Michael Schmidt-Salomon

Repressive Toleranz

Editorial zu MIZ 1/2005
Heft-Schwerpunkt:
"Islamismus in Deutschland. das Problem der falschen Toleranz.
(siehe auch: www.miz-online.de/)

Leben wir in einem „aufgeklärten Zeitalter“ oder einem „Zeitalter der Aufklärung“? Diese Frage stellte sich Immanuel Kant 1784 (1) und seither wird sie Jahr für Jahr immer wieder aufs Neue gestellt – nicht in Günter Jauchs Millionärsquiz und auch nicht im Deutschen Bundestag, wohl aber in den Gymnasien unseres Landes. Mithilfe dieser „Transferfrage“ wollen Lehrerinnen und Lehrer überprüfen, ob ihre Schülerinnen und Schüler Kants „Beantwortung der Frage ‚Was ist Aufklärung?’“ wirklich verstanden haben.

Clevere SchülerInnen pflegen auf diese hinterlistige Aufgabenstellung mit einer geschickten „Einerseits/Andererseits“-Strategie zu antworten. Einerseits sei die Aufklärung zwar vorangeschritten, die Mehrheit der Menschen sei heute aufgeklärter als im 18. Jahrhundert, man würde nicht mehr jedem abergläubischen Spuk hinterher rennen und selbst in religiösen Dingen mehr und mehr den eigenen Verstand gebrauchen. Andererseits aber könne man kaum sagen, dass das Projekt der Aufklärung vollendet sei. Um sich vom Gegenteil zu überzeugen, müsse man nur einen Blick in die deutsche Talkshowlandschaft werfen. Die Gestalten, die dort aufträten, seien wahrlich keine Musterbeispiele für Autonomie und Mündigkeit im Kantschen Sinne. Alles in allem müsse man das Projekt der Aufklärung wohl als unerreichbare Utopie begreifen. Wahrscheinlich werde es ein wirklich aufgeklärtes Zeitalter niemals geben, schon allein deshalb, weil die Menschen vielleicht genügend Mut besäßen, aber der Verstand, dessen man sich mutig bedienen solle, doch eher Mangelware sei.

Eine solche Schülerantwort, die in der einen oder anderen Variante wohl hunderte Mal pro Jahr abgegeben wird, klingt nicht nur ziemlich aufgeklärt, sondern auch reichlich abgeklärt, an Erfahrung gereift. Der kämpferische Impetus, der das Projekt der Aufklärung vorantrieb, ist uns Heutigen einigermaßen abhanden gekommen. Ja, die Aufklärung selbst erscheint mitunter als ein „Thema von gestern“, vielleicht sogar als ein Thema „ewig Gestriger“. Wie aber konnte es soweit kommen?

Eine wichtige Rolle hat hier sicherlich die Enttäuschung darüber gespielt, dass die optimistischen Erwartungen der Aufklärer nicht erfüllt wurden. Kant hatte den „ewigen Frieden“ versprochen, gekommen aber ist Auschwitz, Marx hatte das „Reich der Freiheit“ in Aussicht gestellt, gekommen aber ist der Archipel Gulag. Dass unter dem Eindruck solcher Misserfolge der Enthusiasmus für das Projekt der Aufklärung leiden musste, ist leicht nachzuvollziehen.

Dennoch liegt unser Desinteresse an der Aufklärung wahrscheinlich weniger in den Misserfolgen als in den Erfolgen des aufklärerischen Projekts begründet. Die Früchte der Aufklärung genießen wir heute in großer Selbstverständlichkeit – und damit sind sie für uns in gewisser Weise uninteressant geworden. Ohne darüber nachzudenken, benutzen wir Tag für Tag ein ganzes Arsenal an technischen Apparaten, die nur dank der gewachsenen wissenschaftlichen Naturerkenntnis entwickelt werden konnten. Auch die Religions- und Ideologiekritik der Aufklärung hat Wirkungen gezeigt. Die überwältigende Mehrheit selbst der Berufsreligiösen kann hierzulande fundamentalistischen Heilserzählungen nichts mehr abgewinnen. Dass ein Werk wie Kants „Kritik der reinen Vernunft“ auf den „Index Romanum“, der bis zum 2. Vaticanum für Katholiken verbindlichen Liste der verbotenen Literatur, gelangte, wird aufgeklärten Christen heute kaum noch einleuchten.

