Michael Schmidt-Salomon

Der „brennende Dorn-Bush“
oder: Was Hänschen nicht lernt…

MIZ 1/2003
Heft-Schwerpunkt:
"Lasset die Kinder zu mir kommen" - Religiöse Indoktrination in der Kindheit
(siehe auch: www.miz-online.de/)

„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!“, heißt es. Dies gilt insbesondere auf religiösem Gebiet. Mit Sigmund Freud darf man bezweifeln, dass Kinder überhaupt über Dinge jenseits dieser Welt nachdenken würden, wenn sie mit religiösen Lehren nicht schon zu einem Zeitpunkt geimpft würden, an dem sie die Tragweite dieser Ideen nicht abschätzen, geschweige denn in irgendeiner Weise kritisch hinterfragen können. Die Folgen dieser frühkindlichen Indoktrination sind kaum zu unterschätzen: Wer schon in seiner Kindheit all die Absurditäten der religiösen Lehren geschluckt habe, über dessen spätere „Denkschwäche“ brauche man sich nicht arg wundern, meinte Freud. Franz Buggle, als Entwicklungspsychologe stärker von Piaget als von Freud beeinflusst, sprach im gleichen Zusammenhang von einer partiellen „Denk- und Entwicklungshemmung [...], [die] neben möglicherweise hohen Intelligenzleistungen auf unbetroffenen Gebieten im Bereich des Weltanschaulich-Religiösen offensichtlich immer wieder zu einem Stehenbleiben auf der ‘voroperationalen’ Denkstufe (sensu Piaget) führt, mit ihrer typischen Unsensibilität für Widersprüche, ihrer Zentriertheit auf partielle Aspekte […] und ihrem partiellen Egozentrismus.“

Dass diese Entwicklungsstörung nicht immer gradlinig verlaufen muss, zeigt der Werdegang des amtierenden amerikanischen Präsidenten, der zur Zeit in der Rolle des „brennenden Dorn-Bushs“ (nomen est omen?) der Welt mit allem Nachdruck den „Pfad der Gerechten“ weist. Über viele Jahre hinweg ertränkte der streng religiös erzogene Mann seine Zweifel und Versagensängste im Alkohol und stellte für die Welt (vielleicht abgesehen vom Straßenverkehr) keine allzu große Gefahr dar. Nach einem hemmungslosen Saufgelage aber entdeckte der mittlerweile 40-jährige Bush junior (so will es die offiziell verbreitete Bekehrungslegende) jenes lang verdrängte Idol wieder, das man ihm in seiner Kindheit als den „größten Fürsten der Welt“ verkauft hatte: Jesus Christus. Von da an war Bushs Aufstieg nicht mehr aufzuhalten. Der wiedergeborene Christ avancierte zum mächtigsten Mann der Welt, was die Welt vielleicht noch einigermaßen verkraftet hätte, wäre da nicht der 11. September dazwischen gekommen. Wie Vertraute des Präsidenten berichteten, war Bush von einem auf den anderen Tag wie ausgewechselt. Alle Unsicherheit war verschwunden, der Texaner hatte (dank der Einflüsterung des „Herrn“, den Bush bei jeder wichtigen Entscheidung betend um Rat fragt) seine wahre „Mission“ gefunden: Bush sah und sieht sich als den „großen Feldherrn Gottes“, der „die Willigen“ in der immer währenden Schlacht um Gut und Böse zum Sieg führen wird. Als Bush am 10. Februar dieses Jahres verkündete, „Gott hat uns aufgerufen, unser Land zu verteidigen und die Welt zum Frieden zu führen“, war dies keine bloße Rhetorik, sondern Ausdruck des authentischen, naiven Glaubens eines frühkindlich indoktrinierten, partiell denkgehemmten Überzeugungstäters.

