in Urlaub. Mich zog es dieses Jahr in den Süden Frankreichs, wo ich mit Kind und Kegel auf einem idyllischen, fast steinzeitlich anmutenden Hippie-Campingplatz (ohne Stromversorgung und höchst bescheidenen sanitären Einrichtungen) die Ferien verbrachte. Um nicht völlig von der Zivilisation abgeschnitten zu sein, hatte ich mir ein ganzes Arsenal an Büchern, Zeitschriften und Magazinen eingepackt. Ob es nun daran lag, dass ich als „edler 2-Wochen-Freizeit-Wilder“ einen anderen, distanzierteren Blick auf unsere Gesellschaft entwickelte, oder an den hohen Temperaturen, denen ich nur durch einen Sprung ins Wasser oder den Besuch einer Höhle entfliehen konnte: Unsere sog. „Hochkultur“ wirkte auf mich primitiver als je zuvor, was zweifellos dadurch verstärkt wurde, dass einige der Artikel, die ich las, jenes unappetitliche Phänomen beleuchteten, das gemeinhin (ob zu Recht oder zu Unrecht sei einmal dahingestellt) mit sog. „primitiven Kulturen“ in Zusammenhang gebracht wird: Kannibalismus.

Auf dem Titelbild des Stern vom 22. Juli prangte das Bild von Armin Meiwes, des berühmt-berüchtigten „Kannibalen von Rotenburg“, der den Diplomingenieur Bernd Brandes mit dessen Einverständnis geschlachtet und gegessen hatte. In der Titelstory konnte der Leser nicht nur schaurige Fotos vom Tatort bestaunen, er erfuhr auch zahlreiche Einzelheiten zum Tathergang, unter anderem, dass Meiwes nach vollzogener Schlachtung Brandes’ Knochen, Haut und Innereien im Garten vergraben hatte. Dabei soll er – wie bei einer ordentlichen christlichen Beerdigung üblich – den 23. Psalm gebetet haben: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finstren Tal, fürchte ich kein Unglück. Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang.“ Stilecht gestaltete Meiwes auch das Ende der Zeremonie, indem er das „Vater unser“ anstimmte.

Wo lagen die Motive für Meiwes’ Wahnsinnstat? Der kleine Armin, berichtete der Stern, habe schon mit zwölf Jahren in der Fantasie einen Klassenkameraden zerstückelt und verspeist, damit er endlich jemand habe, der immer bei ihm sei. Der Junge habe beim Gedanken an Menschenfleisch Nähe, Geborgenheit und Sicherheit empfunden, meinte auch der Psychiater, der für die Staatsanwaltschaft Kassel das Gutachten erstellte. Die Öffentlichkeit war schockiert und irritiert zugleich: Wie konnte ein Mensch des 21. Jahrhunderts auf den abwegigen Gedanken kommen, einen Artgenossen verspeisen zu müssen, um so mit ihm zu „verschmelzen“? Warum verstand Meiwes, der so gar nicht in das Bild des kaltblütigen Mörders passte, den kannibalischen Akt gar im Sinne einer „mystischen Hochzeit“?

