Dass „gute ChristInnen” nicht unbedingt auch „gute Menschen” sind, ist
kein Geheimnis. Gerade diejenigen, die sich besonders stark
um eine buchstabengetreue Umsetzung der biblischen Botschaft
bemühen, sind selten in der Lage, tolerant und liebevoll auf
ihre (oft andersgläubigen) Mitmenschen zuzugehen. Auch die
rigorosen Verfechter des Korans und der Thora fallen nicht
unbedingt durch ihre grenzenlose Nächstenliebe auf. Selbst
der ewig lächelnde Dalai Lama hat – glaubt man den
Darlegungen der in der letzten Zeit sich mehrenden
Buddhismuskritiker – so manche Leiche im Keller.
Im
Wettstreit um den ultimativen „Gutmenschen-Status” scheinen
die Atheisten dank der Disqualifizierung ihrer religiösen
Kontrahenten also auf den ersten Blick gute Karten zu
besitzen. Doch sind Atheisten wirklich die „besseren
Menschen”, wie so mancher Konfessionslose glaubt? Oder
handelt es sich hierbei nur um eine selbstwertdienliche
Wahrnehmungsverzerrung? Wäre eine Menschheit, die sich von
den jenseitigen Verheißungen der Weltreligionen losgesagt
hat, wirklich eine geläuterte, eine bessere Menschheit?
Werfen wir, um diese Frage beantworten zu können, einen
Blick auf die in konfessionslosen Kreisen gern übersehenen
[i] dunklen Seiten der
Religionskritik.
Die
Kriminalgeschichte des Atheismus
Es
gibt sicherlich nicht wenige AtheistInnen, die die
„moralische Überlegenheit” ihres Denkansatzes mit einem
schlichten Verweis auf Deschners „Kriminalgeschichte des
Christentums” begründen. Doch: So richtig es auch ist, die
frohe Botschaft des Christentums an ihren wenig erfreulichen
Früchten zu messen, ein solcher Schuss kann durchaus nach
hinten losgehen: Viele AtheistInnen übersehen nämlich gerne,
dass zahlreiche „Staatsatheisten” in der Vergangenheit kaum
ein besseres Bild abgaben als z.B. der Initiator des ersten
Kreuzzugs, Papst Urban II.
Joseph Stalin beispielsweise, der sich bekanntlich im
Theologischen Seminar von Tiflis zum überzeugten Atheisten
mauserte[ii],
ging als einer der größten Schreibtisch-Massenmörder in die
Geschichte ein. In der Zeit des „Großen Terrors” (1936-38)
ließ er breit angelegte „Säuberungsaktionen” durchführen,
die u.a. auch das Ziel hatten, die „letzten Reste der
Geistlichkeit zu liquidieren”[iii].
Hierzu heißt es in einem der besseren Aufsätze des insgesamt
durchaus problematischen Sammelbandes „Schwarzbuch des
Kommunismus”[iv]:
„Tausende von Priestern und nahezu alle Bischöfe fanden sich
in den Lagern wieder, und dieses Mal wurde ein großer Teil
von ihnen hingerichtet. Von den 20.000 Kirchen und Moscheen,
die 1936 noch für religiöse Zwecke genutzt worden waren,
standen 1941 nicht einmal mehr 1000 für den Gottesdienst
offen. Die Zahl der amtlich registrierten Geistlichen wurde
Anfang 1941 mit 5665 angegeben [...] 1936 waren es noch mehr
als 24.000 Geistliche gewesen.”[v]
Zugegeben: Stalin als Beleg für die Inhumanität des
Atheismus anzuführen, ist reichlich perfide und
dementsprechend würden sich viele Verteidiger des Atheismus
(mit Recht) gegen das Beispiel wehren. Stalin, würden sie
sagen, war alles andere als ein Musterbeispiel des
Atheismus. Gab es nicht Legionen von Atheisten, die keine
Morde begangen haben, Abertausende, die selbst den
Säuberungsaktionen Stalins zum Opfer fielen?