Aufklärung und Glauben scheinen sich – zumindest in weiten Teilen Europas – nach einem Jahrhunderte währenden Kampf trefflich miteinander versöhnt zu haben. Die Gläubigen geben sich aufgeklärt, die Aufklärer abgeklärt, nur noch vereinzelt gibt es ernstzunehmende Denkanschläge auf religiöse Glaubensburgen.

Diese „aufgeklärte Abgeklärtheit“ wäre aus religionskritischer Perspektive vielleicht ärgerlich, aber wenig besorgniserregend, würde das Projekt der Aufklärung nicht zunehmend selbst unter Druck geraten und deshalb auch einer entschiedeneren Verteidigung bedürfen. Um die Notwendigkeit einer solchen Verteidigung zu erkennen, muss man keineswegs in die Ferne schweifen (beispielsweise nach Amerika oder in den Nahen Osten), denn einige der hartnäckigsten Feinde der offenen Gesellschaft befinden sich mitten unter uns.

Multikulti-Illusionen haben lange Zeit den Blick dafür getrübt, dass sich in Deutschland eine islamische Parallelgesellschaft herausgebildet hat, die es darauf anlegt, selbst die fundamentalsten rechtstaatlichen Prinzipien zu negieren. Um nicht in den Verdacht der Ausländerfeindlichkeit zu geraten, trauten sich in der Vergangenheit nur wenige Experten, auf die Gefahren der fortschreitenden Islamisierung von Migrantenfamilien hinzuweisen. (2) Wer sich als politisch progressiv verstand (und den „Gauweilers“ der Republik keine zusätzliche Munition liefern wollte), pries lieber das „Abenteuer der kulturellen Vielfalt“, die enorme Bereicherung durch das „Fremde“ – und hatte damit zweifellos auch Recht. (Wer lebt schon gern „allein unter Deutschen“?! Zwei Wochen Neckermann-Reisen auf Mallorca sollten jeden eines Besseren belehren…).

Allerdings: Im Zuge dieser einfältigen Vielfaltlobhudelei wurde sträflichst übersehen, dass man nicht nur Kebab, Bauchtanz, orientalische Musik, Kunst und Lyrik importierte, sondern auch die ideologischen Keimlinge einer Religion, die weit weniger als das europäische Christentum gezwungen war, durch die Dompteurschule der Aufklärung zu gehen, und sich deshalb auch keine zahmeren, menschenfreundlicheren Umgangsformen angewöhnen musste. Wenn wir heute vor dem Scherbenhaufen einer völlig gescheiterten Integrationspolitik stehen, dann nicht zuletzt deshalb, weil das demokratiefeindliche Potential des Islam maßlos unterschätzt wurde. Statt die Politik konsequent am aufklärerischen Leitbild des säkularen Staates auszurichten, war die Diskussion von zwei konträren Positionen geprägt, die als ausländerpolitisches Kombipack dafür sorgten, dass die Saat des Islamismus auf deutschem Boden wunderbar gedeihen konnte – ein wunderbares Beispiel für „deutsche Wertarbeit“: Während die absurde Forderung der Anpassung an eine „deutsche (christliche) Leitkultur“ die Migrantenfamilien noch stärker in die kulturelle Isolation trieb, schuf die multikulturelle Beschwichtigungspolitik, die jede Form der grundlegenden Islamkritik als „Kulturimperialismus“ missdeutete, die Freiräume für eine ungehemmte Islamisierung innerhalb der von westlichen Einflüssen weitgehend abgeschirmten Migrantenszene. (3)

