Michael Schmidt-Salomon

Ein Gespenst geht um...

Editorial zu MIZ 1/2004
Heft-Schwerpunkt:
"Ein Gespenst geht um... Perspektiven für die säkulare Gesellschaft
(siehe auch: www.miz-online.de/)

Nein, es handelt sich nicht um das Gespenst des Kommunismus, von dem einst Marx und Engels sprachen, wohl aber um ein Gespenst, das in der Vergangenheit (auch aus politischen Gründen) immer wieder mit der berüchtigten kommunistischen Spukgestalt verwechselt wurde: das Gespenst des Säkularismus.

Auch gegen dieses Gespenst haben sich Parteien und Regierungen „aller Herren Länder“ verbündet. Seltsamerweise beteiligen sich an dieser „heiligen Hetzjagd“ Kräfte, die man zuvor kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen wollte: Ehemalige „kritische Theoretiker“ wie Jürgen Habermas, der jenseits aller kritischen Vernunft von einer „postsäkularen Gesellschaft“ fabuliert, finden sich ebenso unter den „Säkularismus-Exorzisten“ wie jene „ewig gestrigen Wirrköpfe“ im Schlage des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann, der in den säkularen Kräften gar das „Tätervolk“ des 20. Jahrhunderts entdeckt zu haben glaubt.

Aus dieser Tatsache geht – wie wir analog zu Marx und Engels feststellen können (1) – zweierlei hervor: 1. Der Säkularismus wird als wirkmächtige Zeitströmung anerkannt. 2. Es ist hohe Zeit, dass die Konfessionslosen „ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen“ offen darlegenlegen und dem „Märchen vom Gespenst“ des Säkularismus eine empirischen und logischen Kriterien entsprechende, aber auch (bezogen auf die Lebenspraxis) attraktive Sicht des Säkularismus entgegenstellen.

Ging es in den letzten Jahrhunderten der freigeistigen Bewegung hauptsächlich um eine Entzauberung religiöser Mythen sowie um den politischen Kampf gegen religiös gestützte Repression („negative Säkularisierung“), sehen sich die Freigeister der Gegenwart mit einer in dieser Dimension neuen Aufgabe konfrontiert, nämlich der Entwicklung und gesellschaftlichen Verankerung von säkularen Alternativen, die sich in Konkurrenz zu den bestehenden religiös geprägten Angeboten bewähren müssen („positive Säkularisierung“). (2)

In Deutschland hat sich die Notwendigkeit dieser Kurskorrektur seit der sog. „Wiedervereinigung“ dramatisch verschärft. Es hat einige Zeit gedauert, bis sich die Konfessionslosen an den neuen Status gewöhnt hatten, plötzlich zu den drei großen „Konfessionen“ (katholisch, evangelisch, konfessionslos) im Lande zu gehören. Langsam aber scheinen die Konfessionslosenverbände die damit verbundene gesellschaftliche Verantwortung in konsequenterer Weise annehmen zu wollen, was angesichts der Prognose, dass es in absehbarer Zeit wohl mehr „nominelle Konfessionslose“ als „nominelle Christen“ geben wird, auch zwingend erforderlich ist. (3)

Auch wenn die Kritik an religiösen Denk- und Handlungsmustern (vor allem unter globaler Perspektive – Stichwort „Fundamentalismus“) nicht aufgekündigt werden darf, so müssen doch neue Fragen und Probleme ins Zentrum des freigeistigen Interesses rücken, Fragen beispielsweise zu den Brüchen in der eigenen Geschichte („Wo liegen die möglichen Gefahren des säkularen Denkens?“) (4), Fragen des säkularen sozialen Miteinanders („Nachdem tradierte, oftmals durch religiöse Erzählungen gestützte Gebote und Verbote als historische Erfindungen entzaubert wurden, welche Regeln des Zusammenlebens sollten künftig Gültigkeit beanspruchen dürfen, wie lassen sie sich durchsetzen und gegebenenfalls wieder verändern?“), Fragen zur säkularen Sinnfindung („Wenn es keinen ‚an sich’ vorgegebenen Sinn gibt, wie finden und worin sehen wir den Sinn ‚für uns’?“) (5), Fragen zur Attraktivität säkularer Lebensstile („Inwiefern können säkulare Weltdeutungsmuster bessere Bedingungen für das menschliche Streben nach Glück bieten als die religiöse Konkurrenz?“) usw.