Eine
solche Argumentation klingt plausibel, hat aber einen Haken:
Christen könnten zur Verteidigung ihres Glaubens nahezu das
Gleiche sagen, schließlich verhielten sich nur (relativ!)
wenige unter ihnen wie Papst Urban II.. Außerdem waren es ja
häufig auch Christen, die den Säuberungsaktionen der Kirche
zum Opfer fielen. Ein gescheiter Christ könnte an diesem
Punkte sogar in die Offensive gehen, könnte Deschners
berühmtes Wort von den „guten Christen”[vi]
umdrehen und behaupten, dass die sogenannten „guten
Atheisten”, die gefährlichsten seien, weil man sie allzu
leicht mit dem Atheismus verwechsle. Sein wahres Gesicht
zeige der Atheismus erst, wenn er an die Macht kommt. Und
triumphierend könnte er auf eine durchaus aussagekräftige
Statistik verweisen, derzufolge die relative Anzahl
mordender christlicher Staatsoberhäupter gering sei -
verglichen mit der relativen Anzahl mordender atheistischer
Staatschefs (Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot etc.).
Ein
gescheiter Atheist könnte hier freilich einwenden, dass es
ein bedauerlicher, tragischer Zufall gewesen sei, dass der
Atheismus in Gestalt des Staatssozialismus[vii]
an die Macht gekommen sei, dass die Menschen nicht unter dem
Atheismus zu leiden hatten, sondern unter der Ideologie bzw.
den Repräsentanten des Staatssozialismus, die den Atheismus
nur für ihre Zwecke ausbeuteten. Außerdem könnte er darauf
verweisen, dass die meist bürgerkriegsähnlichen Umstände der
kommunistischen Machtergreifungen die Zahl der Opfer beinahe
zwangsläufig in die Höhe treiben mussten.
Aber
auch diese Argumente könnte ein cleverer Christ leicht für
seine Zwecke ummünzen. So könnte er erklären, dass im Fall
der Religion doch wohl Ähnliches gelte, dass die Menschen in
der Vergangenheit weniger unter der Religion selbst zu
leiden hatten als unter denen, die die Religion für ihre
Interessen einspannten. Zudem könnte er behaupten, dass es
ein unglücklicher Zufall war, dass sich das Christentum
unter den Umständen einer Sklavenhaltergesellschaft
durchsetzen musste und dass auch die Bedingungen des
Feudalismus es lange Zeit nicht ermöglicht hätten, eine
humanere Version des Christentums zu praktizieren. Kurzum:
Die Verbrechen des Christentums seien nicht auf die
Religion selbst zurückzuführen, sondern auf die widrigen
historischen Rahmenbedingungen, die religiöse Führer
immer wieder dazu zwangen, Verhaltensweisen an den Tag zu
legen, die heute (unter veränderten gesellschaftlichen
Umständen) zweifellos als inhuman eingestuft werden müssten.
Was
könnte unser gequälter Atheist nun gegen diese - wie es
scheint - gut durchdachte Argumentation einwenden? Sollte
er, das böse Vermächtnis Stalins auf der Schulter tragend,
zähneknirschend einem Patt zustimmen und eingestehen, dass
Atheisten doch nicht die „besseren Menschen” sind? Und –
falls er wirklich zu dieser Einsicht kommen sollte: welche
Konsequenzen wären daraus zu ziehen? Müsste er fortan die
Religionskritik an den Nagel hängen und die Frage der
Weltanschauung zur bloßen Geschmacksache erklären? Müsste er
sich dem sogenannten „postmodernen Zeitgeist” unterwerfen,
der uns ohnehin weismachen will, dass die Entscheidung für
oder gegen Religion etwa gleichbedeutend ist mit der Frage,
ob man Schokoladen- oder Vanillepudding vorzieht?
Nun,
wir sollten das Kind nicht mit dem Bade ausschütten. So
richtig und wichtig es auch ist, zu erkennen, dass die
Geschichte des Atheismus keineswegs so ruhmreich ist, wie
viele Atheisten glauben, - dieses Eingeständnis bedeutet
keineswegs, dass wir künftig auf Religionskritik verzichten
könnten. Im Gegenteil. Die Tatsache, dass die
Kriminalgeschichte des Atheismus zwar kürzer, aber doch
ähnlich bluttriefend ist wie die Kriminalgeschichte des
Christentums, beweist umso mehr, wie wichtig
religionskritische Ansätze auch heute noch sind. Warum? Ganz
einfach: Weil wir es in beiden Fällen mit religiösen
Phänomenen zu tun haben.
