Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Licht und Schatten des Buddhismus
oder: was Religionskritiker nicht übersehen sollten
MIZ 1/2000

 

 Lange Zeit herrschte in der kritischen Öffentlichkeit die Meinung vor, der Buddhismus sei der Prototyp einer "sanften" Religion. Er galt als weitgehend undogmatisch, antiautoritär, friedliebend, menschenfreundlich. Nicht wenige sahen in ihm eine wohltuende Alternative zu den imperialistischen Weltreligionen Islam und Christentum. Es ist sicherlich das große Verdienst von Buddhismuskritikern wie Colin Goldner, dass sie mit diesen hehren Mythen aufgeräumt haben und die verdrängten, hässlicheren Züge dieser in alternativen Bevölkerungskreisen außerordentlich beliebten Religion zu Tage förderten.

Die scharfe Kritik am Buddhismus ist in der Tat schwerlich von der Hand zu weisen: Die vom historischen Buddha dargelegte Karmalehre (wonach gute und schlechte Taten vermeintlich vorangegangener Inkarnationen das Schicksal im gegenwärtigen Leben bestimmen), die von ihm kolportierte Vorstellung, Leben sei gleichbedeutend mit Leiden, sowie die daraus gezogene Schlussfolgerung, man solle sich durch kontemplatives Nichthandeln dem schrecklichen Kreislauf der Wiedergeburten entziehen, wirkten unbestritten alles andere als emanzipatorisch. (Rechtsgerichtete Esoteriker z.B. haben konsequenterweise auf der Basis dieses Denkens ein neues, schreckliches Legitimationsargument für Auschwitz erfunden: Die gequälten, ermordeten Juden wollten ihrer Meinung nach im KZ nur ihr schlechtes Karma abarbeiten (!)). (1)

Colin Goldner hat sicherlich zu Recht den autoritären Duktus des Zen-Buddhismus kritisiert, oder - wie zuletzt in seinem wichtigen Buch über den Dalai Lama (2) - den menschenverachtenden Irrationalismus des tibetischen Mahayana-Buddhismus bloßgestellt. In gewisser Weise stellen Goldners Arbeiten - hier durchaus vergleichbar mit den kirchenkritischen Werken Deschners - ein notwendiges Gegengift dar zu den verschleiernden Mythen der religiösen Apologeten, die leider immer noch den gesellschaftlichen Diskurs weitgehend bestimmen.

Allerdings sollte man nicht vergessen, dass jedes Gegengift von seiner Dosierung lebt. So verheerend (herrschaftsstabilisierend/unterdrückend) der Buddhismus in seiner Geschichte auch gewirkt hat, die buddhistische Lehre enthält doch einiges, was auch heute noch bedenkenswert ist. Ulrich Schneider hat z.B. in seiner Einführung in den Buddhismus (3) darauf hingewiesen, dass die ursprüngliche Lehre Buddhas philosophischen und nicht religiösen Charakter hatte: "Man vermißt einen echten Glauben ebenso wie eine Bindung an Gott oder Götter oder an irgendeine "höhere Macht", sei sie auch noch so schwer zu definieren; und es fehlt auch ein Kult. [...] Buddha steht in einer philosophischen Tradition; ja er bildet [...] mit seiner Lehre den Abschluss einer bestimmten philosophischen Entwicklung." (4) Gegenüber dem damals vorherrschenden brahmanischen Denk- und Herrschaftsystem stellte Buddha heraus, dass allein der individuelle Lebenswandel - nicht die Geburt in einen bestimmten Stand! - der Maßstab zur Bewertung eines Menschen sein müsse, er proklamierte eine Lehre, die entgegen brahmanischen Standesdünkel alle Menschen prinzipiell ethisch gleichsetzte (freilich ohne hieraus politische Forderungen abzuleiten).

Die ursprüngliche buddhistische Lehre kam ohne jegliche Form religiöser Hierarchie aus. In ihrem Zentrum stand allein das Individuum, das seinen Weg zur Überwindung des Leidens mit Hilfe der buddhistischen Lebenstechniken selbst finden musste. (Dies alles änderte sich erst nach Buddhas Tod, als die buddhistischen Gemeinden neue Organisationsformen wählten und sich durch die Integration fremder religiöser Kulte mehr und mehr von der buddhistischen Ursprungsidee entfernten.)