Zeitgleich zum Stern-Bericht beschäftigten sich die Gazetten mit jener „skandalösen“ Abendmahlfeier, die auf dem 1. Ökumenischen Kirchentag in Berlin stattgefunden und heftige inner- wie interkonfessionelle Konflikte ausgelöst hatte. Seltsamerweise schien nur dem „Freizeit-Wilden“ aus Südfrankreich die enge thematische Verwandtschaft zum Fall Meiwes aufzufallen. Die sonstigen Kommentatoren übersahen völlig, dass es sich auch beim Theologen-Streit um das Abendmahl letztlich nur um eine Frage des rituellen Kannibalismus handelte. Da ich die kuriosen theologischen Hintergründe, die hinter dem katholischen Verbot des ökumenischen Abendmahls stehen, schon früher dargelegt habe (siehe MIZ 2/01), kann ich mich hier auf das Wesentliche beschränken: Zunächst muss festgehalten werden, dass sowohl Katholiken als auch Lutheraner von amtskirchlicher Seite her glauben müssen, während des Abendmahls wahrhaftig (nicht bloß symbolisch – das wäre calvinistische Ketzerei! (1)) den „Leib des Herrn“ zu verspeisen, wodurch sie „eins mit IHM werden“ (in etwa analog zu Meiwes, der sich auf ähnlich kulinarische Weise mit Brandes „vereinigte“). Aber: Es besteht zwischen den Konfessionen erbitterte Uneinigkeit darüber, wie dieser „Leib des Herrn“ in die „vegetarische Hostie“ kommt. Der Streit entzündet sich also an der Frage, wie das rituell kannibalische Abendmahl theologisch korrekt zubereitet wird. Für Katholiken ist für die Brot-in-Fleisch-Verwandlung (Fachbegriff: „Transsubstantiation“) der Priester verantwortlich, Luther hingegen war der Auffassung, das mache „der liebe Gott“ persönlich, weshalb er die „Brotverzauberungslizenz“ („Priesterweihe“) abschaffte, was wiederum die katholischen Geistlichen heftig erzürnte – bis zum heutigen Tag!

Auch wenn man es für einen Witz halten könnte, es entspricht der düsteren Realität: Die konfessionell unterschiedliche Auffassung bezüglich der Zubereitung des „Jesusschmauses“ allein ist der theologische Grund, warum das ökumenische Abendmahl von katholischer Seite strengstens verboten ist. Deshalb mussten abtrünnige Priester wie Hermann Münzel (2000) oder Gotthold (sic!) Hasenhüttl (2003) gemaßregelt werden (2), deshalb verspottete Bischof Mixa das evangelische Abendmahl als „geselliges Brötchenessen“ und „Sonntagsbrunch mit Alkoholausschank“! Selbstverständlich: Als gutkatholischer Kannibale hat Mixa beste Gründe, über den evangelischen Ritus abfällig zu grinsen, denn die Protestanten kauen nach katholischem Verständnis nur auf völlig wertlosem, weil „jesusfreiem“ Gebäck herum! Für einen echten Katholiken sind Protestanten bloß „eingebildete Kannibalen“. Sie können das „Mysterium der Kommunion“ nicht erleben, weil es ohne den Segen eines geweihten Priesters nicht zu einer wirklichen kannibalischen Kulthandlung, sprich: zur „geistig-leiblichen Vereinigung mit Christus“ kommen kann!

Nun könnte man über den hier zum Vorschein kommenden Irrationalismus schallend lachen, würde er als solcher auch gesellschaftlich anerkannt und in eine entsprechende, närrische Randnische verwiesen. Leider aber ist das Gegenteil der Fall! Kommentatoren erwägen in den Tagesthemen ernsthaft und mit bedeutungsschwangerer Miene die „Fallstricke der Ökumene“, anstatt angesichts des offensichtlichen Irrsinns laut loszuprusten! Schlimmer noch: Als besäße der Staat Geld im Überfluss, wird der christliche Steinzeitkult, den schon Sigmund Freud als Form des primitiven rituellen Kannibalismus demaskiert hatte, auch heute noch – weit über Schmerzensgrenze hinaus! – öffentlich subventioniert! Neben den Kirchensteuern kassieren die Kirchen zusätzlich Jahr für Jahr einige Milliarden Euro aus der öffentlichen Hand, Subventionen, die in keinem Subventionsbericht der Regierung auftauchen, die aber dafür sorgen, dass sogar der konfessionslose „Ferien-Freizeit-Wilde“ aus Südfrankreich mit seinen Steuern zum Erhalt des christlichen Kannibalismus beiträgt.