Das zentrale
Problem ist die Religion - nicht der Theismus
„Theismus und Atheismus sind die beiden Enden einer
Wurst.” Ich gebe zu: Früher habe ich mich über diesen
Ausspruch ziemlich geärgert. Er schien mir ohne jegliche
Begründung, zwei höchst unterschiedliche Phänomene in einen
Topf zu werfen. Außerdem hielt ich ihn für eine schlecht
getarnte Ausrede für Menschen, die sich den zentralen,
existentiellen, aber mühsam zu bewältigenden Fragen des
Lebens einfach nicht stellen wollten.
Im
Laufe der letzten Jahre traf ich aber im freigeistigen
Spektrum eine beachtliche Anzahl von Menschen, auf die der
Satz dummerweise doch erschreckend zutraf: Atheisten, die so
religiös fanatisiert über Atheismus sprachen, dass sie auf
mich den Eindruck missionierender Wanderprediger machten,
freigeistige Märtyrer, die das Misslingen ihres eigenen
Lebens ausschließlich auf das Wirken klerikaler Seilschaften
zurückführten, Menschen, die alle Katastrophen der letzten
2000 Jahre der katholischen Kirche anlasteten und deren
Kirchenhass das Einzige zu sein schien, was ihrem Leben noch
Halt zu geben vermochte.
Ich
hatte den Eindruck, dass diese Menschen, die in der Regel
der christlichen Religion entflohen waren, zwar ihren
Gottesglauben verloren, das entscheidende Problem aber nicht
gelöst hatten: Sie waren religiös geblieben, überzeugt von
der unumstößlichen Wahrheit ihrer Glaubenssätze. So fest sie
zuvor glaubten, Gott existiere, so waren sie nun davon
überzeugt, dass er (sie oder es) nie existiert habe. Ihre
Propheten der Wahrheit hießen nun nicht mehr Markus,
Matthäus, Lukas und Johannes, sondern Nietzsche, Marx und
Feuerbach. Widerrede war verpönt wie eh und je, die Schwarz
auf Weiß gedruckte Wahrheit durfte nicht in Frage gestellt
werden.
Die
Konfrontation mit dieser Art religiöser Atheisten rief mir
immer wieder zu Bewusstsein, was mir eigentlich schon seit
Beginn meines Ausstiegs aus der Religion klar war, nämlich
dass das entscheidende Problem nicht der Theismus ist,
sondern die Religion. Schon in dem ersten
religionskritischen Aufsatz, den ich jemals veröffentlichte[viii],
war dies die Grundthese. Ich plädierte dafür, den
traditionellen Begriff der Religion zu erweitern: er
müsste sowohl die theistischen als auch die
atheistischen Heilsgeschichten umfassen.
Religionen
brauchen keine Götter
Dass
Religionen nicht unbedingt Gottesbilder aufweisen müssen,
dürfte jedem klar sein, der sich schon einmal mit den
Ursprüngen des Buddhismus beschäftigt hat. Buddhas
ursprüngliche Konzeption kam ohne Götter aus und für
traditionelle Buddhisten besteht insofern auch kein
Gegensatz zwischen Atheismus und Religion. Wie problematisch
die automatische Kopplung von Theismus und Religion bzw.
Atheismus und Religionsfreiheit ist, zeigen aber auch andere
Beispiele. So ist es mitunter problematisch, gewisse
pantheistische Vorstellungen eindeutig zu klassifizieren.
Wenn man wie Spinoza den personalen Gottesbegriff aufgibt,
Gott als „Summe allen Seins” begreift, ist das nun Theismus
oder Atheismus, Religion oder Philosophie? Zweites Beispiel:
Wenn man wie viele New Age-Apostel den Begriff „Gott” durch
den Begriff „Schicksal” ersetzt, handelt es sich dann um ein
religiöses oder ein philosophisches Aussagensystem? Drittes
Beispiel: Wie ordnen wir die sogenannten „Stammesreligionen”
ein, die häufig auf die Vorstellung eines Gottes bzw.
mehrerer Götter verzichten, aber ihren Ahnen magische Kräfte
zusprechen? Sind das keine „Religionen”, nur weil sie auf
die Rede von „Gott” verzichten?