 

Die humanistische Interpretation des Buddhismus im 20. Jahrhundert

Mitte des 20. Jahrhunderts trat der Buddhismus endgültig seinen Siegeszug in den westlichen Ländern an. Wegbereiter dieser Entwicklung waren nicht nur Reaktionäre und esoterische Wirrköpfe - Goldner verweist u.a. auf Blavatsky und Graf Dürkheim -, sondern auch kritische Intellektuelle, wie z.B. der humanistische Soziologe und Psychoanalytiker Erich Fromm. Fromm, der als Vertreter der frühen kritischen Theorie und internationaler Bestsellerautor ("Furcht vor der Freiheit", "Die Kunst des Liebens", "Haben oder Sein") neben Herbert Marcuse, Wilhelm Reich und Ernst Bloch zu den wichtigsten Ideengebern der internationalen Studentenbewegung gehörte, veröffentlichte Anfang der sechziger Jahre gemeinsam mit dem bekannten Zen-Buddhisten Daisets T. Suzuki ein Buch mit dem Titel "Zen-Buddhismus und Psychoanalyse". (5)

In seinem Beitrag versuchte Fromm aufzuzeigen, dass die Beschäftigung mit dem Zen-Buddhismus auch für säkular denkende Mensch gewinnbringend sein kann. Zentrales Anliegen des Buddhismus sei die Aufhebung von Verdrängung und Entfremdung, eine von Illusionen und Selbstzweifeln befreite Sicht auf das eigene Selbst und seinem Verhältnis zur Welt. Hierin erkannte Fromm eine notwendige Voraussetzung für die Etablierung einer schöpferischen Weltorientierung, die nicht nur dem Individuum dazu verhelfen könne, "die eigene Mitte zu finden". Entscheidender waren für den unorthodoxen Marxisten Fromm allemal die politischen Konsequenzen: Der von Buddha angestrebte "Mittlere Pfad", der auf eine Überwindung von Gier und Sucht abzielt, erschien ihm als notwendiges Gegenprinzipzum kapitalistisch verordneten Konsumzwang. (Vor allem in seinem Spätwerk "Haben oder Sein" stellte Fromm diesen Konsumzwang als zentrale Ursache für die verheerenden sozialen und ökologischen Probleme unserer Zeit heraus.)

Freilich lässt sich über die Buddhismusinterpretation Fromms streiten. (Wie so häufig, fokussiert Fromm auch im Falle des Buddhismus allein die Elemente, die seinem eigenen Denkansatz entsprechen, Widersprüche werden leichtfüßig umgangen.) Allerdings ist kaum zu ignorieren, dass seine durch die Beschäftigung mit Buddha, Marx und Freud gewonnene Unterscheidung von Haben- und Seins-Orientierung (d.h. von entfremdeter und nicht-entfremdeter Lebensperspektive) auch heute noch erhellend wirkt, was u.a. demonstriert, dass der Buddhismus eben nicht nur reaktionäre, sondern auch progressive Denkanstöße vermitteln kann.

 

Philosophie statt Religion

Das zentrale Problem des Buddhismus besteht zweifellos darin, dass er zur Religion entartete. Diese unschöne Tatsache sollte skeptisch denkende Menschen aber nicht daran hindern, den Buddhismus als Philosophie kritisch wertzuschätzen. Nebenbei: Liest man Buddha philosophisch, kann man interessante Parallelen zu anderen bedeutenden Philosophen feststellen, z.B. zu dem in konfessionslosen Kreisen zu Recht hochgeschätzen Epikur. Wie Epikur wollte auch Buddha den Menschen die Angst vor dem Einfluss (vermeintlicher) Götter nehmen und den Machtanspruch religiöser Hierarchien schwächen. Wie Epikur versuchte auch Buddha einen Weg jenseits der Extreme zu etablieren. (Sicherlich wählte Epikur hierbei einen hedonistischeren Zugang, aber auch die epikureische Philosophie zielte nicht auf ein hemmungsloses Ausleben wilder Triebe, wie man später von christlicher Seite den Epikureern gegenüber gerne unterstellte, sondern auf einen bewußten "Weg der Mitte" - und das bedeute für Epikur vor allem die Überwindung von Leidenschaften, die Leiden schaffen.) (6)