Angesichts der aktuellen Finanzlage sollten sich Politiker dringend die Frage stellen, warum die öffentliche Hand weiterhin einen Kultus subventionieren sollte, an dessen zentrale Dogmen kein Mensch, der halbwegs bei Verstand ist, glauben kann. Haben wir denn wirklich keine dringenderen Aufgaben zu erledigen als die Klärung der Frage, auf welche Weise der vermeintliche Leib Christi in den Magen der Gläubigen gelangen sollte? Warum, bitteschön, sollten derart geisteskranke Diskurse weiterhin großzügig gesponsert werden, während gleichzeitig in Fragen des Gesundheitswesens, der Sozialhilfe, der Altersversorgung schärfste Einschnitte gefordert werden? Warum landet der Kannibale Meiwes im Gefängnis, während der Kannibale Mixa auf Kosten des Steuerzahlers (nicht nur der Katholiken!) für seine pathologisch anmutenden, rituellen Handlungen Monat für Monat hohe Bezüge erhält? Zugegeben, es bestehen Unterschiede: Das eine Kannibalismusopfer (Brandes) ließ sich erst vor kurzem freiwillig töten, während das andere (Christus) sich schon vor 2000 Jahren als Schlachtopfer („Lamm Gottes“) anbot. Außerdem konnte Meiwes natürlich auf die "Transsubstantiation" verzichten, da das Fleisch bereits bratfertig vor ihm lag und nicht auf mysteriöse Weise in ein Gebäck gezaubert werden musste. Ansonsten aber sind die Parallelen gewaltig: Nicht nur Meiwes Liebe zu Brandes, auch die christliche Liebe zum Erlöser geht durch den Magen – selbst wenn dies den meisten (Tauf-)Schein-Christen kaum bewusst sein dürfte.

Mag sein, dass die hohen Temperaturen in Verbindung mit dem zweiwöchigen Zivilisationsentzug mein Urteilsvermögen getrübt haben, aber als „Ex-Freizeit-Wilder“ finde ich die Vorstellung, dass im 21. Jahrhundert „rituelle Kannibalen“ auf Kosten des Steuerzahlers in den öffentlichen Schulen und Universitäten unseres Landes lehren und sogar zu ethischen Fragen gehört werden, ungeheuerlich. Zu Testzwecken werde ich vielleicht den nächsten Urlaub in einer norddeutschen Großstadt verbringen. Ob dies allerdings zu einer „ausgewogeneren“ Berichterstattung und einer entsprechend bedeutungsschwangeren Miene a la Tagesthemen führen wird, darf bezweifelt werden…

Anmerkungen:

(1) Calvin brüskierte Katholiken und Lutheraner dadurch, dass er die Verwandlung von Wein in Blut und Brot in Fleisch als rein symbolischen Akt begriff. Denn für Katholiken, Lutheraner (aber auch Orthodoxe) gilt weiterhin die dogmatische Festlegung des Konzils von Trient: „Wer leugnet, dass im Sakrament der heiligen Eucharistie wahrhaft, wirklich und wesentlich der Leib und das Blut zugleich mit der Seele und mit der Gottheit unseres Herrn Jesus Christus und folglich der ganze Christus enthalten ist, und behauptet, er sei in ihm nur wie im Zeichen, im Bild oder in der Wirksamkeit, der sei ausgeschlossen.“ Wer meint, dass ein solch widersinniges Dogma doch nicht bis heute verbindlich sein könne, sollte sich durch einen Blick in den aktuellen „Katechismus der Katholischen Kirche“ eines Besseren belehren lassen.

(2) Hätten die abtrünnigen katholischen Priester Münzel und Hasenhüttl das ökumenische Abendmahl nur mit Mitgliedern der Orthodoxen Kirche gefeiert, wäre es zu keinerlei Strafmaßnahmen gekommen, da auch die orthodoxen Christen die Brot-in-Fleisch-Verwandlung auf den Segensspruch eines geweihten Priesters zurückführen (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, S. 384). Dies zeigt, dass das katholische Verbot der ökumenischen Eucharistie nicht bloß auf einen Konkurrenzkampf der Konfessionen zurückzuführen ist, sondern dass hier tatsächlich die (für aufgeklärt denkende Menschen reichlich absurd erscheinende) Frage im Zentrum steht, wie das Abendmahl, also der „Leib des Herrn“, theologisch korrekt zubereitet wird.

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