Ebenso notwendig wie die fällige inhaltliche Umorientierung ist es, neue (Organisations-)Formen zu finden, mit deren Hilfe freigeistige Positionen besser in der Gesellschaft verankert werden können. Die sog. „Sichtungskommission“, der Vertreter der verschiedenen freigeistigen Verbände Deutschlands angehören, ist in diesem Zusammenhang zweifellos ein Schritt in die richtige Richtung. Doch selbstverständlich dürfen wir hier nicht stehen bleiben, zumal eine „Sichtungskommission“ (schon allein vom Begriff her!) keinen allzu großen Eindruck macht in einer von „Symbolpolitik“ bestimmten Mediengesellschaft. Was spricht beispielsweise dagegen, einen „Zentralrat der Konfessionslosen in Deutschland“ zu gründen, in dem Verbandsinteressen konsequent zurückgestellt werden, um auf diese Weise mit gebündelter Kraft und Kompetenz darauf hinwirken zu können, dass freigeistige Positionen in der Politik auch die Rolle spielen, die sie verdienen?

Und wenn wir schon bei der Erfindung neuer freigeistiger Institutionen sind: Ähnlich starke politische Impulse wie von einem „Zentralrat der Konfessionslosen in Deutschland“ könnten von einem „Humanistischen Wohlfahrtsverband“ ausgehen. Nach der „Wiedervereinigung“ bestand hier eine große historische Chance, die relativ leichtfertig vergeben wurde. Damals wurde den ostdeutschen, größtenteils säkular sich verstehenden Sozialträgern einfach die westdeutsche Wohlfahrtsverband-Struktur übergestülpt. Verbände wie die „Volkssolidarität“ (damals 2 Millionen Mitglieder, heute immerhin noch über 400.000!) mussten sich notgedrungen dem „Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband“ anschließen, dem eben nicht nur diesseitig-humanistische, sondern auch adventistische und anthroposophische Träger angehören, ganz zu schweigen von solch exotischen Organisationen wie dem „Druidenorden“, den „Guttemplern“ oder den „Freimaurern“. Dass dieser paritätische „Lumpensammler-Verband“ angesichts seiner heterogenen Struktur kaum in der Lage ist, die Interessen der Konfessionslosen wirkungsvoll zu vertreten, ist evident. Konsequenz: Die vielen Millionen Konfessionslosen finden in der einflussreichen Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege kein Gehör, hier haben die starken konfessionellen Träger Diakonie und Caritas leichtes Spiel.

Die Konfessionslosen sollten diese Ungleichverteilung von Macht nicht länger hinnehmen. Es ist an der Zeit, endlich jene politischen Strukturen zu schaffen, die den tatsächlichen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen entsprechen. Gewiss wird dies keine leichte Aufgabe sein (6), doch „vorauseilende Resignation“ ist zweifellos fehl am Platze. Wir brauchen heute ein neues, ein starkes, säkulares Selbstbewusstsein. Die Bedingungen hierfür sind ausgesprochen günstig: In den letzten Jahrhunderten wurden die Fesseln der religiösen Bevormundung (zumindest in unserer Kultur) mehr und mehr gesprengt. Nun liegt es an uns, diese Freiheitspotentiale sinnvoll zu nutzen und die Grundsteine für eine wahrhaft säkulare, offene Gesellschaft zu legen, die diesen Namen auch wirklich verdient.

Für dieses Ziel lohnte es sich gewiss, gemeinsam zu streiten. Insofern sei eine letzte, augenzwinkernde Reminiszenz an Marx und Engels erlaubt: Die Konfessionslosen haben im Kampf um die säkulare Gesellschaft wenig zu verlieren – nicht einmal ihre Ketten, die sie ja bereits in der Vergangenheit größtenteils abgestreift haben. Allerdings: Wir haben noch „eine Welt zu gewinnen“ (und dürfen dabei sogar unterstellen, dass dies auch „für die Welt“ ein Gewinn wäre). Fern allem staubigen Pathos, aber doch mit der notwendigen Konsequenz sollten wir uns daher dem Imperativ stellen, der die unabdingbare Voraussetzung einer wirksamen freigeistigen Realpolitik sein dürfte: Konfessionslose aller Bundesländer, vereinigt euch!


Anmerkungen:

(1) siehe Marx/Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW, Bd.4, S.461
(2) vgl. den Artikel von Wolfgang Proske in diesem Heft; siehe auch: Schmidt-Salomon, Michael: Von der Negation zur Position. In: humanismus aktuell 3/98
(3) Inwieweit dieser Entkonfessionalisierungs-Trend auch einem echten Säkularisierungstrend entspricht, ist relativ unklar: Ebenso wie es gläubige nominelle Konfessionslose gibt, gibt es ungläubige nominelle Christen. Zu beiden Gruppen liegen bislang keine stabilen Untersuchungsergebnisse vor.
(4) vgl. hierzu beispielsweise die heftigen Diskussionen zu meinem Beitrag: „Sind AtheistInnen die besseren Menschen? Anmerkungen zur Kriminalgeschichte des Atheismus“. In: MIZ 4/00ff.
(5) vgl. hierzu u.a. Schmidt-Salomon, Michael: Sinn und Sinnlichkeit. Die frohe Botschaft des Hedonismus. In: MIZ 4/02
(6) siehe den Beitrag von Horst Groschopp in der vorliegenden Ausgabe der MIZ

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