Ich
denke, es wäre überaus problematisch, den Religionsbegriff
weiterhin an der Existenz klar umrissener Gottesbilder
festzumachen. Denn erstens würden wir damit (s.o.)
zahlreiche traditionelle Formen der Religion ausklammern.
Zweitens würden wir verkennen, dass religiöse Grundmuster
auch in scheinbar säkularen Zusammenhängen von zentraler
Bedeutung sein können. Damit meine ich weniger die Verehrung
gewisser „Fußballgötter” oder „Popidole” (obwohl auch dies
ein spannender Gegenstand religionssoziologischer
Betrachtungen sein kann) als das erst in letzter Zeit wieder
entdeckte Phänomen der „politischen Religion”.
Nationalsozialismus und Kommunismus als politische
Religionen
Lange
Zeit war es verpönt, über den Nationalsozialismus als
politische Religion zu sprechen.[ix]
Dabei kann gerade die religionssoziologische Betrachtung des
Nationalsozialismus viele Phänomene erhellen, für die
Historiker ohne religionssoziologisches Inventar bislang
keine einleuchtenden Erklärungen finden konnten.[x]
Wie z.B. war es möglich, dass so große Teile der Bevölkerung
mit Enthusiasmus ihr Leben für den „Führer”, die Inkarnation
des „germanischen Volksgeists”, aufs Spiel setzten? Welche
Bedeutung hatten die von Speer inszenierten rituellen
Massenkundgebungen und das immer wieder in den Vordergrund
gerückte Symbol des Hakenkreuzes? Religionssoziologische
Analysen können aufzeigen, dass die Nazi-Strategen immer
wieder Elemente religiöser Kulte in ihre Propaganda
aufnahmen und damit ungeheuren Erfolg hatten. Selbst die
unfassbare Singularität des Grauens, Auschwitz, kann unter
religionssoziologischer Perspektive besser verstanden
werden. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang nicht nur der
traditionelle christliche Antijudaismus, der sich im
Nationalsozialismus auf verheerende Weise entlud[xi],
sondern vor allem auch der rituelle Charakter der
nationalsozialistischen Judenvernichtung selbst. So klingt
bei Joseph Goebbels unübersehbar ein archaischer (wie
christlicher) Opferglaube durch, wenn er formuliert: „Opfer!
Im Opfer liegt die Reinigung von Schuld! Geht den harten
Gang um der Zukunft willen... Das Opfer ist alles.”[xii].
Der Sozialwissenschaftler Michael Ley hat hierin wohl zu
Recht eine der wesentlichen Antriebsfedern der
nationalsozialistischen Politreligion gesehen. Er schreibt:
„Das Menschenopfer, das die Nationalsozialisten darbrachten,
die ‘Tötung des ewig wandernden Juden’, war die politische
Theologie des Nationalsozialismus. Adolf Hitler sah sich als
Werkzeug Gottes, der mit dem Holocaust die Heilung
Deutschlands und der ganzen Welt bringen wollte. Die
nationalsozialistische Apokalypse ist das größte
Menschenopfer, das die Weltgeschichte kennt [...] Der
Holocaust ist die Exekution des Mythos vom Antichrist in der
Moderne.”[xiii]
Die
Nazistrategen selbst waren sich der religiösen Komponente
ihrer Ideologie durchaus bewusst. Nur ein Beispiel unter
vielen: In einem internen Strategiepapier
(„Sitzungsprotokoll vom 14. August 1943”) wurde
vorgeschlagen, alle religiösen Bekenntnisse nach dem
„Endsieg” abzuschaffen und gleichzeitig Adolf Hitler als
„neuen Messias” zu proklamieren, dem als „Erlöser/Befreier”
und „Gott-Gesandter” göttliche Ehren zukommen müssten. Die
Propaganda müsse zu diesem Zweck nicht nur die Geburt,
sondern auch das künftige Ableben des Führers in völlige
Dunkelheit verhüllen, als „Rückkehr in die Gralsburg.”