Welche Schlüsse können wir nun aus unserer kurzen Beschäftigung mit Buddhismus und Buddhismuskritik ziehen? Meines Erachtens spricht vieles dafür, dass Religionskritiker Abstand davon nehmen sollten, Religionen in ihrer Gänze zu verdammen. Das heißt natürlich nicht, dass Religionen als Religionen nicht weiterhin in aller Schärfe zu kritisieren sind (ihr falscher Wahrheitssanspruch muss demaskiert werden, das säkulare Prinzip "Offenheit" an die Stelle des religiösen Prinzips "Offenbarung" treten usw.). Wir sollten dabei aber nicht übersehen, dass Religionen ungeachtet ihrer oftmals menschenverachtenden Theorie und Praxis zweifellos wichtige kulturelle Schatzkammern der Menschheit sind, in denen vieles zu finden ist, was sicherlich auch heute noch bemerkenswert ist.

Dies gilt selbstverständlich nicht nur für den Buddhismus, sondern auch für das Christentum. Auch in der Bibel finden sich einige Stellen, die über den gegenwärtigen Status quo des Denkens produktiv hinausweisen. (Man denke zum Beispiel an einige - freilich auf keinen Fall sämtliche! (7) - Passagen aus der sogenannten Bergpredigt (z.B. das Gebot der Feindesliebe, Mt 5,44) oder an die eindrucksvolle Geschichte vom Manna (Exodus 16,13-31), das man sammeln und verzehren, aber nicht horten konnte. (Mancher Politiker möge sich hieran vielleicht ein Beispiel nehmen...))

Fazit: Es sollte Religionskritikern um eine dialektische Aufhebung - nicht um den Versuch einer plumpen Zerstörung - der Religion gehen, d.h. um eine Weiterführung ihrer humanen Aspekte, die bei der notwendigen Kritik ihrer inhumanen Neben- oder sagen wir besser: Hauptwirkungen nicht übersehen werden sollten. Anders formuliert: Wir brauchen nicht nur eine weltweite religiöse Abrüstung (diese ist für den Weltfrieden mindestens ebenso bedeutsam wie die militärische!), sondern auch eine weltweite religiöse Um-rüstung, eine religiöse Konversionpolitik, die darauf abzielt, das potentiell Lebensdienliche, das in jeder religiösen Tradition zu finden ist, vom Lebensfeindlichen zu trennen und in eine säkulare, auf das Menschliche beschränkte Umgebung zu verpflanzen.

Entreißen wir den Pfaffen, Mönchen und Schriftgelehrten also die halben Wahrheiten, mit deren Hilfe sie in der Vergangenheit ganze Erfolge feierten. Erst wenn dies gelungen ist, hat Religionskritik ihre Aufgabe erfüllt.

 

Anmerkungen:

(1) vgl. MIZ 1/97, S. 15 und Goldner, Colin (1994): Das Geschäft mit der Verblödung. In: Psychologie heute 7/1994

(2) Goldner, Colin (1999): Dalai Lama. Fall eines Gottkönigs. Aschaffenburg.

(3) Schneider, Ulrich (1997): Der Buddhismus. Eine Einführung. Darmstadt.

(4) Schneider 1997, S. 57

(5) Fromm, Erich/Suzuki, Daisetz/de Martinio, Richard (1971): Zen-Buddhismus und Psychoanalyse. Frankfurt/M.

(6) vgl. Epikur (1988): Philosophie der Freude. Briefe, Hauptlehrsätze, Spuchsammlung, Fragmente. Frankfurt/M.

(7) vgl. Schmidt-Salomon, Michael (1999): Erkenntnis aus Engagement. Grundlegungen zu einer Theorie der Neomoderne. Aschaffenburg, S. 226f.

 

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