Wird die Welt also in einen Krieg gerissen, weil Mama Bush ihren George junior so hart rangenommen hat und Billy Graham, der enge Freund der Familie, so fantastisch-fanatisch predigen konnte? Nun, so einfach sind die Verhältnisse freilich nicht! Im Irak-Konflikt, der sich möglicherweise noch vor Auslieferung dieser MIZ in einen Irakkrieg ausgeweitet haben wird, geht es vornehmlich um irdischere Dinge – vor allem um geostrategische Interessen und Erdölressourcen. Dabei ist durchaus rational nachvollziehbar, dass sich die amerikanische Führung von einer erfolgreichen Besetzung des Irak strategische Vorteile verspricht. Irrational aber erscheint der unerschütterliche Glaube der Bush-Administration, dass das Unternehmen auf längere Sicht von Erfolg gekrönt sein wird. Denn selbst wenn es gelingen sollte, den kaltblütigen Diktator Saddam Hussein zu stürzen, ohne dass in der Region ein verheerender Flächenbrand entsteht, so bedeutet dies noch lange nicht, dass sich der Irak in absehbarer Zeit zu einer amerikafreundlichen Demokratie entwickeln wird. Viel wahrscheinlicher ist, dass im Irak das Gleiche geschieht, was bereits im Iran nach dem Sturz des Schahregimes oder in Afghanistan nach dem Abzug der Sowjets passierte: Auf die Diktatur Husseins wird eine Diktatur islamischer Gotteskrieger folgen. Dass die amerikanische Führung, verblendet durch die eigenen Heilsvisionen, diese reale Gefahr ignoriert und ungeachtet der massiven Proteste (auch im eigenen Land) am „Kreuzzug für den Frieden“ festhält, kann als deutliches Symptom jener „partiellen Denkhemmung“ gedeutet werden, die in „God’s own Country“ anscheinend Voraussetzung dafür ist, um in der Politik ganz nach oben zu kommen.

Die MIZ wird sich im nächsten Heft intensiver mit den (durchaus widersprüchlichen) Entwicklungen in Amerika auseinandersetzen. Im Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe, die auf den Kongress „Religion und Esoterik in Bildung und Erziehung“ (Trier, 22-25 Mai) vorbereiten soll, beleuchten wir die hierzulande zu beobachtenden Versuche, den kleinen Hänschens und Gretels „wahre Gottesfurcht“ zu lehren. Dabei legt Jürg Frick in seiner Analyse aktueller Kinderbibeln Strukturen offen, die – ein entsprechendes Umfeld vorausgesetzt – potentiell aus jedem kleinen „Schorsch“ einen „brennenden Dorn-Bush“ machen können. Roland Ebert untersucht an Hand der Auerbacher Nonnen, wie in Deutschland mit staatlichen Geldern fundamentalistische Inhalte gelehrt werden können, Rolf Heinrich zeigt an Hand eines Experimentes auf, wie schwer sich die hiesigen Schulen mit der Forderung nach weltanschaulicher Neutralität tun und Christoph Lammers verdeutlicht die Probleme, die aus der geplanten Liberalisierung des Bildungssektors erwachsen können.

Dabei steht fest: Wer den weltoffenen, mündigen Bürger will, der muss zu vermeiden versuchen, dass das religiöse Begehren „Lasset die Kinder zu mir kommen!“ unkontrolliert umgesetzt werden kann. Denn Pluralität bedeutet nicht, dass Hänschen dank der Segnungen des Marktes von Weltanschauung x indoktriniert wird, während Gretel in die Fänge von Weltanschauung y gerät. Eine wahrhaft plurale Gesellschaft muss Bedingungen schaffen, die garantieren, dass jedes Kind die Chance erhält, das gesamte Spektrum religiöser und weltlicher Weltanschauungen kennen zu lernen, da es nur so in der Lage ist, eine begründete Auswahl zu treffen. Hierzu bedarf es klar umrissener Bildungs-Standards, die – auch wenn man prinzipiell eine Liberalisierung des Bildungssektors befürworten mag – nicht leichtfertig auf dem Altar des Marktes geopfert werden dürfen.

Michael Schmidt-Salomon, Februar 2003

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