Dieses Papier, das u.a. vorsah, die traditionellen
religiösen Kultstätten (Kirchen etc.) in „Adolf Hitler
Weihestätten” umzubenennen, stieß bei Hitler auf Lob und
Anerkennung. Er unterzeichnete das Schreiben mit: „Der erste
brauchbare Entwurf! Zur Bearbeitung an Dr. Goebbels. Adolf
Hitler.”[xiv]
Was
Hitler recht war, war Stalin nur billig, auch wenn es ihm
als zum Atheismus verdammten kommunistischen Staatschef
natürlich nicht vergönnt war, sich der Öffentlichkeit als
Gesandten Gottes zu präsentieren. Dem Personenkult um Stalin
tat dies indes keinen Abbruch. Stalin stilisierte sich als
übermenschlichen Propheten der bolschewistischen
Säkularreligion, als vom Histomat bestimmten Führer der
auserwählten Volksgruppe „Arbeiterklasse”, als unfehlbaren
Papst des kommunistischen Parteipriestertums. Wie u.a.
Hans Maier aufzeigte, übernahmen die russischen Kommunisten
schon sehr früh zahlreiche Elemente der heftigst bekämpften
theistischen Religionen. Zu denken ist hier u.a. an den
kommunistischen Reliquienkult (Einbalsamierung Lenins), die
Überführung der Ikonenecke in die sogenannte „Friedensecke”,
die Umgestaltung der Kirchen in weihevolle
„Gedächtnisstätten des Atheismus” usw..
[xv]
Wie
stark die Wirkung der kommunistischen Politreligion und
insbesondere die quasireligiöse Verehrung Stalins war, tritt
deutlich in den vielen literarischen Lobpreisungen Stalins
hervor, die mitunter stark an liturgische Weihegesänge
erinnern. So verfasste Johannes R. Becher (der prominente
Verfasser des Textes der DDR-Nationalhymne) zum Tode Stalins
folgende religiös-kitschige „Danksagung”: [...] „Nun lebt er
schon und wandert fort in allen / Und seinen Namen trägt der
Frühlingswind / Und in dem Bergsturz ist sein Widerhallen /
Und Stalins Namen buchstabiert das Kind. [...] Und kein
Gebirge setzt ihm eine Schranke / Kein Feind ist stark
genug, zu widerstehn / Dem Mann, der Stalin heißt, denn sein
Gedanke / Wird Tat, und Stalins Wille wird geschehn.”[xvi]
- Wie im Himmel, so auf Erden, möchte man fast ergänzen.
Ähnlich weihevolle Klänge schlug damals auch KuBa, wie
Becher ein prominenter literarischer Messdiener der DDR, an:
„Gesiegt! / Und alles, alles, alles ist vollbracht. / Er
ruht! / Die Millionen sind die Seinen. / Sein Lächeln
leuchtet uns auch diese Nacht. / Er hat die armen Leute
reich gemacht. / Wir aber weinen. / Wir wissen freilich, /
dass wir unbesiegbar sind. / Wir trinken seine Lehren wie
den reinen / kristall´nen Wein Grusiniens. / [...] Gesiegt!
/ Der Schwur an Lenins Bahre ward erfüllt / Vollbracht! / Er
gab uns noch ein Buch voll guter Lehren. / Die Fahnen neigen
sich, in Flor gehüllt. / Wir schwör`n, Genosse Stalin! /
Unser Schwur wird treu erfüllt! / In Ehren!”[xvii]
Es
ist sicherlich kein Zufall, dass Stalins Lebensbilanz hier
mit biblischen Worten umschrieben wird. „Es ist vollbracht”
sagt der christliche Erlöser Jesus am Kreuz, „alles, alles,
alles ist vollbracht” jubelt KuBa über das Lebenswerk des
bolschewistischen Erlösers Stalin. Ihm, dem unbeugsamen
„Hammer und Sichel-Messias” von Lenins Gnaden, gilt die
bedingungslose Nachfolge, seine Lehren gilt es zu trinken
wie Wein - eine kaum verdeckte Anspielung auf den Ritus des
christlichen Abendmahls.