Sämtliche Studien, die sich mit dem Thema eingehender beschäftigten, haben gezeigt, dass die optimistische Erwartung, dass sich die Menschen schon automatisch zu Demokraten entwickeln würden, wenn man ihnen rechtsstaatlich garantierte Grundrechte einräumt, hoffnungslos naiv war. (4) Es ist an der Zeit, aus dieser Erkenntnis die richtigen politischen Schlüsse zu ziehen. Das bedeutet vor allem, dass die Politik der „repressiven Toleranz“ (5) endlich aufgegeben werden muss. Das Erlassen von Gesetzen, die die Ausübung der Religionsfreiheit bzw. das Ausleben kultureller Traditionen dort rigoros begrenzen, wo sie mit rechtsstaatlichen Prinzipien kollidieren, ist in diesem Kontext zwar ein notweniger, aber kein hinreichender Schritt. Gerade im Bildungsbereich müssten neue Wege gegangen werden. So wäre beispielsweise statt der „flächendeckenden Einführung des Islamunterrichts“, von der u.a. Renate Künast träumt, eine flächendeckende Einführung von LER (ohne Abmeldemöglichkeit!) angesagt. (6) Ohne solche integrativen Maßnahmen, die für alle – selbstverständlich nicht nur für Menschen mit muslimischen Hintergrund! – zu gelten haben, wird das Phänomen der zunehmenden „kulturellen Gettoisierung“ kaum zu überwinden sein.

Gewiss: Wer so argumentiert, muss damit rechnen, dass er Prügel bezieht – und zwar von allen politischen Lagern, insbesondere von jenen, die sich gerne mit dem Begriff „Antiimperialismus“ schmücken. Erst letzte Woche geisterte ein Artikel durchs Internet, der Islamkritik als Ausdruck von „Eurozentrismus“, gar von „Rassismus“, geißelte. (7) Interessant war hierbei nicht nur, dass in dem Essay Richtiges (beispielsweise der Hinweis auf die enorme Bedeutung arabischer Universitäten für die Wiederentdeckung des antiken Wissens) mit Absurdem (Zitat: „Die islamische Kultur war - und ist bis heute - stets integrierend und nicht ausschließend“) auf abenteuerliche Weise verwoben wurde, sondern dass die Verfasser den Frontverlauf im Kampf um die dominante Kulturauffassung dramatisch falsch interpretierten. Denn es geht hier nicht allein um den Konflikt zwischen christlich und muslimisch geprägten Kulturen, sondern gleichzeitig um die Auseinandersetzung zwischen humanistisch-aufklärerischen und religiös bestimmten Kulturauffassungen.

In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass es ein schwerwiegender Irrtum ist, Humanismus und Aufklärung dem „christlichen Abendland““ zuzurechnen. Wer so argumentiert, weiß anscheinend nichts über die Entwicklung des aufklärerischen Denkens, dessen Anfänge lange vor dem Christentum liegen und das von diesem auch über Jahrhunderte hinweg mit allen Mitteln bekämpft wurde. Schlimmer noch: Er ignoriert, dass aufklärerische, humanistische Positionen auch außerhalb Europas von bedeutenden Denkern vertreten wurden, nicht zuletzt auch in jenen Regionen, in denen der Islam die vorherrschende Form der religiösen Hirnvernebelung war.

Wer dies ernsthaft bestreiten mag, sollte einen Blick in das 2004 erstmals auf Deutsch erschienene Buch von Ibn Warraq „Warum ich kein Muslim bin“ werfen. (8) Warraq, früher selber gläubiger Muslim, liefert in diesem Standardwerk, das nicht von ungefähr an den Titel des berühmten Buchs von Bertrand Russell erinnert (9), nicht nur eine profunde Kritik des Islam, er führt auch mehr als ein Dutzend namhafter Gelehrter aus dem muslimischen Kulturkreis auf, die bereits vor Jahrhunderten dezidiert aufklärerische Positionen vertraten (wofür sie oftmals mit ihrem Leben bezahlen mussten). Ergo: Wer Humanismus und Aufklärung als eurozentristische Traditionen begreift, beweist damit nur eines, nämlich dass er selbst auf verschrobene Weise eurozentristisch denkt, da er die weit über Europa hinausreichende Bedeutung und Verwurzelung dieser „alternativen Leitkultur“ ignoriert.