Entsprechend groß war natürlich der Schock, als die KPdSU
nach dem Tode des Diktators mit der Entstalinisierung begann
und die ganzen Ausmaße des stalinistischen Terrors bekannt
wurden. Damals fielen viele Kommunisten vom Glauben ab, die
Politreligion des Kommunismus zeigte erste Risse, gewann
aber für kurze Zeit weltweit wieder an Attraktivität, als
Mao den aposotolischen Auftrag zur Kulturrevolution gab und
mit seiner „roten Bibel” das Evangelium des Weltkommunismus
um eine neue (Un-)Heilsgeschichte erweiterte.
Was lernen wir
aus der Kriminalgeschichte des Atheismus?
Wenn
wir die Kriminalgeschichte des Atheismus Revue passieren
lassen, wird deutlich, dass die anfangs gestellte naive
Frage, ob Atheisten die besseren Menschen sind, in dieser
Generalisierung sicherlich nicht positiv zu beantworten ist.
Wohl gemerkt: Dies bedeutet nicht, dass nicht doch einige
gute Argumente für den Atheismus sprechen. Hier sind vor
allem die Widersprüche zu nennen, in die sich die Vertreter
personaler Gottesbilder beinahe zwangsläufig verstricken
müssen (Beispiel: Theodizeeproblem). Außerdem kann der
Atheismus als Denkmethode für sich in Anspruch nehmen, dass
er die wichtige Maxime der wissenschaftlichen Eleganz
ernstnimmt, d.h. dass er im Unterschied zum Theismus nicht
von vornherein gezwungen ist, überflüssige, komplizierte und
unbekannte Größen (Gott) in seine Theorie der Welt
einzubauen.
Aber
– um dies noch einmal zu wiederholen: Die
erkenntnistheoretischen Vorteile des Atheismus sind nicht
notwendigerweise mit einem Zuwachs an Humanität
verbunden. Das entscheidende Problem ist nicht die Frage, ob
Götter oder Göttinnen existieren. Das entscheidende Problem
ist die weitgehend anerzogene Unfähigkeit vieler Menschen,
sich der eigenen Vernunft zu bedienen, ihr fehlender Mut,
vermeintlich unantastbare Behauptungen in Frage zu stellen.
Mit
der Frage des Gottesglaubens hat dies vergleichsweise wenig
zu tun. Viele Anhänger der Weltreligionen haben durchaus
ihren Beitrag zur Aufklärung und damit auch zur Befreiung
von religiösen Dogmen geleistet. Dass sie dabei vielfach auf
halbem Wege stehen geblieben sind, ist bedauerlich, aber
beileibe keine besondere Eigenschaft theistisch denkender
Menschen. (Atheisten, die sich in der Sowjetunion trauten,
die offizielle Doktrin in Frage zu stellen, ging es in der
Regel auch nicht anders.)
Halten wir fest: Religionen brauchen - das demonstriert das
Beispiel des Stalinismus wohl am besten - keine im Jenseits
beheimatete Götterwelt. Insofern ist es auch problematisch,
den Atheismus als Allheilmittel gegen religiösen Dogmatismus
zu verordnen. Solange Menschen glauben, es gäbe „heilige”,
d.h. für alle Zeiten unantastbare Aussagen, solange
unterstellt wird, dass gewisse geistige oder gar politische
Führer einen privilegierten Zugang zu diesen ewigen
Wahrheiten haben (das Grundwesen jeder Religion!), wird sich
die Menschheit kaum in Richtung einer größeren Humanität,
Offenheit und Toleranz verändern können.
Es
gilt daher, eine skeptische Geisteshaltung zu fördern, die
unbrauchbare Ideen sterben lässt, bevor Menschen für
unbrauchbare Ideen sterben müssen. Gegen diesen
kategorischen Imperativ jeder aufklärerischen
Religionskritik haben religiös denkende Menschen aller
Zeiten verstoßen - und zwar losgelöst davon, ob sie an die
Existenz eines Gottes glaubten oder nicht. Es ist an der
Zeit, nicht nur aus der Kriminalgeschichte des Christentums,
sondern auch aus der Kriminalgeschichte des Atheismus die
richtigen Schlüsse zu ziehen.