Insofern ist es ein wahrer Glücksfall, dass in letzter Zeit zunehmend islamkritische Bücher von Autoren muslimischer Herkunft erscheinen. AutorInnen wie Ibn Warraq oder Necla Kelek unterziehen nicht nur die kulturelle Rückständigkeit ihrer ehemaligen Glaubensbrüder und -schwestern einer scharfen Kritik, sie scheuen sich auch nicht, den westlichen Intellektuellen vorzuwerfen, im Kampf gegen die Feinde der offenen Gesellschaft eklatant versagt zu haben. Mit ihren erfrischend lebendigen „Plädoyers wider die falsche Toleranz“ greifen diese Autorinnen und Autoren auf ein wesentliches, fast schon verloren geglaubtes Element der aufklärerischen Tradition zurück. Für die Aufklärung nämlich war Toleranz niemals ein „Wert an sich“ – aus gutem Grund: Denn wer wirklich im Sinne der Aufklärung für Wahrheit und Humanität eintreten möchte, der kann das offensichtlich Inhumane nicht tolerieren – auch dann nicht, wenn es sich auf eine Jahrhunderte alte „heilige“ Tradition stützen kann.

Vielleicht kann die hier zum Vorschein kommende „Kritik der repressiven Toleranz“ dem sanft entschlafenen Projekt der Aufklärung in Deutschland neues Leben einhauchen. Notwendig wäre dies allemal. Denn wenn die Prinzipien der Aufklärung nicht entschieden verteidigt werden, könnte im schlimmsten Fall ein Szenario Wirklichkeit werden, mit dem der gute alte Kant niemals gerechnet hätte, nämlich dass nach ihm kommende Generationen weder in einem „aufgeklärten Zeitalter“ noch in einem „Zeitalter der Aufklärung“ leben werden, sondern in einem „Zeitalter religiöser Gegenaufklärung“, in dem Gotteskrieger verschiedenster Couleur den Takt vorgeben, nach dem die gesellschaftlichen Verhältnisse zu tanzen haben…


Anmerkungen

(1) Kant, Immanuel (1784/1983): Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ In: Kant, Immanuel (1983): Werke in zehn Bänden. Darmstadt, Bd. 9, S. 59

(2) In diesem Zusammenhang muss man übrigens Alice Schwarzer und der Emma-Redaktion ein großes Lob aussprechen, da sie auf das Problem des Islamismus in Deutschland schon früh aufmerksam gemacht haben, vgl. hierzu auch Schwarzer, Alice (Hrsg.) (2002): Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz. Köln.

(3) Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass sich ein beachtlicher Teil der Migranten als nichtreligiös versteht, weshalb es Unsinn ist, beispielsweise die in Deutschland lebenden türkischen Einwanderer automatisch der Gruppe der Muslime zuzurechnen.

(4) vgl. hierzu Kelek, Necla (2005): Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland. Köln.

(5) Zum Begriff der „repressiven Toleranz“ vgl. u.a. Marcuse, Herbert (1966): Repressive Toleranz. In: Wolff, Robert/Moore, Barrington/Marcuse, Herbert: Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt.

(6) Dass in Berlin nun offensichtlich die Weichen zur Einführung von LER gestellt werden, zeigt, dass zumindest einige Politiker die Zeichen der Zeit erkannt haben.

(7) Sedunia - Initiative für Internationale Politik: „Europäische Identität und Abgrenzung von der islamischen Kultur“. http://www.sedunia.org

(8) Warraq, Ibn (2004): Warum ich kein Muslim bin. Berlin.

(9) Russell, Bertrand (1968): Warum ich kein Christ bin. Über Religion, Moral und Humanität. Reinbek.

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