Anmerkungen
[i]
Das Buch von Finngeir Hiorth
Atheismus -
genau betrachtet ist in dieser Hinsicht
symptomatisch: Die „Kriminalgeschichte des
Atheismus” fällt bei dieser insgesamt durchaus
beachtlichen Einführung völlig unter den Tisch.
[ii]
vgl. Robert Payne:
Stalin. Macht
und Tyrannei. 1978, S. 31ff.
[iii]
Nicolas Werth:
Gewalt, Unterdrückung und Terror in der Sowjetunion.
In: Courtois et al,
Das
Schwarzbuch des Kommunismus. 1998, S. 223
[iv]
Zur Kritik des Schwarzbuchs siehe Jens Mecklenburg /
Wolfgang Wippermann,
„Roter Holocaust”? Kritik des Schwarzbuchs des Kommunismus. 1998
[vi]
„Die guten Christen sind am gefährlichsten - man
verwechselt sie mit dem Christentum:” In: Karlheinz
Deschner: Nur
Lebendiges schwimmt gegen den Strom. 1989, S.
83.
[vii]
Unser gescheiter Atheist spricht hier von
„Staatssozialismus” statt von
„Marxismus-Leninismus”, weil letzterer Begriff einen
Widerspruch in sich darstellt. Marxismus und
Leninismus unterscheiden sich in einigen Punkten
gewaltig, man kann sogar von einer Aufhebung des
Marxismus durch den Leninismus sprechen (vgl.
Michael Schmidt-Salomon:
Proletarier
aller Länder, verzeiht mir? Plädoyer für einen zu
unrecht angeklagten Philosophen. In:
Aufklärung und
Kritik, 2/99).
[viii]
Michael Schmidt-Salomon:
Offenheit
statt Offenbarung. In:
MIZ/Materialien und Informationen zur Zeit 4/94.
[ix]
Der Begriff der politischen Religion wurde bereits
im Jahr 1938 durch Eric Voegelin geprägt und von ihm
anhand der damals brandaktuellen Beispiele
Nationalsozialismus und Kommunismus erläutert. Sein
Ansatz wurde von der Geschichtswissenschaft in der
Folgezeit allerdings weitgehend ignoriert, nicht
zuletzt wohl auch deshalb, weil für viele Experten
der Begriff der Religion eher positiv besetzt war.
Erst Mitte der Neunziger Jahre hat eine verstärkte
Beschäftigung mit dem Phänomen der politischen
Religion eingesetzt. Zu nennen sind hier vor allem
die Bücher von Hans Maier (u.a.
Politische
Religionen. Die totalitären Regime und das
Christentum. 1995)
und Michael Ley (Genozid und Heilserwartung. 1993),
sowie Ley/Schoeps (Der
Nationalsozialismus als Politische Religion.
1997). Einen kurzen Überblick über den Forschungsstand bietet Armin
Pfahl-Traughber (Sind
Kommunismus und Nationalsozialismus politische
Religionen? In:
humanismus aktuell 3/98).
[x]
Dies darf freilich nicht auf eine Verabsolutierung
des Ansatzes herauslaufen. Wie schon Pfahl-Traughber
schrieb, lassen sich „mit den Untersuchungen von
religiösen Dimensionen bei politischen Bewegungen
und Ideologien [...] nur begrenzt Aussagen über das
Gesamtphänomen treffen.” (Pfahl-Traughber, S. 66)
[xi]
vgl. Gerhard Czermak:
Christen gegen
Juden. Geschichte einer Verfolgung. 1997
[xii]
Goebbels zitiert nach Michael Ley:
Apokalyptische
Bewegungen in der Moderne. In: Ley/Schoeps,
Der
Nationalsozialismus als politische Religion,
S.26
[xiv]
vgl. hierzu die vorzügliche Videodokumentation
„Herrn Hitlers Religion” von Petrus van der Let.
[xvi]
Johannes R. Becher:
Danksagung,
in: Sinn und Form 2/1953, S.9
[xvii]
KuBa: 5. März
1953, 21,50 Uhr, in:
Sinn und Form
2/1953, S. 13